39
Im Ergebnis bestätigte er die Tendenz der Kommission zur weitergehenden Einbeziehung öffentlich-rechtlicher Ansprüche in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie. In der Entscheidung Poirrez66 scheint der EGMR von dem Erfordernis
eigener Leistungen abgerückt zu sein, indem er den Eigentumsschutz auch auf die
Gewährung von Transferleistungen erstreckt, ohne dass zur Begründung eigene
Leistungen zu erbringen gewesen wären.67
i) Das Erbrecht
Der Normtext von Art. 1, 1. ZP EMRK erwähnt das Erbrecht nicht. Insofern besteht Unklarheit bezüglich der Zugehörigkeit zum Eigentumsrecht. Beispielsweise wird das Erbrecht in der deutschen Verfassung ausdrücklich in Art. 14 Abs.
1 S. 1 GG garantiert. Dennoch sieht der EGMR das Erbrecht als von der Eigentumsgarantie erfasst an.68 Geschützt ist jedoch nur die Position des Erblassers,
über sein Vermögen zu verfügen, nicht diejenige Position potentieller Erben.
Denn wie bereits bei den Erwerbschancen festgestellt, schützt Art 1, 1. ZP EMRK
das Eigentum in seinem Bestand, nicht aber das Recht auf Eigentumserwerb.69
4. Eingriffe in das Eigentumsrecht
Artikel 1, 1. ZP EMRK kommt immer dann zum Einsatz, wenn ein Eingriff in das
Eigentumsrecht vorliegt. Nach der Kommission erfolgt ein solcher Eingriff immer unmittelbar aus einem Akt der öffentlichen Gewalt.70 Es ist dabei gleichgültig, ob es sich um einen Akt der Exekutiven, Legislativen oder der Judikativen
handelt. Ausgenommen sind davon Eingriffe Privater, auch wenn diese nicht mit
den nationalen Rechtsordnungen übereinstimmen.71
Die Lektüre des Art. 1, 1. ZP EMRK führt zu der Annahme, dass der Normtext
zwei Eingriffskategorien unterscheidet. Zum einen die Entziehung der eigentumsrechtlichen Position gem. Art. 1 Abs. 1 S. 2, 1. ZP EMRK, zum anderen eine
Regelung über deren Benutzung gem. Art. 1 Abs. 2, 1. ZP EMRK. Beiden Eingriffsformen sind unterschiedliche Rechtfertigungskriterien auferlegt,72 auf die
66 EGMR, Urteil v. 30.9.2003, Rs. Poirrez, R.D. 2003-X, Rn. 37 ff.
67 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 361, Rn. 5.
68 EGMR, Urteil v. 13.06. 1979, Rs. Marckx, EuGRZ 1979, S. 454, 460, Rn. 63; kritisch: Peukert, EuGRZ 1981, S. 97, 103.
69 Siehe oben: Erster Teil, II, 3 g); EGMR, Urteil v. 13.06. 1979, Rs. Marckx, EuGRZ 1979,
S. 454, 458, Rn. 50; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 362,
Rn. 6.
70 Vgl.: EKMR, Entscheidung v. 12.5.1980, Rs. X ./. BRD, D.R. 20, S. 163, 164 f.
71 Brandt, Eigentumsschutz in europäischen Völkerrechtsvereinbarungen, S. 119 f.
72 Brandt, Eigentumsschutz in europäischen Völkerrechtsvereinbarungen, S. 120.
40
noch einzugehen sein wird. Unstimmigkeiten bestehen hinsichtlich einer dritten
Kategorie sog. »sonstiger Engriffe«, welche nach früherer Rechtsprechung des
EGMR unter Art. 1 Abs. 1 S. 1, 1. ZP EMRK zu subsumieren waren.73 Diese Eingriffsform sollte immer dann zur Geltung kommen, wenn sich der Eingriff nicht
unter die niedergeschriebenen Formen der Entziehung und Nutzungsregelung fassen lasse.
