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VI. Zusammenfassende Bewertung
Bei der Vermeidung von Entscheidungswidersprüchen hinsichtlich konkreter Sachverhalte ist im Verhältnis nationaler Zivilgerichte gegenüber den hoheitlich handelnden Behörden, einschließlich der Kommission, einerseits und zu den Zivilgerichten anderer Mitgliedstaaten andererseits eine grundsätzlich zu unterscheidende
Ausgangslage anzutreffen. Während verschiedene Zivilgerichte potentiell über identische Rechtsfolgen entscheiden, ist dies im Verhältnis zu den nationalen Behörden
und der Kommission nicht der Fall.
Aus der unterschiedlichen Zielrichtung des Tätigwerdens im Verhältnis zu den im
hoheitlichen Vollzug handelnden Stellen, also zu Kommission und nationalen Kartellbehörden, folgt, dass es hier keinerlei Zuständigkeitsabgrenzung geben kann.
Weiterhin kann es in diesem Verhältnis nicht um die Vermeidung widersprüchlicher
Rechtsfolgenanordnungen, sondern nur um eine widerspruchsfreie tatbestandliche
Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts gehen. Dabei ist fraglich, inwieweit die Entscheidung einer Stelle durch die jeweils andere beachtet werden muss.
Im Verhältnis zu den nationalen Behörden macht die VO 1/2003 hierzu keinerlei
Vorgaben, so dass die Mitgliedstaaten die Beachtlichkeit inländischer oder ausländischer Entscheidungen durch die Zivilgerichte grundsätzlich frei regeln können. Im
Verhältnis der Zivilgerichte zur Kommission nimmt letztere nach Art. 85 EG eine
herausgehobene Stellung ein. Dieser Stellung trägt die Vorschrift des Art. 16 Abs. 1
Satz 1 VO 1/2003 Rechnung, wonach nationale Gerichte keine Entscheidungen zu
erlassen haben, die im Widerspruch zur Kommissionsentscheidung stehen. Diese
Regel ist eine materielle Verpflichtung für nationale Gerichte, für den Fall, dass
bereits eine Entscheidung zu einem bestimmten Fall ergangen ist. Sie beschreibt
aber zugleich einen Zielzustand, demzufolge sich keine widersprüchlichen Entscheidungen gegenüber stehen sollen. Dieser Zielzustand wird in allen denkbaren Konstellationen der zeitlichen Abfolge zu verwirklichen gesucht, in der eine Behandlung
desselben Falles durch die Kommission und ein Gericht erfolgen kann. Falls ein
nationales Gericht ein von der Kommissionsentscheidung abweichendes Urteil zu
erlassen gedenkt, muss es dem EuGH eine Gültigkeitsfrage vorlegen. Letztlich besteht somit also eine Bindung an die Entscheidung des EuGH, nicht an die der Kommission. Jedoch ist die Kommissionsentscheidung autoritativ, sofern sie durch den
EuGH im Rahmen eines Vorlageverfahrens bestätigt wird oder sofern eine Vorlage
nicht mehr möglich ist.
Keine Schwierigkeiten ergeben sich, sofern Kommission und nationale Gerichte
einen Fall gemäß Art. 16 Abs. 1 Satz 2 VO 1/2003 parallel behandeln. Hier wird von
den nationalen Gerichten grundsätzlich erwartet, die Entscheidung der Kommission
abzuwarten. Als problematisch erweist es sich, wenn ein nationales Gericht bereits
entschieden hat, bevor die Kommission ihre Entscheidung erlässt. Der Verwirklichung des beschriebenen Zielzustands sind hier durch die nach dem Grundsatz der
loyalen Zusammenarbeit gebotene Rücksichtnahme auf die im nationalen Recht
geltenden Rechtskraftwirkungen und auf die zugrunde liegenden nationalen Gestaltungsinteressen Grenzen gesetzt. Sofern hier Rechtsmittelfristen verstrichen oder
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Möglichkeiten der Wiederaufnahme nicht vorhanden sind und auch im Rahmen des
Vollstreckungsrechts der abweichenden Entscheidung der Kommission keine Beachtung mehr geschenkt werden kann oder es an einer entsprechenden Parteiinitiative fehlt, müssen bestehende Entscheidungswidersprüche hingenommen werden.
