198
verstärkt wurde. Zum anderen könnte dadurch die Zahl der Insolvenzen erhöht
werden, die nicht mit der Liquidation sondern mit der Fortführung des Unternehmens enden.
Daher sprechen gute Gründe dafür, dass sich Insolvenzgerichte und Gläubiger
in Deutschland immer dann für die noch relativ junge und bislang selten eingesetzte Eigenverwaltung entscheiden, wenn die Fortführung bzw. die Sanierung
des Unternehmens noch als möglich erscheint. Diese Vorgehensweise würde
einen optimalen Mittelweg zwischen der Effektivität des deutschen Insolvenzrechts und der wirtschaftlichen Ausrichtung auf die Rettung der Unternehmen des
französischen Insolvenzrechts darstellen. Insbesondere um eine möglichst frühe
Verfahrenseröffnung zu erzielen993, ist dem Geschäftsführer regelmäßig anzuraten, frühzeitig einen Antrag auf Anordnung der Eigenverwaltung, gegebenenfalls
auch in Verbindung mit einem Sanierungsplan (sog. »prepackaged plan«),994 zu
stellen.
IX. Nutzbarmachung der partiellen Überlegenheit des französischen Rechts
für die Eigenverwaltung
Die Kompetenzabgrenzung zwischen dem Geschäftsführer und dem Verwalter im
französischen Recht kann insbesondere für die Kompetenzabgrenzung zwischen
Geschäftsführer und Sachwalter im Rahmen der Eigenverwaltung im deutschen
Recht nutzbar gemacht werden. Dies bietet sich an, da das französische Recht im
Rahmen der Verwaltungsform des Beistands, welche der deutschen Eigenverwaltung stark ähnelt, dem deutschen Recht partiell überlegen ist. Diese Überlegenheit ist darauf zurückzuführen, dass die französische Verwaltungsform des Beistands bereits seit 1985 besteht. Die Eigenverwaltung wurde indes erst im Jahre
1999 ins deutsche Recht eingeführt. Zudem kommt die französische Verwaltungsform des Beistands in Frankreich deutlich öfter zur Anwendung als die Eigenverwaltung in Deutschland. Aus dieser größeren Erfahrung des französischen
Rechts leitet sich deren partielle Überlegenheit in Bezug auf die Verwaltungsform
des Beistands ab. Im Folgenden sind daher die Ergebnisse des französischen
Rechts im Rahmen der Verwaltungsform des Beistands für die deutsche Eigenverwaltung als Leitbild bzw. zur Absicherung der deutschen Ergebnisse heranzuziehen.
So geht die überwiegende Ansicht im französischen Recht vom Nebeneinander
des Gesellschafts- und des Insolvenzrechts aus995 und bestätigt damit die für die
deutsche Eigenverwaltung gefundene Lösung.996
Des Weiteren wird im französischen Recht die originäre Verwaltungsmacht des
Geschäftsführers angenommen. Dies hat zur Folge, dass diesem eine Auffangzu-
993 § 18 InsO.
994 Vgl. 2. Kapitel § 3 I 1 d.
995 Vgl. 3. Kapitel § 1 I 1 c.
996 Vgl. 2. Kapitel § 1 III 2 b.
199
ständigkeit zukommt.997 Folglich bestätigt die französische Auffassung der originären Rechtsmacht des Geschäftsführers die entsprechende, für die deutsche
Eigenverwaltung getroffene Lösung.998
Die genannten Beispiele machen deutlich, dass es im Fall der Anwendung der
Eigenverwaltung im deutschen Recht hilfreich sein kann, in Bezug auf einzelne
Fragestellungen die entsprechende Lösung des französischen Insolvenzrechts
heranzuziehen. Aufgrund der großen Erfahrung des französischen Insolvenzrechts mit der Verwaltungsform des Bestands, finden sich in der französischen
Literatur und Rechtsprechung Lösungsmodelle, die für die deutsche Eigenverwaltung nutzbar gemacht werden können.