a) Entzug des Eigentums gem. Art. 1 Abs. 1 S. 2, 1. ZP EMRK
Ein Charakteristikum der Entziehung des Eigentums ist, dass Eigentum (grundsätzlich) direkt an die öffentliche Hand übertragen wird und zwar unabhängig davon, ob dies in Form eines Gesetzes, eines Verwaltungsaktes oder eines privatrechtlichen Vertrages erfolgt.74 Es werden drei Formen des Eigentumsentzuges
unterschieden: erstens die Individualenteignung, zweitens die Nationalisierung
und drittens die Konfiskation. Die Unterscheidung findet ihren Grund in der Notwendigkeit der Gewährung von Entschädigungen,75 auf die noch später einzugehen sein wird. Bezüglich Konfiskationen ist es umstritten, ob sie überhaupt unter
den Enteignungsbegriff fallen und damit auch den Rechtmäßigkeitsanforderungen einer Enteignung unterliegen. Zuerst wird anhand der Straßburger Rechtsprechung analysiert, unter welchen Voraussetzungen der Verlust des formellen Eigentumstitels als Enteignung i.S.d. Art. 1 Abs. 1 S. 2 EMRK angesehen und in
welchen Fällen eine Enteignung trotz formellen Entzugs der Eigentumsposition
abgelehnt wird.
aa) Die Individualenteignung
aaa) Die Individualenteignung im formellen Sinne
EGMR und EKMR sind sich in dem Punkt einig, dass eine Enteignung grundsätzlich einer endgültigen Entziehung der Eigentümerposition bedarf.76 Die Kommission hat diesen Grundsatz in der Rs. Mellacher et autres weiter durch eine Negativabgrenzung definiert: Es liegt eine Enteignung dann nicht vor, wenn der Eigentümer das Eigentumsrecht an der Sache behält und ihm somit auch weiterhin das
Recht zusteht, die Sache zu veräußern, zu vererben, zu verschenken, zu belasten
73 EGMR, Urteil v. 23.9.1982, Rs. Sporrong und Lönnroth, EuGRZ 1983, S. 523, 525.
74 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 363, Rn. 9; a. A.: Peukert, in:
Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, S. 264, Rn. 24.
75 Peukert, EuGRZ 1981, S. 100, 104.
76 Zuletzt bestätigt durch Urteil des EGMR vom 30.6.2005, Rs. Bosphorus, NJW 2006,
S. 197, 200, wo der Gerichtshof eine temporäre Eigentumsbeschlagnahme unzweifelhaft
als Benutzungsregelung im Sinne des Abs. 2 beurteilte.
41
oder sie im Rahmen der Gesetze zu benutzen.77 Nicht unbedingt erforderlich ist
dabei, dass die das Eigentum übertragende Maßnahme unmittelbar durch die öffentliche Hand erfolgt.78 Unter Enteignung wird auch die indirekte Enteignung
gefasst, welche dann vorliegt, wenn die Übertragung des Eigentums zwar unmittelbar vom Rechtsinhaber selbst ausging, ihren Grund aber in einem Akt der öffentlichen Gewalt hat. So hatte der Gerichtshof in der Rs. Harkansson et Sturesson entschieden.79 In der Sache musste ein Eigentümer ein bei einer Versteigerung
erworbenes Grundstück weiterveräußern, da ihm die erforderliche Erwerbsgenehmigung nicht erteilt wurde.
bbb) Die Individualenteignung im materiellen Sinne
Die Prüfung einer hoheitlichen Maßnahme am Maßstab der Eigentumsgewährleistung ist nicht ausschließlich im Falle formellen Eigentumstransfers zulässig.
