17
Einführung
A) Problemdarstellung
Bildung ist seit jeher von Medien unterstützt, aufrechterhalten, vertieft, aber auch
verändert worden. Dabei ist klassisch an den Einsatz von Büchern, Texten, Bildern
oder auch Musik- und Filmwiedergaben zu denken. Die in den letzten Jahrzehnten
hervorgebrachten wesentlichen Vereinfachungen im Hinblick auf den Einsatz dieser
Medien in den Bildungseinrichtungen durch die technische Entwicklung erhöhen die
Gefahr, dass die Nutzungen unter ideeller und finanzieller Umgehung der Urheber
der in den Medien verkörperten Werke erfolgen.
Beispielsweise war Anfang des letzten Jahrzehnts das Aufstellen von für jedermann zugänglichen klassischen Kopiergeräten in den Bildungseinrichtungen im Gegensatz zur heutigen Zeit noch keine Selbstverständlichkeit. Das Kopierverhalten
der Nutzer hat sich im Laufe der Zeit an diesen Luxus angepasst. Warum sollte man
ein urheberrechtlich geschütztes Werk kaufen oder die unter Umständen notwendige
Lizenz für die beabsichtigte Vervielfältigungshandlung erwerben, wenn es doch einfacher und kostengünstiger ist, das Werk oder Teile davon zu kopieren? Mit nicht
nennenswertem Zeit- und Arbeitsaufwand können ganze urheberrechtlich geschützte
Texte und Bilder in hoher Anzahl vervielfältigt werden. An dieser Stelle kann unterstellt werden, dass eine Einwirkung dieses ausufernden Kopierverhaltens auf den
Verwertungsmarkt eines Werkes den meisten Nutzern nicht bewusst ist und ein
Umdenken daher nicht ernsthaft zu erwarten ist. Ebenso sieht es mit den Wiedergabegeräten für audiovisuelle Medien aus. Fast jedem Lehrenden stehen derartige Geräte dauernd für den individuellen Gebrauch zur Verfügung. Gedanken an etwaige
Zulässigkeitsgrenzen einer entsprechenden Nutzungshandlung werden in diesem
Zusammenhang nicht oft zu verzeichnen sein.
In den letzten Jahren entwickelte sich die Informationstechnologie erheblich weiter und eröffnet mit energischen Schritten immer mehr Möglichkeiten, auf die Verwertungsmärkte der betreffenden Werke einzuwirken. Mit der Entwicklung neuer
technischer Vervielfältigungsmöglichkeiten erweitern sich auch die Problemkreise
an dem Schneidepunkt zum Urheberrecht erheblich. Netzgestützte Werkwiedergaben oder Vervielfältigungsmöglichkeiten bringen eine völlig neue Quantität und
Qualität im Rahmen der Werkverwertung mit sich. Die altbekannten Unterrichtsmaterialien, die bereits ein nicht unerhebliches Problempotenzial beinhalten, sind in
einer modernen Informationsgesellschaft nicht ausreichend, um eine zeitgemäße
Bildung zu gewährleisten.
18
Es ist notwendig, in diesen Bereichen moderne Informationsquellen wie das
Internet oder auch andere moderne Informationsträger einzusetzen. Für zeitgemäße
Bildung und Wissenschaft erscheint der Einsatz neuer Medien geradezu unentbehrlich. Seit dem Jahr 2001 ist diesem Verlangen entsprechend jede Schule in Deutschland online.1 Mit dem Programm „Neue Medien in der Bildung“ wurden die Voraussetzungen geschaffen, um Deutschland bei der Bildungssoftware in eine international führende Position zu bringen. Bildung ist die Basis einer Innovations- und
Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Die Bundesregierung hat daher in ihrem Aktionsprogramm „Informationsgesellschaft Deutschland 2006“ unter anderem als
übergeordnetes strategisches Ziel gesetzt, „die Informationsversorgung als Bestandteil unseres nationalen Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungssystems im Rahmen des Ausbaus der Wissensgesellschaft zu optimieren“.2 Notwendig seien dafür
auch der Einsatz und die Verbreitung digitaler Lehr- und Lernsoftware in Schule,
beruflicher Bildung und Hochschule.3 Über diese spezifische Lehr- und Lernsoftware hinaus sind aber zweifellos auch weitere Inhalte von großem Interesse für die
vorgenannten Einrichtungen.
