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B. Gewährleistung genereller Einheitlichkeit
Der folgende Teil widmet sich der Frage, wie für die zivilgerichtliche Durchsetzung
des europäischen Wettbewerbsrechts die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung generell, also unabhängig vom konkreten Einzelfall, sichergestellt werden kann. Dafür
sind die vorhandenen Instrumente zu untersuchen, die es erlauben, auf die generelle
Einheitlichkeit der Anwendungspraxis hinzuwirken. Vorab sind die Ausgangsbedingungen einer einheitlichen Rechtsanwendung in den Blick zu nehmen. Dabei ist vor
allem die Frage von Interesse, inwieweit dem Ziel vollkommen einheitlicher Anwendungsergebnisse von vornherein Grenzen gesetzt sind.
I. Ausgangsfall
Ein für den vorliegenden Zusammenhang interessanter kartellprivatrechtlicher
Rechtsstreit bildete den Ausgangspunkt für die Vorabentscheidung des EuGH in der
Sache Courage52. Dem Rechtsstreit lag folgender Sachverhalt zugrunde: Courage,
eine Brauerei aus dem Vereinigten Königreich, vereinbarte mit der Firma Grand
Met, die von den beiden Unternehmen jeweils verpachteten Schankbetriebe zusammenzuführen. Zu diesem Zweck wurde unter dem Namen IEL eine gemeinsame
Gesellschaft gegründet, der die jeweiligen Schankbetriebe übertragen wurden. Zwischen der IEL und Courage wurde vereinbart, dass sämtlichen Pächtern Bezugsverpflichtungen auferlegt würden, die den alleinigen Bezug des Bieres bei Courage
vorsahen. Die jeweiligen Bezugspreise bestimmten sich nach festen Tarifen.
Im Jahre 1991 schloss Bernard Crehan, zwei verbundene Pachtverträge mit IEL,
in denen Bezugsverpflichtungen zugunsten von Courage vorgesehen waren. Diese
verpflichteten entsprechend der beschriebenen Vertragspraxis zum Alleinbezug der
Biere von Courage und bestimmten feste Mindestpreise und Mindestbezugsmengen.
Als später seitens Crehan Zahlungen an Courage ausblieben, erhob diese Zahlungsklage. Seiner Zahlungsverpflichtung hielt Crehan indessen einen Verstoß gegen das
europäische Kartellrecht entgegen und berief sich auf Vertragsnichtigkeit. Zudem
erhob er Widerklage auf Schadensersatz, ebenfalls gestützt auf einen Verstoß der
Vereinbarungen gegen das europäische Kartellrecht. Der mit der Sache befasste
englische Court of Appeal sah sich unter anderem deshalb zur Vorlage veranlasst,
weil ein Grundsatz des anwendbaren englischen Rechts es verhinderte, dass die
Partei eines rechtswidrigen Vertrages von der anderen Vertragspartei Schadensersatz
verlangt. Danach hätte Crehan, da er selbst an der kritischen Vereinbarung beteiligt
war, auch im Falle der Kartellrechtswidrigkeit des Bierlieferungsvertrags nach eng-
52 EuGH, Urteil vom 20.9.2001, Rs. C-453/99 – Courage/Crehan, Slg. 2001, S. I-6297.
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lischem Zivilrecht kein Schadensersatzanspruch zugestanden. Für den Court of Appeal stellte sich nun die Frage, ob der erwähnte Grundsatz des nationalen Rechts aus
Sicht des Gemeinschaftsrechts zu beanstanden sei.
