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dar, trifft aber keine Wertentscheidung über das verbürgte Recht.28 Nichts desto
trotz ist die Bestimmung aus einem Kompromiss zwischen einem dezidierten Eigentumsschutz und freier Verfügbarkeit über privates Eigentum entstanden. Vor
allem das Fehlen einer ausdrücklichen Entschädigungsregelung fällt als markante
Besonderheit direkt ins Auge und verblüfft schon wegen der ansonsten sehr detailliert geregelten Gewährleistung.29 Der Grund liegt darin, dass Großbritannien
dem Formulierungsvorschlag, welcher im Zusatz eine Enteignung nur gegen Entschädigung verlangte, nicht zugestimmt hatte. Man wandte ein, die Festlegung einer für alle Situationen geltende Entschädigungsregelung sei nicht möglich.30 Daraufhin wurde der Wortlaut wiederum geändert und verblieb in der heute gültigen
Form ohne Niederlegung eines Entschädigungserfordernisses. Anstelle dessen
wurde der Verweis auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze in den Normtext eingeführt.31
2. Anwendungsbereich der Konvention
Die EMRK entfaltet ihre Bindungswirkung gegenüber den Signatarstaaten. Jedes
Land, das die EMRK unterzeichnet hat, ist an ihre Bestimmungen gebunden. Die
EMRK verfolgt in erster Linie den Schutz des einzelnen Bürgers gegen Rechtsakte des Staates.32 In der dieser Untersuchung zu Grunde liegenden Konstellation
sieht sich der EU-Bürger nicht der nationalen Hoheitsgewalt gegenübergestellt,
sondern vielmehr der Europäischen Gemeinschaft, welche anstelle der nationalen
Exekutiven und/oder Legislativen Rechtsnormen erlässt, die den Einzelnen rechtlich betreffen. Die Gemeinschaft ist jedoch nicht selbst Vertragspartei der EMRK
und insofern auch nicht durch sie verpflichtet.33 Um der Konvention beitreten zu
können, müsste der Beitritt vom Erfordernis der Mitgliedschaft der Vertragspartei
im Europarat losgelöst werden, die allein Staaten vorbehalten ist, vgl. Art. 59
Abs. 1 S. 1 EMRK.34 Ebenso müssten die Bestimmungen hin zu einer Erfassung
der Rechtsverhältnisse im Verhältnis von Gemeinschaft zum Bürger abgeändert
werden.35 Die Diskussion über einen Beitritt könnte sich allerdings inzwischen
weitgehend durch das Gutachten des Gerichtshofs vom 28. März 1996 über den
Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK erledigt haben.36 Das Gutachten verneint die
28 Brandt, Eigentumsschutz in europäischen Völkerrechtsvereinbarungen, S. 64; Fiedler,
EuGRZ 1996, S. 354.
29 Hartwig, RabelsZ 1999, S. 561, 563; so auch Peukert, EuGRZ 1981, S. 97, 98.
30 Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, S. 254, Rn. 2.
31 Peukert, EuGRZ 1981, S. 97, 99.
32 Hartwig, RabelsZ 1999, S. 561, 562.
33 Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, S. 92, 95; Philippi, ZEuS 2000, S. 97, 98; Mahlmann,
ZEuS 2000, S. 419, 424 f.; ausführlich zu den Gründen eines Beitritts siehe: Ehlermann/
Nöel, in: GS Sasse, Bd. II, S. 685, 686 ff.; Kokott, AöR 121 (1996), S. 599, 634 ff.
34 Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, S. 92, 102.
35 Näher dazu, Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 28, 34.
36 EuGH, Gutachten 2/94 v. 28.03.1996, Slg. 1996, S. I-1763 ff.
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Zuständigkeit der Gemeinschaft, einen Beitrittsvertrag zu erlassen, da der EG-
Vertrag keine Befugnis enthalte, Vorschriften auf dem Gebiet der Menschenrechte zu erlassen.
Allerdings könnten die Mitgliedstaaten der Union entweder separiert oder zur gesamten Hand eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit treffen, auch für Konventionsverstöße aus der Sphäre der Gemeinschaftsorgane einzustehen. Folglich
könnte dies bedeuteten, dass sich die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die sich
durch die Unterzeichnung der Konvention ergibt, so weit verstehen ließe, dass die
Verpflichtung zum Schutz vor der Hoheitsgewalt nicht nur gegenüber unmittelbar
der eigenen Hoheitsgewalt unterstellten Bürger besteht, sondern sich ebenso auf
den Schutz vor Eingriffen durch eine supranationale Gewalt erstreckt.37
Folgt man diesem Ansatz nicht, so geht das Interesse dahin, festzustellen, ob und
in welcher Form der EU-Bürger sich auch bei Eingriffen in Rechte der Konvention, hier das Eigentumsrecht, direkt gegen die Gemeinschaft zur Wehr setzen
kann. Auch wenn die Gemeinschaft nicht unmittelbar an die Bestimmungen der
EMRK gebunden ist,38 so entfaltet die Konvention jedoch eine nicht zu unterschätzende Ausstrahlungswirkung auf die Gemeinschaftsgrundrechte, die vom
EuGH anerkannt sind, was letztlich auch durch die Bestimmung des Art. 6 Abs.
2 EU untermauert wird. Die Gemeinschaft achtet demnach die Grundrechte, wie
sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind.
Die Analyse des durch die EMRK gewährleisteten Eigentumsschutzes erübrigt
sich folglich nicht durch den unterbliebenen Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention, denn die EMRK stellt einen Pfeiler der im Gemeinschaftsrecht gewährten Eigentumsgarantien dar.
3. Schutzbereich des Art. 1, 1. ZP EMRK
a) Allgemeines
Der Wortlaut der Norm enthält keine Definition des Begriffs »Eigentum«. Dies
liegt wohl daran, dass der Begriffsinhalt bei den Vertragsverhandlungen gar nicht
zur Debatte stand. Begriffliche Schärfe kann zum einen durch einen Rückgriff auf
das allgemeine Völkerrecht erreicht werden. Mangels eines Hinweises auf ein
spezielles konventionsrechtliches Eigentumsverständnis kann davon ausgegangen werden, dass Art. 1, 1. ZP EMRK als Bestandteil des Völkerrechts den Eigentumsbegriff nicht anders auslegt, als es im allgemeinen Völkerrecht der Fall
37 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 28, 33 f.
38 Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 62 f.
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References
Zusammenfassung
Die Studie begründet, weshalb die Haftung der Europäischen Gemeinschaft für rechtmäßige Rechtsetzungsakte keinen Verstoß gegen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellt. Im Gegenteil: Diese Haftung für Sonderopfer ist gemeinschaftsrechtskonform und liefert zugleich einen Beitrag zur grundrechtlichen Anerkennung der Entschädigungspflicht für eigentumsentziehende oder -entwertende Maßnahmen. Mittels einer detaillierten rechtsvergleichenden Untersuchung zur Entschädigungspflicht bei Eigentumsentzugsmaßnahmen und zur gemeinschaftsrechtlichen Grundlage der europäischen Sonderopferhaftung stellt die Bearbeitung einen alternativen Ansatzpunkt für die Sonderopferhaftung bereit und liefert einen neuen Diskussionspunkt zu einer aktuellen Rechtsprechung.