Die Zusicherung effektiven Eigentumsschutzes macht es erforderlich, auch faktische Eigentumsentziehungen mit einzubeziehen.80 Dabei handelt sich um Maßnahmen, die zwar keine förmliche Entziehung des Eigentums zum Gegenstand
haben, doch ihrem Charakter nach einer Enteignung so nahe kommen, dass sie
durchaus wirtschaftlich als eine solche zu bewerten sind,81 da sie den Wesensgehalt der Eigentumsgarantie berühren.82 Dabei ist auch erforderlich, dass die Eigentumsposition nicht nur an Gehalt verloren hat, sondern ganz untergegangen
ist, wobei insbesondere die Unwiderruflichkeit und Irreversibilität des Eingriffs
hervorzuheben ist.83 Die Eigentumsposition wird auf Null reduziert, ohne dass sie
auf die öffentliche Hand übertragen wird.84 Man spricht im Zusammenhang mit
dem Eigentumsschutz von sog. de facto Enteignungen.85 Die Anerkennung der de
facto Enteignungen im Rahmen des Art. 1, 1. ZP EMRK ist unerlässlich, wollte
man nicht die Eigentumsgarantie für die Fälle, in denen nur eine einer Enteignung
gleich kommende Maßnahme vorliegt, zu einer inhaltsleeren Hülse verkommen
lassen. Aus der deutschen und französischen Rechtsordnung sind daher die Haftungsinstitute des »enteignenden« und »enteignungsgleichen Eingriffs« bzw. der
77 EKMR, Bericht v. 11.7.1988, Rs. Mellacher et autres, Rn. 188; siehe auch: EGMR, Urteil
v. 23.9.1982, Rs. Sporrong und Lönnroth, EuGRZ 1983, S. 523, 525, Rn. 62.
78 Brandt, Eigentumsschutz in europäischen Völkerrechtsvereinbarungen, S. 122.
79 EGMR, Urteil v. 21.2.1990, Rs. Harkansson et Sturesson, EuGRZ 1992, S. 5, 8, Rn. 43.
80 Wegener, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 114, Rn. 21.
81 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 363, Rn. 11; Frowein, in: FS
Kutscher, S. 189, 194.
82 Peukert, EuGRZ 1981, S. 100, 105.
83 Gromitsaris, Rechtsgrund und Haftungsauslösung im Staatshaftungsrecht, S. 70 f.
84 Brandt, Eigentumsschutz in europäischen Völkerrechtsvereinbarungen, S. 122.
85 Vgl. u.a.: Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 363, Rn. 11; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, S. 263, Rn. 23; Müller-Michaels, Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der EU, S. 74; Frowein, in: FS Rowedder, S. 49, 53; Hartwig, RabelsZ 1999, S. 561, 568.
42
»rupture de l’égalité devant les charges publiques« anerkannt, um eben diese Lücke zu schließen.86 Auf diese Rechtsinstitute wird im Zusammenhang mit der
Haftung der Gemeinschaft noch detaillierter zurückzukommen sein. Der EGMR
teilt die Meinung der Literatur und hat die Rechtsfigur der de facto Enteignung
ausdrücklich anerkannt und bereits mehrfach bestätigt.87 Erstmalig beschäftigte
sich der EGMR mit der de facto Enteignung im Jahre 1982 in der Rs. Sporrong
und Lönnroth.88 In dem dieser Entscheidung zu Grunde liegenden Sachverhalt
waren im Zuge von Stadterneuerungsplänen für Stockholm Genehmigungen zur
Enteignung von Hausgrundstücken erteilt worden. Den betroffenen Grundstücken wurden zudem Bebauungsverbote auferlegt. Da die Grundstücke letztendlich doch nicht benötigt wurden, widerrief man nach Jahrzehnten die Enteignungsgenehmigungen und Bauverbote wieder.89 Der Gerichtshof lehnte nach der
oben gegebenen Definition einer Enteignung eine solche mangels formellen Entzugs des Eigentumstitels ab.90 Stattdessen sah sich der Gerichtshof in der Pflicht,
»hinter den äußeren Anschein zu sehen und die Wirklichkeit der streitigen Lage
zu analysieren. Da die Konvention darauf abzielt, ‚konkrete und effektive‘ Rechte
zu schützen, (…) ist es von Bedeutung, zu untersuchen, ob die genannte Lage
nicht einer tatsächlichen Enteignung gleichkam, wie die Betroffenen es behaupten«91. Der Gerichtshof merkte dazu an, dass der Fortbestand des Rechts, sein
Grundstück zu verkaufen, nicht zum Untergang der Eigentumsposition führte,
auch wenn sicherlich der Gehalt gemindert wurde.92 Damit hat der EGMR die de
facto Enteignung vom Grundsatz her anerkannt.93 Im Jahre 1993 hat der Gerichtshof dann zum ersten Mal in der Rs. Papamichalopoulos festgestellt, dass eine de
facto Enteignung vorlag.94 Er hielt daran fest, dass beim Verlust sämtlicher wirtschaftlich sinnvoller Nutzungsmöglichkeiten, auf deren Fortbestand der Beschwerdeführer vertrauen durfte, eine de facto Enteignung im vorliegenden Fall
zu bejahen sei.95
ccc) Bewertung
Mit dem effektiven Schutz des Eigentums, wie ihn Art. 1, 1. ZP EMRK vorsieht,
ist es nur vereinbar, dass Eingriffe in einzelne Eigentümerstellungen, die ihrer Intensität nach de facto einer Enteignung gleichkommen, als Enteignung angesehen
