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3. Kapitel: Anwendungsgrundsätze für die urheberrechtlichen
Schranken
A) Zusammenspiel verfassungsrechtlicher und europarechtlicher Vorgaben
Die verfassungs- und europarechtlichen Vorgaben für die urheberrechtlichen
Schranken sind im Einzelfall nicht zwingend identisch. Bei der Auslegung einer urheberrechtlichen Schranke genießt man aber keine methodische Freiheit; vielmehr
ist gemäß Art. 249 Abs. 2 EG-Vertrag dem europäischen Recht grundsätzlich der
Vorrang vor dem Recht der einzelnen Mitgliedstaaten eingeräumt.232 Mit Art. 23
Abs. 1 S. 1 GG ist der verfassungsrechtliche Auftrag zu einer europarechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts vorgegeben.233 Sofern dies wegen gegenläufiger Vorgaben und Ansätze nicht möglich ist, darf das nationale Recht nicht anhand
der nationalen Verfassung überprüft werden, wobei nach der Rechtsprechung des
BVerfG jedoch stets der zwingende Grundrechtsstandard der Verfassung gewahrt
bleiben muss.234
B) Zum Verhältnis der urheberrechtlichen Schranken zu den
Ausschließlichkeitsrechten
I. Rechtsnatur als Ermittlungsansatz des Verhältnisses
Über die Rechtsnatur der urheberrechtlichen Schranken hat sich die juristische Literatur bislang weitestgehend ausgeschwiegen.235 Möglicherweise liegt dieses scheinbar mangelnde Interesse daran, dass die Antwort auf den ersten Blick allein rein
theoretischer Natur erscheint.236 Widmet man dieser Frage jedoch einen zweiten
Blick, wird man erkennen können, dass dies nicht so ist. Für das Verständnis der
Urheberrechtsschranken und, entscheidend, deren praktische Anwendung, ist es
nicht lediglich zweitrangig, auch deren rechtliches Verhältnis zu den urheberrechtlichen Ausschließlichkeitsrechten zu klären. Wie sich im Folgenden zeigen wird,
muss das Verhältnis der urheberrechtlichen Schranken zu den Ausschließlichkeits-
232 Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 244.
233 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 23, Rn. 41.
234 BVerfG, Beschluss v. 07.06.2000 – 2 BvL 1/97, BVerfGE 102, S. 147, 161 – Bananenmarkt;
Beschluss v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, in: NJW 1987, S. 577 – Solange II; vgl. auch: Berger, in: ZUM 2006, S. 844, 848 f.
235 Vgl. Geiger, der zutreffend die mangelnde Auseinandersetzung der Literatur mit dieser Frage
anspricht, in: Interessenausgleich im Urheberrecht, S. 143 ff.,
236 Vgl. insofern, Hilty, in: FS für Gerhard Schricker, S. 325, 327, Fn. 11.
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rechten unter anderem Konsequenzen auf die Auslegungsmodalitäten dieser Vorschriften haben.
Die zu klärende Grundsatzfrage wird dabei sein, ob die Schrankenregelungen in
den §§ 44 a ff. UrhG Rechte oder nur Interessen der Allgemeinheit ausdrücken.
Spricht man im Rahmen dieser Thematik auch meist von widerstreitenden Interessen, steht doch den jeweiligen Interessengruppen das Grundgesetz zur Seite. Dem
Recht an der exklusiven Nutzung und Verwertung steht das Recht der Allgemeinheit
auf ungehinderten Zugang zu Informationen oder auch die Wissenschaftsfreiheit gegenüber.237 Teilweise liest man dessen ungeachtet, dass nur der Urheber Inhaber von
Rechten sei, während die Beschränkungen allein die Interessen der Allgemeinheit
widerspiegeln würden.238 Schack spricht dabei insbesondere das traditionelle Verständnis an, nach welchem die Schranken des Urheberrechts in den §§ 44 a ff. UrhG
als Einwendungen verstanden werden, die einen Eingriff in die urheberrechtlichen
Ausschließlichkeitsrechte gemäß § 97 UrhG ausschließen, aber keine Mindestrechte
der Nutzer begründen.239 Vor dem Hintergrund, dass gerade auch die privilegierten
Interessen der Allgemeinheit, die dem Grunde nach geeignet sind, das Urheberrecht
einzuschränken, grundrechtlichen Schutz genießen und in konkreten Abwägungsvorgängen den Vorrang eingeräumt bekommen, kann dies nicht der richtige Ansatz
sein. Zutreffend ist demgegenüber, dass die urheberrechtlichen Schranken in den §§
44 a ff. UrhG keine Mindestrechte der Nutzer begründen, da die berücksichtigungsfähigen Rechte ihre Begründung und Berechtigung letztlich in der Verfassung finden. In den urheberrechtlichen Schranken nehmen diese jedoch eine greifbare einfachgesetzliche Gestalt an. Sie sind aus diesem Grund die Ausformung der durch die
Verfassung gewährten Rechte der Allgemeinheit, das heißt der Nutzer urheberrechtlich geschützter Werke.240 Sieht man die Grundrechte als Rechtfertigung für das
Urheberrecht und seine Beschränkungen an, kann indes kein strenges Hierarchieverhältnis zwischen beiden begründet werden. Dem Vorstehenden entsprechend muss
festgehalten werden, dass die urheberrechtlichen Schranken – ein sie tragender Abwägungsvorgang vorausgesetzt –und die urheberrechtlichen Ausschließlichkeitsrechte gleichberechtigt nebeneinanderstehen.241
237 Vgl. im Einzelnen hierzu die Ausführungen im 1. Kapitel unter A) I., S. 23 ff. und C) III., S.
32 ff.