Die Pflicht der nationalen Gerichte, keine von der Kommission abweichenden
Entscheidungen zu treffen, ist im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit nicht
zu beanstanden. Der Umstand, dass weiterhin eine gerichtliche Prüfung stattfindet,
ist geeignet, Bedenken sowohl unter Gewaltenteilungs- als auch unter Rechtsschutzgesichtspunkten auszuräumen, auch wenn die Frage nach der Gültigkeit der Kommissionsentscheidung nur durch die europäische Gerichtsbarkeit im Wege der Nichtigkeitsklage oder inzident im Vorlageverfahren entschieden wird. Es zeigt sich das
enge Ineinandergreifen von Gemeinschaftsgerichtsbarkeit und nationaler Gerichtsbarkeit.
Bei der privatrechtlichen Durchsetzung des europäischen Kartellrechts ergibt sich
im Verhältnis zum hoheitlichen Vollzug ein Zielkonflikt. Einerseits spricht aus der
Kartellverfahrensverordnung und der Rechtsprechung des EuGH das Ziel, einen
weitgehenden Entscheidungseinklang zwischen Entscheidungen der Gerichte und
der Kommission zu gewährleisten. Aus Gründen der Rechtssicherheit und Verfahrenseffizienz hält die Kommission einen solchen Entscheidungseinklang auch im
Verhältnis zu nationalen Behörden für wünschenswert720. Andererseits verfolgt die
Kommission das Ziel, die private Kartellrechtsdurchsetzung zu stärken und weist ihr
eine selbständige Ergänzungsfunktion zu721. Während das Zivilverfahrensrecht der
Mitgliedstaaten indessen durch den Beibringungsgrundsatz geprägt ist, wird im
behördlichen Verfahren der Sachverhalt grundsätzlich von Amts wegen ermittelt.
Folglich liegt einer zivilgerichtlichen Entscheidung unter Umständen ein anderer
Sachverhalt zugrunde als einer Behördenentscheidung, die sich auf den gleichen
Ausgangsfall bezieht.
Sofern also die autonome Position des Zivilprozesses bei der Durchsetzung des
Kartellrechts gestärkt und das Zivilverfahren nicht als bloßer Annex zum behördlichen Verfahren dienen soll, sind Uneinheitlichkeiten der Rechtsanwendung hinzunehmen. Ein maximaler Entscheidungseinklang ließe sich hingegen durch eine echte
Tatbestandswirkung von Behördenentscheidungen erzielen. In diese Richtung weist
das Weißbuch der Kommission zu Schadensersatzklagen722. Mit ihrem selbstdefinierten Ziel, der Stärkung einer selbständigen, privaten kartellrechtlichen Streitkultur setzt sich die Kommission dadurch in Widerspruch. Denn eine solche Tatbestandswirkung hätte zur Folge, dass, mehr noch als schon bisher, Zivilverfahren
allenfalls im Anschluss an behördliche Verfahren stattfänden723.
720 Weißbuch zu Schadensersatzklagen, S. 6 f.
721 Weißbuch zu Schadensersatzklagen, S. 3 f.
722 S. 6 f. Der Wortlaut der dort vorgeschlagenen Regelung sieht eine Tatbestandswirkung freilich nicht vor, sondern entspricht der Regelung des Art. 16 VO 1/2003.
723 A. P. Komninos, EC Private Antitrust Enforcement, S. 18.
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Im Verhältnis nationaler Zivilgerichte aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten zueinander sind zwei Ausgangslagen grundsätzlich zu unterscheiden: Einerseits ist es
dadurch, dass Zivilgerichte mit der gleichen Zielrichtung tätig werden und sowohl
die Brüssel I-VO als auch die nationalen Rechte konkurrierende Zuständigkeiten
vorsehen, grundsätzlich möglich, dass mehrere Gerichte zur Beurteilung identischer
Streitgegenstände zuständig sind. Es ist jedoch andererseits möglich, dass Gerichte
zwar im Wesentlichen den gleichen Sachverhalt und damit das gleiche wettbewerbsrechtswidrige Verhalten beurteilen, dass jedoch nach unterschiedlichen Rechtsfolgen
gefragt oder das Verhalten unterschiedlicher Unternehmen beurteilt wird. In ersterem Fall ist die mehrfache Entscheidung über identische Streitgegenstände zu vermeiden, in letzterem Fall bestehen die Rechtsfolgen notwendig nebeneinander.