X. Der gewöhnliche Geschäftsbetrieb i. S. d. § 275 Abs. 1 Satz 1 InsO im
Licht der französischen Rechtsprechung zum gewöhnlichen Geschäft
(»acte de gestion courante«)
Gemäß § 275 Abs. 1 Satz 1 InsO soll der Geschäftsführer der schuldnerischen
GmbH im Rahmen der Eigenverwaltung Verbindlichkeiten, die nicht zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb gehören, nur mit Zustimmung des Sachwalters eingehen.999 Im Gegenschluss darf der Geschäftsführer Verbindlichkeiten, die zum
gewöhnlichen Geschäftsbetrieb gehören, mithin ohne Zustimmung des Sachwalters eingehen.
Die entsprechende Regelung zu § 275 InsO findet sich im französischen Recht
in Art. L 622-3 Abs. 2 Code de commerce wieder, die gemäß Art. L. 631-14
Abs. 1 Code de commerce auf das Sanierungsverfahren Anwendung findet.
Danach darf der Geschäftsführer der schuldnerischen SARL gewöhnliche
Geschäfte (»actes des gestion courante«) durchführen. Die Mitwirkung des Verwalters ist hierfür nicht erforderlich.1000 Das Erfordernis einer Verbindlichkeit,
die zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb gehört, ist mit dem Erfordernis eines
gewöhnlichen Geschäfts sinngemäß vergleichbar. Sinn und Zweck der Regelungen ist es, dem Geschäftsführer weiterhin die Durchführung des Tagesgeschäfts
zu überlassen. Beide Rechtsordnungen bedienen sich hierfür des auslegungsbedürftigen Begriffs des gewöhnlichen Geschäftsbetriebs bzw. Geschäfts. Daher
bietet es sich an, die von der französischen Rechtsprechung ermittelten Grundsätze zur Bestimmung eines gewöhnlichen Geschäfts auch für die Auslegung des
gewöhnlichen Geschäftsbetriebs i. S. v. § 275 Abs. 1 Satz 1 InsO nutzbar zu
machen.
Zur Prüfung, ob ein gewöhnliches Geschäft vorliegt, hat die französische
Rechtssprechung folgenden Prüfungskatalog entwickelt, der zur Auslegung des
§ 275 Abs. 1 Satz 1 InsO herangezogen werden kann:
997 Vgl. 3. Kapitel § 1 I 2.
998 Vgl. 2. Kapitel § 1 III 3 d iii.
999 Vgl. 2. Kapitel § 3 III 1.
1000 Vgl. 3. Kapitel § 3 III 3.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Deutschland und Frankreich stehen exemplarisch für eine bis heute sehr unterschiedliche Verfahrenspraxis im Insolvenzrecht. Ungleich gehandhabt wird insbesondere die Aufgabenverteilung zwischen Geschäftsführer und Insolvenzverwalter.
Die Aufgaben des Geschäftsführers einer GmbH bzw. einer Société à responsabilité limitée (SARL) richten sich grundsätzlich allein nach dem Gesellschaftsrecht. Dies ändert sich jedoch spätestens mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Dann findet das deutsche bzw. das im Jahre 2005 novellierte französische Insolvenzrecht auf den Geschäftsführer Anwendung und der Insolvenzverwalter bzw. Sachwalter tritt in das Leben der GmbH bzw. SARL ein. Auf dieser Schnittstelle von Insolvenz- und Gesellschaftsrecht kommt es damit sowohl im Regelinsolvenzverfahren bzw. in der Eigenverwaltung im deutschen Recht als auch im Erhaltungs- bzw. Sanierungsverfahren im französischen Recht zu einem Nebeneinander des gesellschaftsrechtlichen und des insolvenzrechtlichen Organs.
Dieses Nebeneinander macht eine Aufgabenverteilung notwendig, die jedoch in keinem der beiden Länder explizit geregelt ist. Auf Grundlage der dogmatischen Lösungsansätze werden die wesentlichen Aufgaben des Insolvenzverwalters und des Geschäftsführers einer GmbH bzw. SARL definiert und rechtsvergleichend untersucht.