238 V. Diemar, in: GRUR 2002, S. 587; Reinbothe, in: FS für Robert Dittrich, S. 251, 254;
Schack, in: ZUM 2002, S. 497, 504.
239 Schack, in: ZUM 2002, S. 497, 504 unter Verweis auf: Wiechmann, in: ZUM 1989, S. 111,
118; vgl. auch: Hoeren, in: MMR 2000, S. 3, 4.
240 Geiger, in: Interessenausgleich im Urheberrecht, S. 143, 149 f.
241 Vgl. auch: Geiger, in: Interessenausgleich im Urheberrecht, S. 143, 148 f.
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II. Zur Terminologie: Schranken oder Ausnahmen
In der Literatur werden die Begriffe Schranken/Beschränkungen und Ausnahmen
der urheberrechtlichen Ausschließlichkeitsrechte oft nebeneinander in demselben
Zusammenhang verwendet. Ist es hingegen nicht vielmehr so, dass die Vorschriften
der §§ 44 a ff. UrhG entweder Ausnahmen oder Schranken des Urheberrechts sein
können? Oder ist eine Abgrenzung dieser Art nicht erforderlich? In der juristischen
Literatur sucht man zumeist vergeblich nach einer entsprechenden Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex. Vielmehr wird vorwiegend ohne nähere Begründung davon ausgegangen, sie wären Ausnahmen der urheberrechtlichen Ausschließlichkeitsrechte.242 Im internationalen und europäischen Urheberrecht werden beide
Begriffskomponenten ebenfalls meist in einem Kontext verwendet.243
Kröger warf in diesem Zusammenhang die interessante Frage auf, wann überhaupt Ausnahmen vorliegen würden, und traf im Übrigen die Aussage, dass mit einer entsprechenden Charakterisierung eine Vorentscheidung hinsichtlich der Voraussetzungen einer eventuell vorzunehmenden Auslegung getroffen werden könnte.244 Auch Canaris ging unter allgemeinen Gesichtspunkten bei seiner Untersuchung nach der juristischen Methodenlehre der Frage nach, wann von einer Ausnahme auszugehen sei, und kam letztlich zu dem wenig befriedigenden Ergebnis,
dass die Antwort nicht leicht zu finden sei.245 Die Formulierung der Rechtssätze im
Gesetz entscheide aber keinesfalls allein darüber. Um eine Ausnahme im normativen Sinne handele es sich vornehmlich dort, wo das Gesetz eine Regel, der es in
möglichst weitem Umfang Geltung zu verschaffen sucht, für besondere, eng umgrenzte Fälle eine allgemeine Grundentscheidung einer Rechtsordnung wieder selbst
durchbricht.246 Die Ausnahme von einer Regel wird somit teilweise als weitestgehende Beschränkung verstanden, da sie vorsieht, eine Regel in einem bestimmten
Fall nicht mehr anzuwenden.247 Das Regel-Ausnahmeverhältnis birgt daher stets eine hierarchische Abstufung in sich. Die Beschränkung führe dagegen zu der Einschränkung eines Rechts, ohne es seines Inhaltes vollständig zu entledigen.
Die Vorschriften der §§ 44 a ff. UrhG lassen aufgrund ihrer Systematik im UrhG
zunächst an solche besonderen Fälle denken, in denen der Gesetzgeber die Aus-
242 Dreier, in: ZUM 2002, S. 28, 33; Melichar, in: Schricker, UrhR, Vor §§ 45 ff., Rn. 15; Neumann, Urheberrecht und Schulgebrauch, S. 43 ff.; Nordemann, in: Fromm/Nordemann, UrhR,
vor §§ 45, Rn. 3; Poeppel, Die Neuordnung der urheberrechtlichen Schranken, S. 41 ff.; vgl.
auch Flechsig – im Zusammenhang mit der Anwendung der Harmonisierungsrichtlinie, in:
ZUM 2002, S. 1, 8.
243 Vgl. beispielsweise Art. 10 WCT, Art. 16 WPPT; Art. 5 Harmonisierungsrichtlinie.
244 Kröger, in: MMR 2002, S. 18, 20.
245 Canaris, in: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 175.
246 Canaris, in: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 176; ders., Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 181, Fn. 35.
247 Zum Folgenden: Reinbothe, in: FS für Robert Dittrich, S. 251, 253.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In Bildung und Wissenschaft ist der Einsatz vielfältiger Medien, insbesondere auch unter Rückgriff auf modernste Techniken, unentbehrlich. In diesen Bereichen treffen die widerstreitenden Interessen von Nutzern und Rechteinhabern vor allem unter fiskalischen Gesichtspunkten in sensiblem Maße aufeinander. Dem Gesetzgeber obliegt es, mittels der urheberrechtlichen Schranken zwischen ihnen eine ausgewogene Balance zu schaffen. Die Autorin zeigt auf der Basis einer eingehenden Interessenanalyse unter Berücksichtigung von Rechtsprechung und Literatur die geltende Rechtslage auf, würdigt sie kritisch und entwickelt Reformansätze, besonders auch im Hinblick auf das urheberrechtliche Öffentlichkeitsverständnis.