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C) Dreistufentest
I. Bedeutung des Dreistufentests
Betrachtet man den mittlerweile weitreichenden internationalen und europäischen
Einzugsbereich des Dreistufentests185, wird in diesem Zusammenhang wohl zu
Recht von einem „beispiellosen Siegeszug“186 oder der „Karriere eines Begriffs“187
gesprochen. Der Dreistufentest blieb in seinem Anwendungsbereich jedoch im Laufe der Zeit keine statische Konstante. In der RBÜ war der Anwendungsbereich des
Dreistufentests noch auf das Vervielfältigungsrecht begrenzt und nahm vorerst gar
die ausdrücklich in der RBÜ geregelten Schranken aus. In seinen späteren Erscheinungsformen wurde der Dreistufentest dann horizontal auf alle Verwertungsrechte
erstreckt und stellt nunmehr eine für alle Verwertungsrechte geltende Schranken-
Schranke dar.188
Das Grundgerüst der maßgeblichen drei Stufen ist indessen bis in die Harmonisierungsrichtlinie hinein weitgehend gleich geblieben. Der nationale Gesetzgeber unterliegt dabei zum einen der Grenze, dass er Ausnahmen und Beschränkungen nur in
gewissen bzw. bestimmten Sonderfällen schaffen kann (1. Stufe). Zum Zweiten ist
zu prüfen, dass die normale Verwertung des Werkes oder des sonstigen Schutzgegenstandes im Rahmen der freigestellten Nutzung nicht beeinträchtigt wird (2. Stufe). Letztlich dürfen die berechtigten Interessen der Rechteinhaber nicht ungebührlich verletzt werden (3. Stufe). Die allgemeine generalisierende Formulierung der
drei Stufen lässt einerseits ausreichend Raum für interessengerechte und traditionstreue Lösungen. Andererseits führt sie aber auch dazu, dass es schwer sein wird, die
zulässigen Grenzen tatsächlich zu finden. Die naturgemäß mit allgemein gehaltenen
Formulierungen verbundenen Auslegungsschwierigkeiten bereiten möglicherweise
größere Schwierigkeiten.189 Es ist daher notwendig, den Dreistufentest „mit Inhalt
zu füllen“ und die einzelnen Stufen voneinander abzugrenzen, um die Vorgaben entsprechend umzusetzen und das gesetzgeberische Ergebnis auch einer Überprüfung
185 Vgl. Art. 9 Abs.2 RBÜ, Art. 13 TRIPs, Art. 10 WCT, Art. 16 Abs.2 WPPT; Art. 5 Abs. 5
Harmonisierungsrichtlinie.
186 Senftleben, in: Interessenausgleich im Urheberrecht, S. 159, 171.
187 Bornkamm, in: FS für Willi Erdmann, S. 29 ff.
188 Vgl. dazu: Bornkamm, in: FS für Willi Erdmann, S. 29, 44, der insbesondere den Einwand,
dass auch die Schranken-Schranke in Art. 5 Abs. 5 der Harmonisierungsrichtlinie nur für die
ausdrücklich geregelten Schrankenregelungen Anwendung findet, aus dem überzeugenden
Grund zurückweist, dass diese Einschränkung nicht Einzug in den Wortlaut gefunden hat und
die Regelung insbesondere auch nicht als überflüssig erachtet werden kann. Die Gegenauffassung, dass die Schranken-Schranke unnötig wäre, weil die detaillierten Schrankenbestimmungen in Art. 5 Abs. 1 bis 4 der Harmonisierungsrichtlinie die Belange der Urheber bereits
ausführlich berücksichtigen würden, so dass eine ausdrückliche Schranken-Schranke nicht
mehr erforderlich gewesen sei, überzeugt nicht. So aber z.B. Bayreuther, in: ZUM 2001, S.
828, 829.