Der Einsatz der neuen Medien birgt neuen Konfliktstoff für Urheber bzw. derivative Rechteinhaber sowie die Nutzenden. Das Zusammentreffen elektronischer Medien mit deren neuen Ausdrucksformen und Wirkungsweisen und der Ansprüche an
eine zeitgemäße Bildung und Wissenschaft lässt die Probleme teilweise gar von
existenzieller Relevanz für die Rechteinhaber werden. Allein die mit den neuen Medien verbundene Vereinfachung der Wiedergabe- und Vervielfältigungsmöglichkeiten von Werken kann erhebliche Störungen des Verwertungsmarktes herbeiführen.
Im Nutzungsbereich von Bildung und Wissenschaft würde aber die konsequente
Umsetzung des Grundsatzes vom vorherigen individuellen Rechteerwerb teilweise
zu nicht annehmbaren Ergebnissen führen. Neue geistig-schöpferische Tätigkeiten
würden in ihrem Entstehen unter Umständen unangemessen gehemmt werden. In
den Sektoren Bildung und Wissenschaft ist die Nutzung von urheberrechtlich geschützten Werken so wichtig wie „das täglich Brot“. Schriftwerke, Computerprogramme, Werke der bildenden Kunst, Fotografien oder Filme vermitteln die Erkenntnisse in Literatur, Kunst, Naturwissenschaft und Technik. Eine Gesellschaft
kann nur bestehen und sich fortentwickeln, wenn der Zugang zu dem Wissen in allen Bereichen gesichert ist und somit das „kreative Wechselspiel des Gebrauchs von
eigenem und fremdem Wissen“ gefördert wird.4 Dem Staat wäre es schlichtweg unmöglich, seinen Bildungsauftrag zu erfüllen, wenn jeder Nutzung eines Werkes mit
urheberrechtlicher Relevanz der Erwerb einer individuellen Erlaubnis mit den ent-
1 Aktionsprogramm der Bundesregierung, Informationsgesellschaft Deutschland 2006, S. 17,
abrufbar unter: www.bmbf.de.
2 Aktionsprogramm der Bundesregierung, Informationsgesellschaft Deutschland 2006, S.45.
3 Aktionsprogramm der Bundesregierung, Informationsgesellschaft Deutschland 2006, S. 23.
4 Deutsche Initiative für Netzwerkinformation e.V., Stellungnahme vom 12.11.2004 zum Referentenentwurf für ein Zweites Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft vom 27.09.2004, S. 3 f., abrufbar unter: www.dini.de.
19
sprechenden Verhandlungen vorgeschaltet wäre. Der Urheberrechtsschutz darf aber
erst dort seine Grenze finden, wo überwiegende Interessen der Allgemeinheit an einem erlaubnisfreien Zugang zu urheberrechtlich geschützten Werken zu verzeichnen
sind.
Letztlich darf bei dem Interessenausgleich auch die Gefahr der Aufspaltung der
Gesellschaft in Bevölkerungssegmente, denen ein reiches Angebot an Informationsund Lernmaterial zur Verfügung steht, und solchen, denen die finanziellen Mittel für
den notwendigen Erwerb von derartigen Produkten fehlen, nicht vergessen werden.5
Keinesfalls darf das Begehren, dieser Gefahr entgegenzuwirken, im Umkehrschluss
jedoch dazu führen, dass die (finanziellen) Bedürfnisse der Werkschaffenden derart
in den Hintergrund rücken, dass die Werknutzer sich der Rechte an den Werken
nicht mehr bewusst sind.
Der Aufbau eines sachgerechten Interessenausgleiches im Rahmen der Verwendung urheberrechtlich geschützter Werke in Bildung und Wissenschaft führt seit jeher zu lebhaften Diskussionen zwischen allen beteiligten Akteuren. So haben die
Urheber und weiteren Rechteinhaber ein ausgeprägtes Interesse an einer umfassenden Informationskontrolle, die Nutzenden hingegen an möglichst ungehinderten Zugangsmöglichkeiten zu urheberrechtlich geschützten Werken. An dieser Stelle soll
betont werden, dass nicht lediglich ein bipolarer Interessenkonflikt zwischen den
Kreativen und den Nutzern zu lösen ist. Vielmehr sind die zu berücksichtigenden
Interessen tripolarer Natur. Es müssen die Interessen der originären Rechteinhaber
(die Kreativen), jene der derivativen Rechteinhaber (die Verwerter) und die Interessen der Nutzenden Berücksichtigung finden.6 Die Verwerterinteressen sind nicht
zwingend deckungsgleich mit denen der Urheber. Auch diese sind bei der Lösungsfindung im Interessenkonflikt indes nicht außer Acht zu lassen. Die Verwerter sorgen dafür, dass die geschaffenen Werke für die Nutzung durch die Allgemeinheit
greifbar und nutzbar werden. Die Verwerter tragen dadurch insbesondere das wirtschaftliche Risiko, ein neues Werk der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Sie
haben ein erhebliches und auch berechtigtes Interesse daran, ihre getätigten Investitionen im Wege der Verwertung ihrer Exklusivrechte wieder einzuholen.7 Die Urheber sind auf die Investitionen der Verwerter angewiesen, da sie in den seltensten Fällen im Stande sein werden, die von ihnen geschaffenen Werke für die Allgemeinheit
selbst nutzbar zu machen.
