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Einleitung
I. Problemaufriss
Die Europäische Gemeinschaft ist ein Staatenverbund eigener Art, dem eine originäre, supranationale öffentliche Gewalt zukommt.1 Die Mitgliedstaaten erfahren einen enormen Integrationsdruck, der einher geht mit der Aufgabe eigener
Souveränität. Im legislativen Bereich ist es schon seit langem keine Frage allein
nationaler Anschauungen mehr, welche Ziele Gesetz werden. Der europäische Integrations- und Angleichungsprozess verpflichtet die Staaten zur Umsetzung
oder Befolgung der auf Gemeinschaftsebene gefällten Entscheidungen in Form
von Richtlinien oder Verordnungen.2 Die Bürger sehen sich zum einen der nationalen Hoheitsgewalt ausgesetzt. Auf EU-Ebene stehen sie als EU-Bürger (Art. 17
EG) zudem der Rechtsgemeinschaft der Mitgliedstaaten gegenüber. Dem Unionsbürger stehen damit zwei Hoheitsgewalten gegenüber, die jeweils für sich in
Rechtspositionen des Einzelnen eingreifen können.3 Die europäische Integration
hat somit nicht nur unmittelbare Auswirkungen auf die einzelnen Mitgliedstaaten, sondern gleichfalls auf ihre Bürger. Bedingt durch die in weiten Teilen fortbestehende wirtschaftsordnende Zielrichtung der von der Europäischen Gemeinschaft ausgeübten Hoheitsgewalt bekommt gerade der grundrechtliche Eigentumsschutz eine zentrale Bedeutung. Das Privateigentum als Spiegelbild materieller Gerechtigkeit in der Wirtschaftsordnung vermittelt dem EU-Bürger das Gefühl von Rechtssicherheit, sozialer Gerechtigkeit und institutioneller Garantie im
Gesellschaftsgefüge, so dass das Eigentum im Gemeinschaftsrecht zum Korrelat
der Freiheit wird.4 Angesichts der zunehmenden direkten Einflussnahme der Gemeinschaft besteht dazu korrespondierend ein Bedürfnis nach umfassendem
Rechtsschutz. Der Einzelne sollte demnach auch auf Gemeinschaftsebene gegen
unzumutbare Beeinträchtigungen von Rechtspositionen in ausreichendem Maße
geschützt sein.
1 Der Begriff »Europäische Gemeinschaft« wird umgangssprachlich häufig durch »Europäische Union« ersetzt. Juristisch sind beide Organisationen aber zu trennen. Nur die Europäische Gemeinschaft besitzt bislang eigene Rechtspersönlichkeit und völkerrechtliche
Handlungsfähigkeit. Vgl.: Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 560; Beutler, in: Die Europäische Union, S. 55, Rn. 25; Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, S. 3; Kapteyn/
VerLoren van Themaat, Introduction to the Law of the European Communities, S. 45;
Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 33 ff.; ausführlich
zur Supranationalität: Jaenicke, in: FS Ophüls, S. 85 ff.
2 Hatje, Die gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, S. 23.
3 Schmahl, ZEuS 1999, S. 415.
4 Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 178; Badura, JuS
1976, S. 205, 213.
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Die Möglichkeit der Schädigung einzelner Bürger durch Handlungen der
Organe der Europäischen Gemeinschaft ist bereits in den Gründungsverträgen
durch die Statuierung entsprechender Haftungstatbestände berücksichtigt worden. In den Verträgen über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für
Kohle und Stahl, über die Europäische Atomgemeinschaft und zur Gründung der
Europäischen Gemeinschaft sind mit den Art. 34 und 40 EGKSV, 188 Abs. 2
EAGV und Art. 288 Abs. 2 (ex-Art. 215 Abs. 2)5 EG Regelungen getroffen worden, die für den Ausgleich von Schäden Anwendung finden, die durch hoheitliches Handeln der Bediensteten und Organe der europäischen Gemeinschaft entstanden sind. Der Wortlaut der zentralen Schadenersatznorm des Art. 288 Abs. 2
EG lautet:
»Im Bereich der außervertraglichen Haftung ersetzt die Gemeinschaft den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden nach den
allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind.«
Seit über 30 Jahren haftet die Europäische Gemeinschaft inzwischen anerkanntermaßen nach Art. 288 Abs. 2 EG für rechtswidrige Verwaltungs- und Rechtsetzungsakte ihrer Organe unter Verweis auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die
den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten gemeinsam sind.6
Eine Lücke im Rechtsschutzsystem tut sich hinsichtlich der bislang weitgehend
ungeklärten Frage auf, was gilt, wenn ein Rechtsetzungsakt der Europäischen Gemeinschaft übermäßige Beschränkungen des Eigentumsrechts der EU-Bürger
hervorruft, die eine besonders schwere Einbuße begründen, aber dennoch rechtmäßig sind. Der Wortlaut des Art. 288 Abs. 2 EG steht dieser Haftungsfrage zumindest offen gegenüber.
