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Prinzipiell erfolgt der Entschädigung in der Zielsetzung eines gerechten Interessenausgleichs, der es zum Teil rechtfertigen kann, dass Globalenteignungen mit
unterhalb des objektiven Wertes liegenden Summen entschädigt werden können,
wohingegen gerade bei Individualenteignungen die Vermeidung übermäßiger
Einzellasten im Sinne eines gegenüber der Gemeinschaft erbrachten »Sonderopfers« durch entsprechende Entschädigungszahlungen zu berücksichtigen sind.
Denn der gerechte Ausgleich zwischen Individual- und Allgemeininteressen ist
nicht gegeben, wenn dem Einzelnen eine besondere und außergewöhnliche Last
auferlegt wird, die über das hinausgeht, was dem Einzelnen an Opfern gewöhnlicherweise zugemutet werden kann. Der Gedanke der Lastengleichheit kommt
dadurch zum Ausdruck. Dasselbe gilt für andere unzumutbare Eingriffe in das Eigentumsrecht, die nicht zu einer Enteignung führen.
III. Das Eigentumsrecht im Gemeinschaftsrecht
Die Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und über die Europäische Union enthalten weder einen geschriebenen Grundrechtskatalog noch
eine spezifische Eigentumsklausel.
1. Artikel 295 EG als eigentumsrelevante Regelung des Gemeinschaftsrechts
Auf der Suche nach geeigneten Vorschriften im Gemeinschaftsrecht, insbesondere im EG Vertrag, kommt zunächst die Vorschrift des Art. 295 EG (ex-Art. 222
EG) in Betracht. Diese könnte als Quelle zur Ableitung eines gemeinschaftlichen
Eigentumsrechts herangezogen werden. Nach Art. 295 EG lässt der EG Vertrag
»die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt«. Aus
dieser allgemeinen und schrankenlosen Formulierung könnte insofern ein allgemeines Eigentumsgrundrecht der Gemeinschaft abgeleitet werden. Lange Zeit
war es unklar, welche Auslegung dem Begriff der »Eigentumsordnung« zukommen soll. Verfolgt die Vorschrift das Ziel, die innerstaatlichen Eigentumsrechte
zu garantieren und die Gemeinschaftsorgane daran zu binden, so erübrigte sich
ein spezifisch gemeinschaftsrechtlicher Eigentumsschutz, da über Art. 295 die
nationale Eigentumsgarantie in der Gemeinschaft zum Tragen kommt und Wirkung entfaltet. Diese Ansicht würde dazu führen, dass Art. 295 EG nationales Eigentum vor Eingriffen durch die Europäische Gemeinschaft schützt, mit der Konsequenz, dass die Gemeinschaftsorgane an die mitgliedstaatlichen Eigentumsrechte gebunden wären.199 Insoweit dürfte erst gar kein eigenes Eigentumsrecht
auf Gemeinschaftsebene entwickelt werden.200
199 Rupp, NJW 1976, S. 993, 994; Bleckmann, EuGRZ 1981, S. 257, 266; vgl. auch: v. Bar,
RIW/AWD 1977, S. 94 f.
200 Thiel, JuS 1991, S. 274.
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In mehreren Untersuchungen zur Auslegung des Begriffs der Eigentumsordnung201 wurde (an sich unstreitig) herausgestellt, dass unter grammatikalischen
Gesichtspunkten der Begriff der Eigentumsordnung alle mitgliedstaatlichen, verfassungsrechtlichen Vorschriften über das Privateigentum erfasst.202 Unter dem
historischen Aspekt ist zu berücksichtigen, dass zur Zeit der Römischen Verträge
Europa im Wiederaufbau befindlich war und sich die großen Wirtschaftszweige
der Montan- und Energiewirtschaft teils staatlich gebunden, teils eigenständig,
marktwirtschaftlich orientiert, entwickelten. Es sollte mit dem seinerzeitigen Art.
222 EG eine Vorschrift geschaffen werden, die die Eigentumsordnung an solchen
Produktionsmitteln oder Unternehmen, welche Berührungspunkte zum EWG-
Vertrag aufwiesen, dem Gemeinschaftsrecht entzieht.203 Unter diesem Gesichtspunkt spricht vieles dafür, dass Art. 295 EG allein den Bestand der einzelnen betroffenen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen sichern will. Diese Annahme
wird auch von einem systematischen Argument gestützt. Artikel 295 EG befindet
sich im Abschnitt über »Allgemeine und Schlussbestimmungen«. Im Verhältnis
zu anderen Vorschriften, die die Stellung des Eigentümers und seines Eigentums
in Mitgliedstaaten direkt berühren, genannt sei hier beispielhaft Art. 30 EG (ex-
Art. 36 EG), findet sich Art. 295 EG in einem eingriffstechnisch neutralen Bereich des Vertrages.204
Fest steht damit, dass die Vorschrift des Art. 295 EG der Schaffung einer gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgarantie nicht entgegensteht.205 Genauso wenig
kann die Norm zur Begründung einer Grundrechtsposition für den Marktbürger
herangezogen werden.206 Eigentumsrecht und Eigentumsordnung gilt es von einander zu trennen.207 Vielmehr ist der EG-Vertrag, und damit auch Art. 295 EG, als
eigentumspolitisch neutral anzusehen.208
201 Siehe dazu sehr ausführlich: Thiel, JuS 1991, S. 274 ff.; Riegel, RIW/AWD 1979, S. 744
ff, zum Teil dazu abweichend: Burghardt, Eigentumsordnungen in den Mitgliedsstaaten,
S. 15 ff.
202 Brandt, Eigentumsschutz in europäischen Völkerrechtsvereinbarungen, S. 159; Riegel,
RIW/AWD 1979, S. 744, 745; so auch im Ergebnis: Everling, in: FS Raiser, S. 379, 383,
384
203 Brandt, Eigentumsschutz in europäischen Völkerrechtsvereinbarungen, S. 159 f.; Riegel,
RIW/AWD 1979, S. 744, 746; Everling, in: FS Raiser, S. 379, 383; Thiel, JuS 1991, S. 274,
276; ebenso Bleckmann, EuGRZ 1981, S. 257, 266.