5 Vgl. Senftleben, in: Interessenausgleich im Urheberrecht, S. 159, 166.
6 Hilty, in: GRUR 2005, S. 819, 820; ders., in: FS für Gerhard Schricker, S. 325 ff. Als „Neuankömmlinge im ‚Urheberrechtsklub’“ werden teilweise noch die Diensteanbieter als eine
neu betroffene Interessengruppe aufgenommen. Vgl. Reinbothe, in: ZUM 2002, S. 43, 45. Zu
der Interessenlage, siehe auch: Pahud, Die Sozialbindung des Urheberrechts, S. 30 ff.
7 Senftleben, in: Interessenausgleich im Urheberrecht, S. 159, 162.
20
Die rasante technische Entwicklung, die mit Sicherheit nicht ansatzweise ihre
Grenzen erreicht hat, zieht im Ergebnis unter juristischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten die erhöhte Gefahr nach sich, dass das Verhältnis zwischen den am
Urheberrechtssystem beteiligten Interessenkreisen aus dem Gleichgewicht gerät, sofern man von einem solchen überhaupt auszugehen vermag. Im Zusammenhang mit
der Untersuchung des Status quo des geltenden UrhG liest man teilweise, dass das
„Phänomen einer raschen Gleichgewichtsverschiebung“ zwischen Exklusivrechten
einerseits und Beschränkungen dieser Rechte andererseits zu beobachten sei.8 Mit
der Verbreitung der Digitaltechnik wäre dabei anfangs eine Verschiebung zugunsten
der Nutzer zu erkennen gewesen, da Vervielfältigungshandlungen einen immer geringeren Aufwand erforderten. Im Zuge der Reaktionen der Rechteinhaber wäre
nunmehr aber auch die Gefahr einer Umkehr des Gleichgewichtsverlustes festzustellen. In diesem Kontext sei insbesondere auf die Reichweite der technischen Schutzmaßnahmen, denen sich die Urheber der in den neuen Medien verkörperten Werke
bedienen können, verwiesen. Sie dürfe keinesfalls dazu führen, dass der entstehende
Schutz weiterführt, als die gesetzlichen Schrankenbestimmungen es zulassen. Mit
der vorliegenden Untersuchung soll das Augenmerk jedoch allein auf die Prüfung
eines tatsächlichen Gleichgewichts mittels der gesetzlichen Schranken gerichtet
werden.
Das von dem Urheber geschaffene Werk hat stets einen kulturell-gesellschaftlichen Bezug. Bereits im Jahre 1971 stellte das BVerfG dar, dass der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Urheberrechts vor einer zweifachen Aufgabe steht.
Zum einen hat er die „grundsätzliche Zuordnung des vermögenswirksamen Ergebnisses der schöpferischen Leistung an den Urheber“ sicherzustellen und zum anderen die soziale Bedeutung urheberrechtsgeschützter Werke für die Allgemeinheit zu
beachten.9 Es ist letztlich die Aufgabe des Gesetzgebers, eine ausgewogene Balance
zwischen allen zu schützenden Interessenkreisen zu finden. Die Kernfunktion des
UrhG ist es, optimale Rahmenbedingungen für geistig-schöpferische Leistungen zu
gewähren.10 Das heißt freilich auch, die freie geistige Auseinandersetzung und die
Verbreitung von Ideen in der Bevölkerung zu gewährleisten.11 Neben der regelmä-
ßig sicherzustellenden Vergütung der Urheber und der einzuräumenden Möglichkeit
von Exklusivrechten sind für die Schaffung optimaler Rahmenbedingungen des
geistig-schöpferischen Handelns auch diverse Beschränkungen der Rechte der Urheber bzw. der derivativen Rechteinhaber zugunsten der zu berücksichtigenden
Interessen der Allgemeinheit unerlässlich. Die Anforderungen an den Gesetzgeber,
einen sachgerechten Interessenausgleich zwischen den Beteiligten zu schaffen, sind
8 Senftleben, in: Interessenausgleich im Urheberrecht, S. 159, 170, m.w.N.; vgl. auch: Hilty, in:
GRUR Int. 2006, S. 179, 180.