Der Bereich der gemeinsamen Agrarwirtschaft bringt beispielsweise Berührungspunkte durch starke Reglementierungen mit sich.7 Es werden Regelungen zur Stabilisierung und Vereinheitlichung des europäischen Agrarmarktes getroffen,8 wodurch übergeordnete Ziele auf Einzelschicksale prallen, deren Schadensausgleich
oft wegen Fehlens von Härtefallklauseln ausbleibt. Aber auch andere wirtschaftspolitische Bereiche, wie die Embargopolitik gegen einzelne Staaten9 oder das
WTO-Recht, waren bereits Ansatzpunkt, um die Frage nach Entschädigungen der
5 Im Folgenden wird lediglich die aktuelle Fassung zitiert.
6 Grundlegende Entscheidungen in beiden Fällen: EuGH, Urteil v. 28.4.1971, Rs. 4/69, Lütticke, Slg. 1971, S. 325, 337; Urteil v. 2.12.1971, Rs. 5/71, Schöppenstedt, Slg. 1971,
S. 975, 984 f.; EuGH, Urteil v. 19.5.1992, verb. Rs. C-104-89 u. C-37/90, Mulder, Slg.
1992, I-3061 ff.
7 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 563; Everling, in: FS Raiser, S. 379, 388.
8 Everling, in: FS Raiser, S. 379, 388.
9 EuG, Urteil v. 28.4.1998, Rs. T-184/95, Dorsch Consult, EuR 1998, S. 542 ff.; EuGH,
Urteil v. 15.6.2000, Rs. C-237/98, Slg. 2000, S. 4549 ff.
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Unionsbürger für rechtmäßige Maßnahmen im Rahmen einer Haftungserweiterung der Gemeinschaft auf der Grundlage des Art. 288 Abs. 2 EG aufzuwerfen.10
In der Rechtsprechung von EuG und EuGH wurde lange Zeit eine solche Haftungserweiterung angedacht, aber ausdrücklich offen gelassen. Zunächst haben
sich die Gerichte nur zurückhaltend zu einem solchen Haftungsanspruch geäußert
und von einer Prüfung im Einzelfall abgesehen. In der Entscheidung Dorsch Consult hat das EuG in einem obiter dictum mögliche Vorraussetzungen angesprochen, die Aufschluss über die gemeinschaftsrechtliche Haftungskonzeption geben können. In einer insoweit revolutionären Entscheidung vom Dezember 2005
hat das EuG die Haftung der Gemeinschaft für rechtmäßiges Handeln erstmals
ausdrücklich anerkannt; eine entsprechend ausführliche Begründung ist das Gericht dagegen schuldig geblieben.11
Die Motivation dieser Untersuchung begründet sich daher in der übergeordneten
Fragestellung, ob der EU-Bürger auf der Grundlage des Art. 288 Abs. 2 EG Entschädigungen für unzumutbare Eigentumseingriffe infolge rechtmäßiger Rechtsetzungsakte der Europäischen Gemeinschaft erlangen kann. Der gedankliche
Orientierungspunkt liegt dabei in der aus dem deutschen Recht bekannten Aufopferungshaftung für Sonderopfer,12 die sich in ähnlicher Form auch im französischen Recht wieder finden lässt.13 Aus den obigen Gründen soll sich die Bearbeitung schwerpunktmäßig auf den Aspekt der Rechtmäßigkeitshaftung der Gemeinschaft beziehen, da sich in diesem Bereich aktuelle Entwicklungen in der
Rechtsprechung von EuG und EuGH sowie der Literatur finden lassen.
II. »Symbiose« aus effektivem Schutz des Eigentumsgrundrechts und
außervertraglicher Haftung für rechtmäßiges Handeln der Europäischen
Gemeinschaft nach Art. 288 Abs. 2 EG
Die Erweiterung des Haftungstatbestandes des Art. 288 Abs. 2 EG um die Haftung für rechtmäßiges Handeln bedeutet einen Fortschritt im Bereich des Grundrechtsschutzes des Einzelnen gegen Handlungen der Gemeinschaft. Denn mit Art.
288 Abs. 2 EG stellt der EG-Vertrag ein Haftungsinstitut bereit, das auch der gerichtlichen Geltendmachung des Grundrechtsschutzes, insbesondere des Eigen-
10 Zum WTO-Recht, vgl.: v. Bogdandy, JWT 2005, S. 45, 65.
11 EuG, Urteil v. 14.12.2005, Rs. T-69/00, FIAMM u.a., EuR 2006, S. 691 ff., Rn. 157 ff.
12 Das Sonderopfer liegt dabei in der Bürde von besonders schweren eigentumsrelevanten
Auswirkungen eines rechtmäßigen Hoheitsaktes auf eine bestimmte Anzahl von Betroffenen im Vergleich zur Allgemeinheit begründet.
13 Darauf wird detailliert im späteren Verlauf der Bearbeitung eingegangen. An dieser Stelle
sei allerdings schon darauf hingewiesen, dass sich zumindest die deutsche Haftung für
Sonderopfer nicht auf förmliche Gesetze bezieht. In Frankreich dagegen ist diese Haftung
nicht ausgeschlossen.
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References
Zusammenfassung
Die Studie begründet, weshalb die Haftung der Europäischen Gemeinschaft für rechtmäßige Rechtsetzungsakte keinen Verstoß gegen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellt. Im Gegenteil: Diese Haftung für Sonderopfer ist gemeinschaftsrechtskonform und liefert zugleich einen Beitrag zur grundrechtlichen Anerkennung der Entschädigungspflicht für eigentumsentziehende oder -entwertende Maßnahmen. Mittels einer detaillierten rechtsvergleichenden Untersuchung zur Entschädigungspflicht bei Eigentumsentzugsmaßnahmen und zur gemeinschaftsrechtlichen Grundlage der europäischen Sonderopferhaftung stellt die Bearbeitung einen alternativen Ansatzpunkt für die Sonderopferhaftung bereit und liefert einen neuen Diskussionspunkt zu einer aktuellen Rechtsprechung.