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Diese Harmonisierungsrichtlinie wird zum Teil als Meilenstein für die horizontale
Gestaltung eines europäischen Urheberrechts angesehen.165 Sie gehöre mit ihrer horizontalen Ausprägung einer neuen Generation von Harmonisierungsrichtlinien an
und dürfe in ihrer Bedeutung und Qualität keinesfalls unterschätzt werden.166 Die
Anerkennung dieser gesetzgeberischen Leistung auf europäischer Ebene geht dabei
sehr weit. Aber Es erklingen in diesem Zusammenhang jedoch nicht nur Lobeshymnen. Teilweise findet sich Kritik darüber, dass in einem nicht unerheblichen Ausmaß
die tatsächliche Harmonisierungskraft zu vermissen sei.167
Beizupflichten ist an dieser Stelle Reinbothe, wenn er hervorhebt, dass die Harmonisierungsrichtlinie den vielseitig betroffenen Interessenkreisen angemessen
Rechnung trägt und sie einen größtmöglichen Grad an Ausgeglichenheit aufweist.168
Das Schaffen einer für alle Betroffenen zu akzeptierenden Brücke, stets das Ziel der
Harmonisierung nicht aus den Augen verlierend, ist bei derart stark widerstreitenden
Interessengruppen und der zum Teil sehr verschiedenen Traditionen in den Mitgliedstaaten eine Aufgabe, die Kompromisse von allen Seiten unerlässlich werden
lässt. Die Harmonisierungsrichtlinie ist ein, nicht nur schweren Herzens, zu akzeptierender politischer Kompromiss, der bei gleicher technischer und politischer Ausgangslage hätte kaum besser sein können, wie die nachfolgenden Darstellungen zeigen werden.
II. Grundriss des Regelungsgehaltes der Harmonisierungsrichtlinie
Es werden im Wesentlichen vier Schwerpunktbereiche geregelt. Im Einzelnen sind
dies die Harmonisierung des Vervielfältigungsrechts und seiner Schranken, das
Recht der öffentlichen Wiedergabe einschließlich der Zugänglichmachung online
und der dazugehörigen Schranken, das Verbreitungsrecht mit seiner Erschöpfung
und der flankierende Rechtsschutz in Bezug auf technische Schutz- und Identifizierungsmaßnahmen.169 Die grundlegende Bestimmung der Verwertungsrechte der Urheber und der Inhaber verwandter Schutzrechte basiert dabei vor allem auf den Be-
„Urheberrechtsrichtlinie“. Die letzte Bezeichnung zeigt, welche Bedeutung dieser Richtlinie
teilweise beigemessen wird. Reinbothe spricht in diesem Zusammenhang von dem „(…) wohl
wichtigsten Stück Gesetzgebung auf diesem Gebiet in der Europäischen Gemeinschaft.“, in:
ZUM 2002, S. 43, 44.
165 Flechsig, in: ZUM 2002, S. 1; Zu den Begriffen der horizontalen bzw. vertikalen Harmonisierung vgl. die Darstellung von Walter, Europäisches Urheberrecht, Stand der Harmonisierung,
Rn. 3.
166 Reinbothe, in: ZUM 2002, S. 43, 44.
167 Bayreuther, in: ZUM 2001, S. 828, 829. Diese Kritik leitet sich daraus ab, dass den Mitgliedstaaten ein zu weiter Spielraum gesetzt würde, die Vorgaben der Harmonisierungsrichtlinie
umzusetzen. Vgl. dazu im Einzelnen die Ausführungen unter III, S. 54 ff.