204 So auch: Riegel, RIW/AWD 1979, S. 744, 746.
205 Müller-Michaels, Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der EU, S. 35.
206 Calliess, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 381, Rn. 1; Rengeling,
Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, § 4, S. 42; Riegel, Das Eigentum
im europäischem Recht, S. 73.
207 Calliess, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 381, Rn. 1
208 Everling, in: FS Raiser, S. 379, 382; Riegel, RIW/AWD 1979, S. 744, 747; offen gelassen
von: Leisner, in: FS Carl Heymanns Verlag, S. 395, 398.
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Als Fazit ist festzuhalten, dass Art. 295 EG keine Rechtsgrundlage für ein
gemeinschaftliches Eigentumsrecht darstellt, diesem aber auch nicht entgegensteht.
2. Das Eigentumsgrundrecht in der Rechtsprechung des EuGH
Das Fehlen von schriftlich normierten Grundrechten in den Gründungsverträgen
hat den EuGH veranlasst, sich mit der Grundrechtsfrage über einen langen Zeitraum näher zu beschäftigen. In seiner Rechtsprechungspraxis hat der Gerichtshof
heute eine Reihe von Grundrechten anerkannt und ausgeformt.209 Schriftliche
Niederlegung haben diese letztlich in der Europäischen Grundrechte Charta gefunden, auf die noch im Weiteren eingegangen wird. Anfänglich stand der Gerichtshof dem Schutz der Grundrechte allerdings pessimistisch gegenüber. Erst in
der Rs. Stauder stellte der Gerichtshof – wenn auch in einem obiter dictum210 –
fest, dass zu den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsordnung, deren
Wahrung er zu achten habe, auch die Grundrechte der Person gehören.211 Dieser
Grundsatz erfuhr eine weitergehende Konkretisierung in der Rs. Internationale
Handelsgesellschaft dahingehend, dass sich die im Gemeinschaftsrecht anzuerkennenden Grundrechte »in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen« müssen.212 In der folgenden Entscheidung Nold legte der Gerichtshof einen
weiteren Stein des Fundaments europäischen Grundrechtsschutzes fest. Das Eigentum gehöre zu den in den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten geschützten Grundrechten.213 Der EGMR verlieh seiner grundsätzlichen Bereitschaft Ausdruck, das Eigentumsrecht zu schützen, auch wenn eine Verletzung im
vorliegenden Fall nicht angenommen wurde.214 Der Gerichtshof sah nicht nur die
gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten als grundlegend für den
europäischen Grundrechtsschutz an, sondern erweiterte die Basis auf die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die
Vertragsparteien beteiligt waren oder denen sie im Weiteren beigetreten sind.215
Speziell wichtig für die Anerkennung des Grundrechts auf Eigentum ist die Entscheidung in der Rs. Hauer.
209 Siehe dazu die äußerst skeptischen Anmerkungen von: Leisner, in: FS Carl Heymanns Verlag, S. 395 ff.
210 EuGH, Urteil v. 12.11.1969, Stauder, Slg. 1969, S. 419, Rn. 2; vgl. auch: Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 46.
211 EuGH, Urteil v. 12.11.1969, Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, S. 419 ff., Rn. 2, 7.
212 EuGH, Urteil v. 17.12.1970, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970,
S. 1125, 1135, Rn. 3.
213 EuGH, Urteil v. 14.5.1974, Rs. 4/73, Nold, Slg. 1974, S. 491, 507, Rn. 13-14.
214 Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 181.
215 EuGH, Urteil v. 14.5.1974, Rs. 4/73, Nold, Slg. 1974, S. 491, 507, Rn. 13; Vgl. zur generellen Bedeutung der Urteile in den Rs. Stauder, Internationale Handelsgesellschaft und
Nold für den gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz: Pernice, Grundrechtsgehalte im
Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 45 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Studie begründet, weshalb die Haftung der Europäischen Gemeinschaft für rechtmäßige Rechtsetzungsakte keinen Verstoß gegen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellt. Im Gegenteil: Diese Haftung für Sonderopfer ist gemeinschaftsrechtskonform und liefert zugleich einen Beitrag zur grundrechtlichen Anerkennung der Entschädigungspflicht für eigentumsentziehende oder -entwertende Maßnahmen. Mittels einer detaillierten rechtsvergleichenden Untersuchung zur Entschädigungspflicht bei Eigentumsentzugsmaßnahmen und zur gemeinschaftsrechtlichen Grundlage der europäischen Sonderopferhaftung stellt die Bearbeitung einen alternativen Ansatzpunkt für die Sonderopferhaftung bereit und liefert einen neuen Diskussionspunkt zu einer aktuellen Rechtsprechung.