86 Frowein, in: FS Kutscher, S. 189, 194.
87 Zu Unrecht verneinend: Brandt, Eigentumsschutz in europäischen Völkerrechtsvereinbarungen, S. 123.
88 EGMR, Urteil v. 23.9.1982, Rs. Sporrong und Lönnroth, EuGRZ 1983, S. 523 ff.
89 EGMR, Urteil v. 23.9.1982, Rs. Sporrong und Lönnroth, EuGRZ 1983, S. 523 f.
90 EGMR, Urteil v. 23.9.1982, Rs. Sporrong und Lönnroth, EuGRZ 1983, S. 523, 525, Rn. 62.
91 EGMR, Urteil v. 23.9.1982, Rs. Sporrong und Lönnroth, EuGRZ 1983, S. 523, 525, Rn. 63.
92 EGMR, Urteil v. 23.9.1982, Rs. Sporrong und Lönnroth, EuGRZ 1983, S. 523, 525, Rn. 63.
93 EGMR, Urteil v. 23.9.1982, Rs. Sporrong und Lönnroth, EuGRZ 1983, S. 523, 527, Rn. 73.
94 EGMR, Urteil v. 24.6.1993, Rs. Papamichalopoulos, 1993, ÖJZ 1994, S. 177.
95 EGMR, Urteil v. 24.6.1993, Rs. Papamichalopoulos, 1993, ÖJZ 1994, S. 177, 178.
43
werden und mithin auch den Rechtfertigungsvoraussetzungen der Enteignung unterfallen.96 Der Wortlaut des Art. 1, 1. ZP EMRK lässt zudem diese weite Auslegung des Eigentumsbegriffs zu, da der Begriff »Entzug« über die klassische formelle Entziehung der gesamten Eigentumsposition hinaus auch offen für Beschränkungen ist, die sich de facto wie ein Entzug auswirken.97 Schlösse man dagegen die de facto Enteignung vom Bereich der Enteignungen aus, liefe man Gefahr, dass nationale, wie auch internationale Hoheitsgewalten durch Rechtsakte
zwar den Entzug des Eigentums vermeiden, aber in derart strenger Form in die
geschützte Rechtsposition eingreifen, dass sie einer Enteignung gleichkommen,
ohne dabei Gefahr zu laufen, gegen internationalen Eigentumsschutz zu versto-
ßen. Dies liefe dem Ziel des effektiven Grundrechtsschutzes entschieden entgegen. Daher ist die de facto Enteignung ebenfalls unter die Individualenteignung
zu fassen.
bb) Nationalisierung
Man spricht von sog. Nationalisierung, wenn ganze Industrie- und Wirtschaftszweige verstaatlicht werden und das Eigentum auf die öffentliche
Hand übergeht. Ein solcher Sachverhalt lag der Rs. Lithgow98 zugrunde. Im Gegensatz zur Individualenteignung stellt sie eine generelle, strukturändernde Maßnahme dar.99 Obgleich bei den Beratungen zum 1. ZP der EMRK anfänglich Bedenken dagegen bestanden, den Straßburger Organen durch einen sehr weit reichenden Eigentumsbegriff die Möglichkeit der Kontrolle nationaler Verstaatlichungsmaßnahmen zu eröffnen, haben diese Bedenken in der endgültigen Fassung der Norm keinen Widerhall gefunden, sodass sich der Entzug des Eigentums
auch auf die Nationalisierungsmaßnahmen bezieht.100
cc) Konfiskation
Letztlich stellt sich noch die Frage, ob auch sog. Konfiskationen als entschädigungsloser Entzug des Eigentums i.S.d. Art. 1, 1. ZP EMRK angesehen werden
können. Unter einer Konfiskation versteht man die Entziehung einer Eigentumsposition als Sanktion eines Rechtsverstoßes gegen Straf- oder Verwaltungsgesetze.101 In der Rs. Handyside ging es um die Beschlagnahme und Vernichtung ob-
