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5. Eingriffe in das Eigentumsgrundrecht
Der EuGH entnimmt die Unterscheidung möglicher Eingriffe in das Eigentumsrecht dem Verweis auf Art. 1, 1. ZP EMRK und stützt sich insoweit auf die dort
von den Konventionsorganen getroffene Differenzierung von Eigentumsentziehung und Nutzungsbeschränkung.239 Die Maßnahme erlangt ihre Qualifikation
»je nachdem, ob die Beeinträchtigung darauf gerichtet ist, dem Eigentümer sein
Recht zu entziehen oder ob sie bezweckt, dessen Ausübung zu beschränken«240.
Es drängt sich insoweit die Folgerung auf, dass alle Eigentumseingriffe im Gemeinschaftsrecht entweder als Eigentumsentzug oder Benutzungsregelung zu
qualifizieren sind.
Darüber hinaus kann ein Eigentumseingriff unbestritten unmittelbar durch eine
konkret-individuell wirkende Einzelfallregelung vorliegen, sofern das angestrebte Ziel der Eingriff ist.241 Grundsätzlich aber ist ein Eingriff auch durch eine
abstrakt-generelle Norm möglich.242 Der EuGH tendiert in diesen Fällen jedoch
dazu, einen Eingriff abzulehnen, wenn die beanstandete Maßnahme den Kläger
nicht in irgendeiner Weise hervorhebt, sondern ihn wie alle anderen belastet.243 Es
spiegelt sich hier die Grundlage für den gedanklichen Ansatzpunkt des besonderen Schadens wieder, der im deutschen Recht als Teilaspekt unter den Sonderopfer-Begriff fällt244 und auch schon in die Gemeinschaftsrechtsprechung zur außervertraglichen Haftung Eingang gefunden hat.245 In der Folge problematisch
könnte sein, inwiefern nur mittelbar belastende Maßnahmen und daraus folgend
nur mittelbare Schäden als Eingriff zu qualifizieren sind.246 Ein Eingriff ist mittelbar, wenn eigentlich ein anderes Ziel verfolgt wird und der Grundrechtseingriff
nur nebenbei erfolgt.247 Die Bewertungslage der europäischen Rechtsprechung
erscheint hierzu indifferent. In der Rs. Biovilac wurden Veränderungen der äußeren Wettbewerbsbedingungen durch Interventionskäufe von Magermilchpulver
zu Billigpreisen zum Nachteil anderer Marktteilnehmer nicht als Eingriff quali-
239 EKMR, Bericht v. 11.7.1988, Rs. Mellacher et autres, Rn. 188; Colinet, in: GS Sasse, Bd.
II, S. 739, 743; zustimmend auch: Feger, Die Grundrechte im Recht der Europäischen
Gemeinschaften, S. 157.
240 EuGH, Urteil v. 13.12.1979, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, 3746, Rn. 19.
241 Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta,
S. 72.
242 Calliess, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 389, Rn. 18.
243 Umkehrschluss aus: EuGH, Urteil v. 13.12.1994, Rs. C-306/93, Winzersekt, Slg. 1994, S. I-
5555, 5582, Rn. 23.
244 Zur deutschen Sonderopfertheorie, siehe: Maurer, AllgVerwR, § 27, Rn. 16 ff.
245 EuG, Urteil v. 28.4.1998, Rs. T-184/95, Dorsch Consult, EuR 1998, S. 542, 558, Rn. 82;
EuG, Urteil v. 14.12.2005, Rs. T-69/00, FIAMM u.a., EuR 2006, S. 675 ff.
246 Vgl. zum mittelbaren Eingriff in die Berufsfreiheit: EuG, Urteil v. 29.1.1998, Rs. T-113/
96, Dubois et Fils, Slg. 1998, S. II-125, 150, Rn. 75; EuGH, Beschluss v. 8.7.1999, Rs. C-
95/98 P, Dubois et Fils, Slg. 1999, S. I-4835, 4844 ff., Rn. 8, 23.