Damit geht einher, dass in ersterem Fall eine parallele oder mehrfache Befassung
durch verschiedene Gerichte nach den Regeln der anderweitigen Rechtshängigkeit
gemäß Art. 27 Brüssel I-VO oder aufgrund entgegenstehender Rechtskraft ausgeschlossen ist. In letzterem Fall hingegen wird der gleiche Ausgangssachverhalt unter
verschiedenen Gesichtspunkten beurteilt. Es kommt somit zu einer mehrfachen
wettbewerbsrechtlichen Beurteilung des gleichen Verhaltens. Zur Vermeidung einer
widersprüchlichen Beurteilung kann in gewissem Umfang eine Verfahrenskoordination nach Art. 28 Brüssel I-VO beitragen, der zwar keine zwingende Regelung darstellt, aber immerhin die flexible Handhabung parallel anhängiger Verfahren ermöglicht. Die Bestimmung bietet den Gerichten zumindest die Möglichkeit, freiwillig
für die Vermeidung von Entscheidungswidersprüchen zu sorgen. So können Verfahren nach Art. 28 Abs. 1 Brüssel I-VO bis zur Entscheidung des anderen Gerichts
ausgesetzt werden. Sofern das aussetzende Gericht die wettbewerbsrechtliche Beurteilung anders vorgenommen hätte, kann es den EuGH nach Art. 234 EG anrufen. Es
kann somit mittelbar eine zusätzliche gegenseitige Kontrolle der Rechtsanwender
stattfinden.
Weniger zeitaufwändig ist freilich eine Unzuständigerklärung eines Gerichts nach
Art. 28 Abs. 2 Brüssel I-VO zugunsten der gemeinsamen Behandlung der Klagen
durch ein anderes Gericht. Indem die Entscheidungszuständigkeit in eine Hand gelegt wird, kann ein Beitrag zu einer widerspruchsfreien Rechtsanwendung geleistet
werden. Dazu ist es freilich erforderlich, dass das Gericht zu dessen Gunsten die
Unzuständigerklärung erfolgt, sich auch tatsächlich der Rechtssache annimmt. Mangels Verweisungsmöglichkeit ist dies nicht garantiert. Allerdings dürfte hier gemäß
Art. 6 Nr. 1 Brüssel I-VO durchweg eine Zuständigkeit begründet sein.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Erlass der EG-Verordnung 1/2003 hat einen Systemwechsel im Bereich des europäischen Kartellverfahrens bewirkt und den Weg für eine verstärkte private Kartellrechtsdurchsetzung geebnet. Auf der politischen Agenda der Europäischen Kommission hat die Stärkung des private enforcement weiterhin höchste Priorität. Die ersten spektakulären kartellrechtlichen Schadensersatzprozesse und die Entstehung eines kartellprivatrechtlichen Klagegewerbes in Europa markieren den Anfang einer nachhaltigen Entwicklung.
Durch die mit der Einbeziehung der Zivilgerichte verbundene Dezentralisierung des Kartellrechtsvollzugs entsteht auch das vermehrte Bedürfnis, eine einheitliche Rechtsanwendung durch die beteiligten Akteure sicherzustellen.
Das vorliegende Werk untersucht die gemeinschaftsrechtlichen Mechanismen, die der Sicherung einer einheitlichen Anwendungspraxis zwischen den Zivilgerichtsbarkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten und der Vermeidung von Entscheidungswidersprüchen zwischen den am Kartellrechtsvollzug beteiligten Akteuren im konkreten Anwendungsfall dienen.
Der Autor ist als Rechtsanwalt im Bereich des Kartellrechts in einer Sozietät in Stuttgart tätig.