96 Frowein, in: FS Kutscher, S. 189, 195.
97 Vgl. auch: Dolzer, Eigentum, Enteignung und Entschädigung im geltenden Völkerrecht,
S. 202.
98 EGMR, Urteil v. 8.7.1986, Rs. Lithgow u.a., 1986, EuGRZ 1988, S. 350 ff.
99 Brandt, Eigentumsschutz in europäischen Völkerrechtsvereinbarungen, S. 123; Peukert,
EuGRZ 1981, S. 100, 104.
100 Peukert, EuGRZ 1981, S. 100, 104.
101 Gelinsky, Der Schutz des Eigentums, S. 47.
44
szöner Schulbücher. Der EGMR hielt trotz Entzugs der Eigentumsposition nicht
die Enteignungsklausel gem. Art. 1 Abs. 1 S. 2, sondern die Nutzungsklausel
gem. Abs. 2 für einschlägig.102 Die Auffassung bestätigte der Gerichtshof später
in der Entscheidung AGOSI.103 Die Begründung für den Ausschluss der Enteignungsnorm liegt in der Funktion der Eigentumsentziehung bei Konfiskationen als
wesentliches Element zur Nutzungskontrolle des Eigentums.104
b) Nutzungsbeschränkungen
Unter dem Begriff der Nutzungsregelung versteht man hoheitliche Maßnahmen,
die zwar in irgendeiner Form in die Eigentümerposition eingreifen, dieser jedoch
eine verbleibende Substanz lassen, wenngleich in verminderter Form.105 Das Eigentum bleibt also bestehen.
Charakteristisch für die Anwendung des Art. 1 Abs. 2 ist die Intention des Gesetzgebers, den Gebrauch des Eigentums zu kontrollieren. Es kommt also zum einen auf den Zweck an. Zum anderen wird gerade im Hinblick auf die Abgrenzung
der Nutzungsbeschränkung zur de facto Enteignung der Aspekt der Schwere oder
Eingriffsintensität bedeutsam.106 Unbedeutend für die Bestimmung einer Eigentumsbeschränkung ist deshalb, ob die Maßnahme gezielt auf den Entzug des Eigentums gerichtet war oder auch nur eine lediglich unbeabsichtigte Nebenfolge
staatlichen Handelns darstellt.107
Typische Beispiele für Nutzungsbeschränkungen sind: Bauverbote, planungsrechtliche Beschränkungen, hoheitliche Genehmigungen für die Ausübung einer
wirtschaftlichen Tätigkeit, wohn- und mietrechtliche Beschränkungen oder gar
die Anordnung der Zwangsverwaltung im Insolvenzverfahren.108
c) »Sonstige« Eingriffe
Diese Eingriffsform soll sich nach Ansicht der Konventionsorgane aus dem ersten
Satz des Art. 1, 1. ZP EMRK ergeben. Danach hat jede natürliche oder juristische
Person ein Recht auf Achtung ihres Eigentums. Zwar gewährt der Wortlaut nicht
102 EGMR, Urteil v. 7.12.1976, Rs. Handyside, EuGRZ 1977, S. 38, 48, Rn. 62.
103 EGMR, Urteil v. 24.10.1986, Rs. AGOSI, EuGRZ 1988, S. 513, 517, Rn. 51.
104 Gelinsky, Der Schutz des Eigentums, S. 48.
105 Hartwig, RabelsZ 1999, S. 561, 569; siehe auch EGMR, Urteil v. 30.6.2005, Rs. Bosphorus, NJW 2006, S. 197, 200.
106 EGMR, Urteil v. 24.6.1993, Rs. Papamichalopoulos, 1993, ÖJZ 1993, S. 177.
107 Wegener, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 113, Rn. 19.
108 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 363 f. mit weiteren Nachweisen.