247 Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta,
S. 72.
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fiziert.248 Die Kommissionsmaßnahmen tasteten nicht den Wesensgehalt des Eigentumsrechts an, gleichwohl sie sich nachteilig auf den Absatz der Erzeugnisse
auswirken können. Dies habe umso mehr zu gelten, wenn die nachteiligen Auswirkungen lediglich mittelbare Folgen einer von variablen Wirtschaftsfaktoren
gesteuerten Marktentwicklungspolitik seien.249 In der Bosphorus-Entscheidung
hat der Gerichtshof dagegen negative Auswirkungen einer jeden Sanktionsmaßnahme auf betroffene Wirtschaftsteilnehmer als Eingriff angesehen,250 was für
eine Öffnung des Eingriffsbegriffs sprechen könnte. Regulativ wirkt die Bedeutung des mit der im Allgemeinwohl stehenden Maßnahme verfolgten Ziels.251 Sofern die mittelbaren Wirkungen der staatlichen Maßnahme zu einer unmittelbaren
Nutzungs-, Verfügungs-, oder Verwertungsbeschränkung führen, ließe sich daraus ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff entnehmen.252
a) Eigentumsentziehung
Bislang hatte der Gerichtshof noch keine Gelegenheit gehabt, einen Eigentumseingriff als Eigentumsentzug zu qualifizieren. Deshalb gibt es lediglich die in
der Rs. Hauer angeführte Negativabgrenzung, die eine Enteignung im Falle einer
Nutzungsbeschränkung ausschließt.253 Eine Enteignung liege demnach nicht vor,
wenn es dem Eigentümer unbenommen bliebe, über sein Gut zu verfügen und es
jeder anderen, nicht untersagten Nutzung zuzuführen. Der Gerichtshof verbindet
offenbar formale Elemente mit der Zielgerichtetheit aus der Eingriffsbestimmung, womit eine Parallele zu der Eingriffsabgrenzung aufgebaut wird, die durch
die Menschenrechtskommission oder den EGMR vorgenommen wird. Entscheidend für die Abgrenzung ist somit auch im Gemeinschaftsrecht, ob das Eigentum
an der Sache oder dem Recht dauerhaft übertragen oder zumindest die vollständige Nutzungsmöglichkeit unterbunden wird. Erst dann ist die Schwelle überschritten, die nach Ansicht des EuGH zur Antastung des Wesensgehalts des Eigentumsrechts führt.254 Generalanwalt Capotorti führte seinerzeit in den Schlussanträgen zur Rs. Hauer aus, dass die Entziehung der Benutzung nur dann einer
Enteignung gleichgestellt werden könne, wenn diese von endgültiger Natur sei.255
248 EuGH, Urteil v. 6.12.1984, Rs. 59/83, Biovilac, Slg. 1984, S. 4057, 4079, Rn. 22; EuGH,
Urteil v. 14.1.1987, Rs. 281/84, Zuckerfabrik Bedburg, Slg. 1987, S. 49, 91 ff., Rn. 25 ff.
Andere Ansicht: Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 74.
249 EuGH, Urteil v. 6.12.1984, Rs. 59/83, Biovilac, Slg. 1984, S. 4057, 4079, Rn. 21 f.; ablehnend: Günter, Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, S. 47, Rn. 183.
250 EuGH, Urteil v. 30.7.1996, Rs. C-84/95, Bosphorus, Slg. 1996, S. I-3953, 3986, Rn. 22.
251 EuGH, Urteil v. 30.7.1996, Rs. C-84/95, Bosphorus, Slg. 1996, S. I-3953, 3986, Rn. 22.
252 Calliess, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 389, Rn. 18; v. Milczewski,
Der grundrechtliche Schutz des Eigentums im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 78.