9 BVerfG, Beschluss v. 07.07.1971 – 1 BvR 765/66, BVerfGE 31, S. 229, 241 f. – Kirchenund Schulgebrauch.
10 Vgl. Senftleben, in: Interessenausgleich im Urheberrecht, S. 159, 162.
11 Geiger, in: Interessenausgleich im Urheberrecht, S. 143, 145.
21
aufgrund der Modernisierungsakte in der Technik enorm hoch. Die ständig wachsenden technischen Möglichkeiten, die die Werknutzung stetig vereinfachen, verlangen eine fortwährende Anpassung des UrhG, damit es den konventions- und europarechtlichen sowie den verfassungsrechtlichen Vorgaben genügt. Die weitläufige
Medienwelt stellt den Gesetzgeber bei seiner Aufgabe der Ausgestaltung des UrhG
vor eine außerordentlich große Herausforderung. Es erscheint infolge der ständig
neuen technischen Entwicklungen sehr schwer, dem Konflikt zwischen den widerstreitenden Interessen dauerhaft Herr zu werden. Zu Recht spricht der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages anlässlich des Gesetzgebungsverfahrens zum
Zweiten Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft davon, dass das Urheberrecht eine „rechtspolitische Daueraufgabe“ ist.12
Unter der aktuellen Rechtslage sieht jede beteiligte Interessengruppe ihre Rechte
und Interessen nicht ausreichend berücksichtigt. So wird aus Sicht der Nutzer die
These vertreten, dass das geltende UrhG die Bildung und die Wissenschaft behindere.13 Die Göttinger Erklärung zum Urheberrecht vom 05.07.2004 verlangt unter diesem Vorzeichen eine Ausweitung der Nutzungsmöglichkeiten, wobei klargestellt
wird, dass die Forderung nach einem freien Zugang zu Information und Wissen
nicht auch Vergütungsfreiheit bedeuten muss.14 In weiterem Maße verlangt die Berliner Erklärung über den offenen Zugang von wissenschaftlichem Wissen vom
22.10.2003 einen freien Zugang zu wissenschaftlichen Werken.15 Die Lobbyisten
der Verwerter hingegen klagen über nicht hinnehmbare Reduktionen ihrer Primärmärkte infolge der geltenden urheberrechtlichen Schrankenbestimmungen.16 Aus
Urhebersicht wird sogar von einer „schleichenden Entrechtung des Urhebers“ gesprochen.17
B) Ziel der Untersuchung
Die nachfolgende Untersuchung soll insbesondere Aufschluss darüber geben, ob die
zwingend gebotene Balance zwischen den schützenswerten Bedürfnissen nach einem weitestgehenden Zugang in den Bereichen Bildung und Wissenschaft sowie
12 Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages, BT-Drs. 16/5939, S. 52.
13 Vgl. nur: Deutsche Initiative für Netzwerkinformation e.V., Stellungnahme vom 12.11.2004
zum Referentenentwurf für ein Zweites Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft vom 27.09.2004, S. 3, abrufbar unter: www.dini.de; Lutterbeck/Gehring,
Kritik aus der Sicht eines Hochschullehrers und Wissenschaftlers, S. 1 ff.
14 Die Göttinger Erklärung ist abrufbar unter: www.urheberrechtsbuendnis.de.
15 Die Berliner Erklärung ist abrufbar unter: www.zim.mpg.de.
16 Vgl. Statement des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels im Rahmen des Symposions
des BMJ in Zusammenarbeit mit dem Institut für Urheber- und Medienrecht am 16.09.2003
„Urheberrecht in der Informationsgesellschaft – Auftakt zum Zweiten Korb“, in: ZUM Sonderheft/2003, S. 1035 ff.
17 Russ, in: ZRP 2004, S. 247.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In Bildung und Wissenschaft ist der Einsatz vielfältiger Medien, insbesondere auch unter Rückgriff auf modernste Techniken, unentbehrlich. In diesen Bereichen treffen die widerstreitenden Interessen von Nutzern und Rechteinhabern vor allem unter fiskalischen Gesichtspunkten in sensiblem Maße aufeinander. Dem Gesetzgeber obliegt es, mittels der urheberrechtlichen Schranken zwischen ihnen eine ausgewogene Balance zu schaffen. Die Autorin zeigt auf der Basis einer eingehenden Interessenanalyse unter Berücksichtigung von Rechtsprechung und Literatur die geltende Rechtslage auf, würdigt sie kritisch und entwickelt Reformansätze, besonders auch im Hinblick auf das urheberrechtliche Öffentlichkeitsverständnis.