204
ten Abschnitt dieses Kapitels. Gemeinsame und offene Informationssysteme (wie
das Joint Logistics Centre der UN) sowie Datenbanken (wie die Emergency Events
Database des CRED) als Grundlage für gemeinsame Planungen und Prognosen
werden in diesem Zusammenhang Voraussetzungen darstellen, die eine erfolgreiche
Umsetzung der Konzepte des SCM ermöglichen.
5.1.4 Material- und Informationsflüsse
Die Elemente, durch die sich Supply Chain Management charakterisieren lassen,
sind zum einen in der grundlegenden Problemstellung des Peitscheneffektes begründet. Zum anderen spiegelt sich aber auch die Weiterentwicklung des Supply Chain
Management zu einem wert- und institutionenorientierten Konzept in den charakteristischen Elementen wieder (vgl. vorangehende Abschnitte zur Entwicklung und
zum Begriff des Supply Chain Management).
Im Folgenden werden in Anlehnung an die Elemente der Begriffsdefinition „Logistik“ ebenfalls die charakteristischen Elemente des SCM skizziert. Da Supply Chain
Management die umfassendere Managementaufgabe darstellt, gelten die Erläuterungen zur Logistik in den Abschnitten 3.1.2 bis 3.1.5 in uneingeschränktem Maße;
nachfolgend werden Ergänzungen und besondere Schwerpunke des Supply Chain
Management charakterisiert. Folglich gelten auch die Erläuterungen zu den Material- und Informationsflüssen in der Logistik gleichermaßen für das Supply Chain
Management. Hierbei finden die Kundenorientierung sowie der Integrationsgedanke
im Supply Chain Management besondere Berücksichtigung. Diese werden in den
nachfolgenden Abschnitten besonders herausgestellt.
5.1.5 Kunden- und Zielorientierung
Die Erkenntnisse über den Bullwhip-Effekt haben dazu geführt, dass durch Supply
Chain Management eine Verstetigung des Materialflusses mit der Kundennachfrage
angestrebt wird. Damit wird die Kundenorientierung ebenso stark betont wie in
hohen Entwicklungsstufen des Logistikmanagements.
Das „Pull-Prinzip“ bringt zum Ausdruck, dass kein Unternehmen „stromaufwärts“
der Wertschöpfungskette Leistungen erbringen sollte, bevor sie ein nachfolgender
Akteur nachfragt. Indem der Kunden die Wertschöpfungskette „zieht“ und damit die
Leistungsproduktion über die einzelnen Stufen auslöst, erfolgt die Abstimmung des
Materialflusses. Bezogen auf die beiden Zielgrößen, die in frühen Arbeiten zum
205
Supply Chain Management im Vordergrund stehen – Bestandshöhe und Durchlaufzeiten – lassen sich so i. d. R. höhere Zielerreichungsgrade realisieren.528
Mit der wertorientierten Überlegung Christophers,529 dass nicht einzelne Unternehmen sondern ganze Wertschöpfungskette im Wettbewerb zueinander stehen, muss
die Zielsetzung des Supply Chain Management noch weiter gefasst werden. „The
objective of every supply chain is to maximize the overall value generated.”530 Aus
strategischer Sicht sind die Ziele einer gesamten Wertschöpfungskette auf das
Schaffen und Erhalten wettbewerbsfähiger Supply Chains ausgerichtet. Realisierbare Zielsysteme der Supply Chain lassen sich wie folgt formulieren:531
? Maximierung des Gewinns bzw. des Gesamtdeckungsbeitrags ? Minimierung der Gesamtkosten eines gegebenen Leistungsprogramms einer
Wertschöpfungskette bei Erfüllung der Sachziele.
Die Zielsetzung des Supply Chain Management ist demnach umfassender als die des
Logistikmanagements: Die Logistikkosten stellen nur einen Teil der Gesamtkosten
einer Supply Chain dar, und die Erfüllung des Logistikservice stellt nur einen Teilbereich der Sachziele einer Wertschöpfungskette dar (z. B. Erfüllung einer angestrebten Produktqualität).