168 Reinbothe, in: ZUM 2002, S. 43, 45.
169 Kröger, Informationsfreiheit und Urheberrecht, S. 50.
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stimmungen der beiden WIPO-Verträge, deren internationalen Verpflichtungen mittels der Harmonisierungsrichtlinie nachgekommen werden sollte.170
Essenzielle Bedeutung kommt der Harmonisierungsrichtlinie bereits allein durch
die in Art. 5 angestrebte Angleichung der Beschränkungen von den Ausschließlichkeitsrechten zu, die zum Teil als wichtigste Vorschrift des gesamten Textes angesehen wird.171 Die Schrankenregelungen waren auch der Mittelpunkt der Streitigkeiten
und der unzähligen Änderungen des Richtlinienentwurfs, die dem endgültigen Erlass
der Harmonisierungsrichtlinie vorgeschaltet waren. An den Schrankenbestimmungen drohte zunächst sogar eine politische Einigung im Rat zu scheitern.172 Die bis
dato in den Mitgliedstaaten geltenden Beschränkungen wiesen erhebliche Unterschiede auf. Hoeren bezeichnet die vielfältigen Schrankenbestimmungen als „sakrosankte Orte nationaler Heiligtümer“.173 Diese Wortwahl soll die Ausgangslage einer
scheinbar unmöglichen Harmonisierung der Schrankenbestimmungen zum Zeitpunkt der Verhandlungen über den Inhalt der Harmonisierungsrichtlinie verdeutlichen. In den vorangegangenen Jahrzehnten sind sämtliche Versuche der Kommission mit dem Ziel einer Harmonisierung kläglich gescheitert.174 Vor dem Hintergrund
des jahrelangen Tauziehens um eine Harmonisierung des Urheberrechts ist es umso
erfreulicher, dass sich die Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission in dieser Form einigen konnten.
III. Die Vorgaben für die nationalen Schrankenregelungen im Einzelnen
1. Schrankensystematik
In Art. 5 Abs. 1 bis 3 der Harmonierungsrichtlinie finden sich insgesamt einundzwanzig Schrankentatbestände von den in Art. 2 bis 4 aufgezählten ausschließlichen
Rechten.175 Obwohl die neuen Verwertungstechnologien den eigentlichen Antrieb
170 Erwägungsgrund Nr. 15 der Harmonisierungsrichtlinie.
171 Cohen Jehoram, in: GRUR 2001, S. 807, 809.
172 Vgl. Bayreuther, in: ZUM 2001, S. 828, 829. Umso mehr verwundert es, dass teilweise in der
Literatur vertreten wird, dass die Vorgaben der Schrankenregelungen an die Mitgliedstaaten
in den Schatten des „wirklichen Mehrwerts“ der Harmonisierungsrichtlinie, der Rechte in
Art. 2, 3 und 4 und des Schutzes für technologische Maßnahmen gemäß Art. 6, treten und nur
„notwendiger Teil“ der Harmonisierung der genannten Rechte seien, Reinbothe, in: ZUM
2002, S. 43, 46 (Fn. 17). Die unterschiedlichen nationalen Beschränkungen haben unmittelbare negative Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarktes im Bereich des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte. Die Harmonisierung dieser Unterschiede ist
demzufolge ein elementares Bedürfnis im Rahmen des Harmonisierungszieles.
173 Hoeren, in: MMR 2000, S. 515, 516.
174 Vgl. Hoeren, in: MMR 2000, S. 515, 516.
175 Die erhebliche Anzahl der aufgenommenen Schrankenbestimmungen spiegelt einmal mehr
„die deutlichen Spuren eines mühevoll errungenen Kompromisses“ wider, die die Harmonisierungsrichtlinie von dem harten Entscheidungsprozess davon getragen hat. Vgl. Bayreuther,
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References
Zusammenfassung
In Bildung und Wissenschaft ist der Einsatz vielfältiger Medien, insbesondere auch unter Rückgriff auf modernste Techniken, unentbehrlich. In diesen Bereichen treffen die widerstreitenden Interessen von Nutzern und Rechteinhabern vor allem unter fiskalischen Gesichtspunkten in sensiblem Maße aufeinander. Dem Gesetzgeber obliegt es, mittels der urheberrechtlichen Schranken zwischen ihnen eine ausgewogene Balance zu schaffen. Die Autorin zeigt auf der Basis einer eingehenden Interessenanalyse unter Berücksichtigung von Rechtsprechung und Literatur die geltende Rechtslage auf, würdigt sie kritisch und entwickelt Reformansätze, besonders auch im Hinblick auf das urheberrechtliche Öffentlichkeitsverständnis.