253 EuGH, Urteil v. 13.12.1979, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, 3746, Rn. 19.
254 EuGH, Urteil v. 6.12.1984, Rs. 59/83, Biovilac, Slg. 1984, S. 4057, 4079, Rn. 22.
255 GA Capotorti, Schlussanträge v. 8.11.1979, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3752, 3761.
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Da letztlich auch die faktische Wirkung des Eigentumseingriffs entscheidungserheblich ist, werden auch die bereits vom Schutzbereich des Eigentumsrechts der
EMRK berücksichtigten de facto Enteignungen von der gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgarantie umfasst. GA Capotorti führt in den Schlussanträgen weiter aus, dass zur Qualifizierung einer eigentumsbeschränkenden Maßnahme als
Enteignung ebenfalls der Umfang des dem Beteiligten auferlegten wirtschaftlichen Opfers richtungsweisend sei. Ein Eingriff habe enteignende Wirkung, wenn
dem Eigentumsobjekt kein nennenswerter wirtschaftlicher Wert mehr verbliebe.256 Der Generalanwalt stellt auf die Schwere des Eingriffs ab und führt mit
diesen materiellen Überlegungen Gedanken einer Sonderbelastung in das Gemeinschaftsrecht ein.
Der EuGH greift diese materiellen Abgrenzungskriterien nicht auf, sondern verbleibt bei seiner formalen Bestimmung der zielgerichteten Antastung des Wesensgehalts der geschützten Eigentumsposition.257 Zusammenfassend lässt sich
feststellen, dass der Begriff der Eigentumsentziehung unter formalen Gesichtspunkten verwandt ist mit demjenigen, der sich im Rahmen des Art. 1, 1. ZP
EMRK entwickelt hat. Materielle Aspekte des Eigentumsentzugs werden nur von
den Generalanwälten berücksichtigt.
b) Benutzungsregelung
Wie schon der Begriff der Eigentumsentziehung, so lehnt sich auch derjenige der
Benutzungsbeschränkung an die für das Eigentumsrecht der EMRK getroffene
Definition an. So ist eine Nutzungsregelung dann anzunehmen, wenn nur eine bestimmte Ausübung einer eigentumswerten Rechtsposition beschränkt oder verboten wird. Darüber hinaus muss es dem Eigentümer jedoch unbenommen bleiben,
weiterhin über sein Eigentum zu verfügen und es anderen, nicht untersagten Nutzungen zuzufügen.258
6. Rechtfertigung von Eigentumseingriffen
a) Gesetzliche Grundlage
Wie bereits bei Art. 1, 1. ZP EMRK ausgeführt wurde, bedarf auch der Eigentumseingriff im Gemeinschaftsrecht einer gesetzlichen Grundlage. Dieses Erfordernis ergibt sich aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, die der EuGH
256 GA Capotorti, Schlussanträge v. 8.11.1979, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3752, 3762.
257 Vgl.: EuGH, Urteil v. 10.6.2003, verb. Rs. C-20/00 u. C-64/00, Booker Aquaculture, Slg.
I-2003, S. 7446, 7477, Rn. 79.
258 EuGH, Urteil v. 13.12.1979, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, 3746, Rn. 19.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Studie begründet, weshalb die Haftung der Europäischen Gemeinschaft für rechtmäßige Rechtsetzungsakte keinen Verstoß gegen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellt. Im Gegenteil: Diese Haftung für Sonderopfer ist gemeinschaftsrechtskonform und liefert zugleich einen Beitrag zur grundrechtlichen Anerkennung der Entschädigungspflicht für eigentumsentziehende oder -entwertende Maßnahmen. Mittels einer detaillierten rechtsvergleichenden Untersuchung zur Entschädigungspflicht bei Eigentumsentzugsmaßnahmen und zur gemeinschaftsrechtlichen Grundlage der europäischen Sonderopferhaftung stellt die Bearbeitung einen alternativen Ansatzpunkt für die Sonderopferhaftung bereit und liefert einen neuen Diskussionspunkt zu einer aktuellen Rechtsprechung.