Im Zusammenhang mit dem strategischen Dreieck können die grundlegenden Aussagen Porters zur „Wertkette“ in abgewandelter Form für das Katastrophenmanagement Anwendung finden:532 Akteure des Katastrophenmanagements erbringen primäre und unterstützende Aktivitäten und müssen untersuchen, ob die Aktivitäten
Werte für den Kunden generieren, sodass ein Wettbewerbsvorteil gegenüber den
direkten Konkurrenten vorliegt. Im Katastrophenmanagement richtet sich der Wertbegriff aber weniger auf Gewinn und Deckungsbeitrag sondern vielmehr auf die
Verhinderung, Verringerung und Begrenzung menschlicher, physischer, wirtschaftlicher und ökologischer Verluste, die im Zusammenhang mit Katastrophen (potenziell) erlitten werden.533 Abschnitt 5.1.1 enthält Erläuterungen, wie Überlegungen
zum Fremdbezug von Leistungen sukzessive zum Wettbewerb unternehmensübergreifender Supply Chains führen. Auch für das Katastrophenmanagement werden
528 Vgl. Chopra, Sunil / Meindl, Peter (2004), S. 14-17; Christopher, Martin (2005), S. 123-128;
Corsten, Daniel und Gabriel, Christoph (2004), S. 6-7, 16-17 und 24-28; Murphy, Paul R. /
Wood, Donald F. (2004), S. 40.
529 „…the goal is to link the marketplace, the distribution network, the manufacturing process
and the procurement activity in such a way that customers are serviced at higher levels and
yet at lower cost. Christopher, Martin (1995), S. 13.
530 “The value a supply chain generates is the difference between what the final product is worth
to the consumer and the effort the supply chain expends in filling the customer’s request.”
Murphy, Paul R. / Wood, Donald F. (2004), S. 6. Vgl. auch Simchi-Levi, David / Kaminsky,
Philip / Simchi-Levi, Edith (2003), S. 238-249.
531 Vgl. Staberhofer, Franz / Rohrhofer, Evelyn (2007), S. 39; Sucky, Eric (2004), S. 23.
532 Vgl. Erläuterungen zu den Ursprüngen des SCM und zur Wertkette nach Porter in Abschnitt
5.1.1.
533 Vgl. Abschnitt 2.2.
206
solche unternehmensübergreifenden Supply Chains mit strategischer Ausrichtung
gebildet, beispielsweise in Form von Kooperationen zwischen Logistikdienstleistern
und Hilfsorganisationen (Kooperation zwischen IFRC und DHL sowie zwischen
WFP und TNT)534. Auch wenn beteiligte Unternehmen der Privatwirtschaft – wie
DHL und TNT – voraussichtlich gewinnorientierte Zielsetzungen verfolgen, muss
die Supply Chain übergreifend auf das Katastrophenmanagement ausgerichtet
sein.535 Andernfalls besteht die Gefahr, dass Geldgeber finanzielle Mittel kürzen,
streichen oder in alternative Wertschöpfungsketten einbringen und die Wertschöpfungskette im Wettbewerb nicht bestehen kann: „Donors are becoming less tolerant
of obvious and expensive duplication of effort and are strongly encouraging aid
agencies to collaborate around the creation of common services.”536
Wahrgenommene
Leistungsfähigkeit
(Kosten-/
Nutzenprofil)
Kunden
(Spender /
Zuwendungsgeber)
Problemlösung der
eigenen Wertschöpfungskette
Wahrgenommene
Leistungsfähigkeit
(Kosten-/
Nutzenprofil)
Problemlösung der
stärksten alternativen
Wertschöpfungskette
Abbildung 57: Strategisches Dreieck einer Supply Chain537
534 Vgl. Erläuterungen zu den Akteuren im Katastrophenmanagement in Abschnitt 2.3.
535 Vgl. Chopra, Sunil / Meindl, Peter (2004), S. 44-49.
536 Thomas, Anisya / Kopczak, Laura (2005), S. 4.
537 Eigene Darstellung, in Anlehnung an Isermann, Heinz (2008), S. 876; Ohmae, Kenichi
(1982); Schulte, Christof (2005), S. 27.
207
5.1.6 Integration, Koordination und Managementaufgaben
Integration erfolgt im Supply Chain Management auf mehreren Ebenen. Über die
Integration der Material- und Informationsflüsse hinaus ist eine Integration durch
Koordination zwischen den beteiligten Wertschöpfungspartnern charakteristisches
Element und Ausdruck der Institutionenorientierung des SCM.