189 Vgl. Walter, Europäisches Urheberrecht, Info-RL, Rn. 97.
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unterziehen zu können.190 Bereits an dieser Stelle bleibt festzustellen, dass der Dreistufentest jedoch keinesfalls einseitig zugunsten der Rechteinhaber aufgefasst werden sollte. Insoweit besteht die Gefahr, dass die Regelungsbereiche der Schrankenbestimmungen derart verkürzt werden, dass ihnen die Möglichkeit genommen wird,
ihren Beitrag zur Förderung der Werkschöpfung zu leisten.191 Die Schaffung eines
Gleichgewichts zwischen den verschiedenen Interessenkreisen, geleitet von dem Bestreben einer bestmöglichen Förderung der schöpferisch-geistigen Tätigkeiten, sollte
bei der Suche nach dem Regelungsgehalt des Dreistufenstests den Leitfaden bilden.
II. Zu den einzelnen drei Stufen
1. Bestimmte / Gewisse Sonderfälle
a) Eigenständige Bedeutung
In der frühen Literatur zum Dreistufentest nach dessen Einführung bei der Stockholmer Revision der RBÜ 1967 ist zum Teil die erste Stufe als untergeordnet zu den
anderen beiden Teststufen nur beiläufig erwähnt oder gar ganz übergangen worden.192 Mittlerweile ist jedoch weitgehend anerkannt, dass die erste Teststufe im
Vergleich zu den anderen beiden Stufen keine untergeordnete Rolle spielt, sondern
selbstständig kumulativ zu diesen das dritte Prüfungskriterium im klassischen Dreistufentest darstellt.193
Etwas anderes wird jedoch teilweise im Hinblick auf das Merkmal der bestimmten Sonderfälle im Rahmen der Harmonisierungsrichtlinie vertreten. Der ersten Stufe käme hierbei keine Bedeutung zu, so dass sogar von einem „Zweistufentest“ gesprochen wird.194 Als Grund wird dabei angeführt, dass in Art. 5 Abs. 5 der Harmonisierungsrichtlinie eine doppelte Beschränkung auf bestimmte Sonderfälle enthalten ist. Anders als dem typischen Dreistufentest immanent, der generell die Beschränkungen und Ausnahmen von ausschließlichen Rechten auf bestimmte Sonderfälle beschränkt, schränke Art. 5 Abs. 5 der Harmonisierungsrichtlinie darüber hinaus die Anwendung jeder einzelnen, schon als solche auf bestimmte Fälle beschränkten Schrankenbestimmungen der Art. 5 Abs. 1 bis 4 nochmals auf bestimmte
190 Bornkamm, in: FS für Willi Erdmann, S. 29, 45.
191 Senftleben, in: Interessenausgleich im Urheberrecht, S. 159, 185.
192 Ausführlich dazu: Bornkamm, in: FS für Willi Erdmann, S. 29, 33.
193 Frotz, in: FS 50 Jahre Urheberrechtsgesetz, S. 119, 122 ff.; Maus, Die digitale Kopie, S. 132
(Fn. 65); Neumann, Urheberrecht und Schulgebrauch, S. 142; Senftleben, in: GRUR 2004, S.
200, 206.
194 Dreier, in: ZUM 2002, S. 28, 35; Findeisen, Die Auslegung urheberrechtlicher Schrankenbestimmungen, S. 166; Poeppel, Die Neuordnung der urheberrechtlichen Schranken, S. 129 f.
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References
Zusammenfassung
In Bildung und Wissenschaft ist der Einsatz vielfältiger Medien, insbesondere auch unter Rückgriff auf modernste Techniken, unentbehrlich. In diesen Bereichen treffen die widerstreitenden Interessen von Nutzern und Rechteinhabern vor allem unter fiskalischen Gesichtspunkten in sensiblem Maße aufeinander. Dem Gesetzgeber obliegt es, mittels der urheberrechtlichen Schranken zwischen ihnen eine ausgewogene Balance zu schaffen. Die Autorin zeigt auf der Basis einer eingehenden Interessenanalyse unter Berücksichtigung von Rechtsprechung und Literatur die geltende Rechtslage auf, würdigt sie kritisch und entwickelt Reformansätze, besonders auch im Hinblick auf das urheberrechtliche Öffentlichkeitsverständnis.