45
wie die anderen Sätze des Artikels irgendwelche Eingriffsbefugnisse. Dennoch
können Eigentumseingriffe nach Ansicht von EGMR und EKMR nicht nur unter
die Entziehungs- oder Benutzungsregelungsklausel fallen. In der Rs. Sporrong
und Lönnroth entschied der EGMR, dass weder eine Enteignung noch eine Benutzungsregelung vorlag. Grund dafür war, dass der Zweck der Maßnahme weder
in einer Nutzungsbeschränkung oder -kontrolle lag noch eine Eigentumsentziehung gegeben war.109 Hoheitliche Maßnahmen, die keiner der beiden Eingriffstypen zugeordnet werden können, stellen nicht etwa per se – was sicherlich nahe
liegender gewesen wäre – einen Verstoß gegen das Eigentumsrecht dar, sondern
werden vom EGMR in eine dritte Eingriffskategorie unter Art. 1 Abs. 1 S. 1
EMRK gefasst.110 Auch in der weiteren Rechtsprechungspraxis hat der EGMR
diesen Eingriffstyp angewandt.111 In jüngerer Zeit ist der Gerichtshof jedoch dazu
übergegangen, von den »sonstigen Eingriffen« wieder abzurücken. Vielmehr
machte er klarstellend deutlich, dass, wenn ein Eingriff keine Eigentumsentziehung darstellt, eine Benutzungsregelung vorliegen müsse.112
Diese Praxis wird von der herrschenden Ansicht der Literatur getragen, die in Art.
1 Abs. 1 S. 1 allein die Beschreibung des Schutzbereiches der Eigentumsgarantie
erblickt, welche die nachfolgend eröffneten Eingriffsmöglichkeiten rechtfertigungspflichtig macht. Satz 1 hat damit eingriffsbeschränkende nicht aber eingriffsermöglichende Funktion.113
5. Rechtfertigung der Eigentumseingriffe
Die dargestellten Eingriffe in die Eigentumsgewährleistung unterliegen bestimmten Rechtmäßigkeitsanforderungen, die sich zum einen aus Art. 1, 1. ZP EMRK
selbst ergeben, zum anderen auch ihren Ursprung in allgemeinen Regeln haben.
Insbesondere für den Betroffenen einer Eigentumsentzugsmaßnahme ist es von
gesteigertem Interesse zu wissen, wann ein Entzug rechtmäßig und von ihm zu
dulden ist. Im Folgenden wird dargestellt, unter welchen Bedingungen eine Eigentumsentziehung und eine Benutzungsregelung möglich sind. Insbesondere
wird eingehend erörtert, inwiefern der Eigentumsentzug einem Entschädigungserfordernis unterfällt.
109 EGMR, Urteil v. 23.9.1982, Rs. Sporrong und Lönnroth, EuGRZ 1983, S. 523, 525, Rn.
62 u. 65.
110 EGMR, Urteil v. 23.9.1982, Rs. Sporrong und Lönnroth, EuGRZ 1983, S. 523, 525, Rn.
65 ff.
111 EGMR, Urteil v. 23.4.1987, Rs. Poiss, NJW 1989, S. 650, 651, Rn. 64.
112 EGMR, Urteil v. 19.12.1989, Rs. Mellacher et autres, ÖJZ 1990, S. 150, 151.
113 Wegener, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 115, Rn. 25; Hartwig,
RabelsZ 1999, S. 561, 571; ebenso Gelinsky, Der Schutz des Eigentums, S. 90 f.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Studie begründet, weshalb die Haftung der Europäischen Gemeinschaft für rechtmäßige Rechtsetzungsakte keinen Verstoß gegen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellt. Im Gegenteil: Diese Haftung für Sonderopfer ist gemeinschaftsrechtskonform und liefert zugleich einen Beitrag zur grundrechtlichen Anerkennung der Entschädigungspflicht für eigentumsentziehende oder -entwertende Maßnahmen. Mittels einer detaillierten rechtsvergleichenden Untersuchung zur Entschädigungspflicht bei Eigentumsentzugsmaßnahmen und zur gemeinschaftsrechtlichen Grundlage der europäischen Sonderopferhaftung stellt die Bearbeitung einen alternativen Ansatzpunkt für die Sonderopferhaftung bereit und liefert einen neuen Diskussionspunkt zu einer aktuellen Rechtsprechung.