Die Integration der Materialflüsse basiert auf dem vorangehend erläuterten Pull-
Prinzip und damit durch die konsequente Ausrichtung der Materialflüsse auf die
jeweils nachfolgenden Wertschöpfungsstufen.
Da die Integration des Materialflusses über die gesamte Wertschöpfungskette i. d. R.
über eine zeitnahe Informationsbereitstellung der relevanten Nachfragedaten für die
vorgelagerten Akteure in der Wertschöpfungskette realisiert wird, ist eine Informationsintegration notwendige Voraussetzung für ein zielgerichtetes Supply Chain
Management.538 Eine Informationsintegration setzt sich aus mehreren Bestandteilen
zusammen, hierzu zählen unter anderem ERP-Systeme (Enterprise-Resource-
Planning), SCM-Software, Datenbanksysteme, Systeme für den elektronischen Geschäftsdatenaustausch, automatische Identifikationssysteme sowie Systeme zur
Gestaltung der Schnittstellen.539 An späterer Stelle erfolgt eine ausführliche Vorstellung der Informationssysteme im Supply Chain Management (vgl. hierzu Kapitel 6),
dabei findet die Eignung und Umsetzung der Systeme im Katastrophenmanagement
besondere Berücksichtigung.
„Koordination umfasst die zielgerichtete Abstimmung mehrerer Aktionen oder Entscheidungen verschiedener Akteure.“540 Beziehungen zwischen Akteuren und Institutionen werden auf der Koordinationsebene durch Regeln541 charakterisiert, die
soweit allgemeine Anerkennung erlangt haben, dass die Akteure wechselseitige
Verhaltenserwartung besitzen.542 Eine Integration auf der Koordinationsebene ist
notwendiger Bestandteil des unternehmensübergreifenden Supply Chain Management, denn “Supply chain management by definition is about the management of
relationships across complex networks of companies that, whilst legally independent, are in reality independent.”543 Die grundsätzlich selbständig agierenden Akteure
in einer Supply Chain müssen ihre Aktivitäten – unter Berücksichtigung der beschriebenen unternehmensübergreifenden Zielsetzungen – an den gemeinsamen
Zielen der Supply Chain ausrichten. Die unternehmensbezogenen Zielsetzungen
538 Vgl. Murphy, Paul R. / Wood, Donald F. (2004), S. 47, 49-50.
539 Vgl. z. B. Chopra, Sunil / Meindl, Peter (2004), S. 510-526; Corsten, Hans / Gössinger, Ralf
(2008), S. 160-181; Schulte, Christof (2005), S. 61-146 und 539.
540 Bölsche, Dorit (2001), S. 53. Vgl. auch weitere dort angegebene Literaturquellen zur Vielzahl
unterschiedlicher Definitionsansätze.
541 Auch Property Rights im Sinne von Eigentums- und Verfügungsrechten und -pflichten;
Murphy, Paul R. / Wood, Donald F. (2004) betonen die Bedeutung von „formal contracts“ (S.
47).
542 Vgl. Bölsche, Dorit (2001), S. 52; Erlei, Mathias / Leschke, Martin / Sauerland, Dirk (1999),
S. 520, Richter, Rudolf / Furubotn, Eirik G. (2003), S. 145.
543 Christopher, Martin (2005), S. 40.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Im internationalen Katastrophenmanagement werden täglich Entscheidungen mit Logistikbezug getroffen. Die Autorin skizziert die Vielfalt der Entscheidungen durch die folgende Fragestellung: Welche Beschaffungskonzepte, Standorte, Touren, Informationssysteme und Konzepte der Zusammenarbeit sollen im Rahmen der Katastrophenvorsorge und -bewältigung realisiert werden?
Da die Entscheidungen in hohem Maße Qualität und Kosten der Versorgung betroffener Menschen beeinflussen, sollten diese nicht alleine aus dem Erfahrungswissen heraus getroffen, sondern durch logistische Planungsmethoden unterstützt werden.
Anwendungsbezogen und verständlich wird in dem Buch der Einsatz geeigneter Methoden (z. B. Standortplanung, Netzplantechnik) am Beispiel realer Katastrophen vermittelt. Konzepte des SCM und aktuelle Informationssysteme werden mit ihren Potenzialen und Grenzen für das internationale Katastrophenmanagement vorgestellt und unter Einsatz geeigneter Entscheidungskriterien exemplarisch bewertet.