II. Rahmenbedingungen einheitlicher Rechtsanwendung
Für die Frage, inwieweit einheitliche Ergebnisse bei der Anwendung des europäischen Kartellrechts durch nationale Zivilgerichte überhaupt realisierbar sind, müssen
zwei Problemkreise unterschieden werden. Erstens ist zu beachten, dass nationale
Gerichte stets in ihre nationalen Rechtsordnungen eingebunden sind. In diesen
Rechtsordnungen selbst aber existieren Rechtssätze, die grundsätzlich auf kartellprivatrechtliche Streitigkeiten Anwendung finden. Fraglich ist nun, abstrakt gesprochen, inwieweit diese Rechtssätze bei der Anwendung der Art. 81 und 82 EG Beachtung finden, inwieweit also national unterschiedliche Regelungen in das jeweilige Anwendungsergebnis hineinwirken können. Diese Frage ist von Relevanz, weil
der Umfang, in dem neben den Art. 81 und 82 EG nationale Regelungen akzeptiert
werden, darüber entscheidet, in welchem Maße der abstrakte Rechtsrahmen zwischen den Mitgliedstaaten von einander abweicht. Zweitens ist es für die Einheitlichkeit der Rechtsanwendungsergebnisse von Bedeutung, ob den mitgliedstaatlichen Zivilgerichten bei der tatbestandlichen Anwendung der wettbewerbsrechtlichen
Vorschriften Beurteilungsspielräume zustehen, aufgrund derer unterschiedliche
Anwendungsergebnisse von vornherein hinzunehmen sind.
1. Übereinstimmung des abstrakten Rechtsrahmens
Nach der Rechtsprechung des EuGH stellt das Gemeinschaftsrecht eine autonome
Rechtsordnung dar53. Gleichwohl ist die gemeinschaftliche Rechtsordnung nicht
gänzlich unabhängig von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. Sie ist eng
verflochten mit den nationalen Rechtssystemen54. In den nationalen Rechtsordnungen finden sich ebenfalls Bestimmungen, die materielle wettbewerbsrechtliche Fragestellungen regeln und mit einem eigenen Geltungsanspruch ausgestattet sind.
Damit ist auch in kartellzivilrechtlichen Verfahren das Verhältnis von nationalem
und europäischem Wettbewerbsrecht zu klären. Gleichzeitig hält das geschriebene
Gemeinschaftsrecht selbst keine Rechtsvorschriften bereit, auf die bei der zivilgerichtlichen Anwendung des materiellen gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsrechts zurückgegriffen werden könnte. Es bleibt daher nur der Rückgriff auf nationa-
53 EuGH, Urteil vom 5.2.1963, Rs. 26/62 – van Gend en Loos/Finanzverwaltung, Slg. 1963, 1,
25.
54 G. C .R. Iglesias, NJW 1999, S. 1 ff. (8); grundlegend mit verfassungsrechtlicher Blickrichtung A. von Bogdandy, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 149 ff. (184 ff.);
I. Pernice, E.L.Rev. 2002, S. 511 (514); ders., in: Bieber/Widmer, S. 225 ff. (261 ff.).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Erlass der EG-Verordnung 1/2003 hat einen Systemwechsel im Bereich des europäischen Kartellverfahrens bewirkt und den Weg für eine verstärkte private Kartellrechtsdurchsetzung geebnet. Auf der politischen Agenda der Europäischen Kommission hat die Stärkung des private enforcement weiterhin höchste Priorität. Die ersten spektakulären kartellrechtlichen Schadensersatzprozesse und die Entstehung eines kartellprivatrechtlichen Klagegewerbes in Europa markieren den Anfang einer nachhaltigen Entwicklung.
Durch die mit der Einbeziehung der Zivilgerichte verbundene Dezentralisierung des Kartellrechtsvollzugs entsteht auch das vermehrte Bedürfnis, eine einheitliche Rechtsanwendung durch die beteiligten Akteure sicherzustellen.
Das vorliegende Werk untersucht die gemeinschaftsrechtlichen Mechanismen, die der Sicherung einer einheitlichen Anwendungspraxis zwischen den Zivilgerichtsbarkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten und der Vermeidung von Entscheidungswidersprüchen zwischen den am Kartellrechtsvollzug beteiligten Akteuren im konkreten Anwendungsfall dienen.
Der Autor ist als Rechtsanwalt im Bereich des Kartellrechts in einer Sozietät in Stuttgart tätig.