96
3.2.6 Material- und Informationsflüsse im Katastrophenmanagement
3.2.6.1 Logistikobjekte im Katastrophenmanagement
Die zielbezogen ausgerichteten „7r“ der logistischen Leistungserstellung im Katastrophenmanagement sprechen unter anderem „die richtigen Hilfsgüter und Dienstleistungen“ an (siehe Abschnitt 3.2.5.2). Die Güter, durch die die (potenziell) betroffene Bevölkerung eines Katastrophengebietes versorgt wird, bilden in der Wertschöpfungskette des Katastrophenmanagements die Logistikobjekte, an denen die
logistische Leistungserstellung vollzogen wird. Am Ende der Wertschöpfungskette
erreichen diese Objekte die höchste Veredelungsstufe, während das Logistikobjekt
der Lieferanten eine geringere Veredelung aufweist (z. B. Rohstoffe).
Wichtige Logistikobjekte des Katastrophenmanagements sind Hilfsgüter, die an die
betroffene Bevölkerung abgegeben werden. Dies sind – je nach Art der Katastrophe
und Rahmenbedingungen – z. B. Lebensmittel, Wasser, Medikamente und Impfstoffe, Kleidung, Zelte, Schlafstellen, Decken, sanitäre Güter, Mundschutz und Handschuhe sowie eigens auf den Katastrophenfall zusammengestellte Notfallpakete.284
Über diese an die Bevölkerung abgegebenen Hilfsgüter hinaus zählen zu den Logistikobjekten des Katastrophenmanagements auch Objekte, die zum Aufbau von
Kapazitäten – wie Camps und die logistische Infrastruktur – benötigt werden.285
Für die Einrichtung und Versorgung von Camps, in denen evakuierte, geflüchtete
oder obdachlose Menschen untergebracht werden, sind die oben angegebenen Hilfsgüter ebenfalls Gegenstand der logistischen Leistungserstellung. Zusätzlich ist für
eine Grundversorgung z. B. mit Strom, Wasser (ggf. durch Stromgeneratoren und
Wasseraufbereitungsanlagen), Anbindung an die Infrastruktur und Aufbau einer
medizinischen Grundversorgung zu sorgen. Logistikobjekte sind in diesem Fall die
Güter, die zum Aufbau dieser Grundversorgung erforderlich sind. Zum Aufbau einer
„Emergency Response Unit“ des Roten Kreuzes, durch die bis zu 20.000 Menschen
medizinisch betreut und mit Medikamenten, Impfstoffen, Ernährungsprogrammen
und Geburtshilfe versorgt werden können, müssen folgende Einheiten aufgebaut und
die dafür erforderlichen Logistikobjekte zusammengestellt werden: Registrierung,
Untersuchung, Behandlung, Labor, Apotheke, Beobachtung, Entbindung, Küche,
Wassertank, Toilette und Stromgenerator. Die Zeitdauer für den Transport der erforderlichen Logistikobjekte und die Inbetriebnahme beträgt etwa 36 Stunden. Das
„mobile Krankenhaus“ enthält zusätzlich zu den Bestandteilen der „Emergency
Response Unit“ die Bereiche Röntgen, Sterilisation, Verwaltung, zwei bis drei Operationssäle sowie voneinander getrennte Frauen-/ Kinderstation und Männerstation.
Mit einer Kapazität, die vergleichbar mit der eines deutschen Kreiskrankenhauses
284 Vgl. z. B. Fritz Institute (Hrsg.) (2006), S. 17; Pan American Health Organization / World
Health Organization (Hrsg.) (2001), S. 15-17, eine Kategorisierung der Hilfsgüter findet sich
z. B. auf S. 35-38.
285 Vgl. Pan American Health Organization / World Health Organization (Hrsg.) (2001), S. 17-
18.
97
ist, beträgt der Zeitbedarf für Transport und Zusammenstellung der Logistikobjekte
etwa 72 Stunden.286
Zum Aufbau der logistischen Infrastruktur des Katastrophenmanagements werden
ebenfalls Logistikobjekte benötigt. Zu unterscheiden ist zwischen der logistischen
Infrastruktur, die im Rahmen der Katastrophenvorsorge aufgebaut wird, und der
logistischen Infrastruktur, die in der Katastrophenbewältigung kurzfristig wiederhergestellt und mittel- bis langfristig ggf. auch verbessert wird. Im Rahmen der
Katastrophenvorsorge werden Logistikobjekte beispielsweise benötigt, um Lager in
potenziellen Katastrophengebieten aufzubauen, Hilfsgüter vorzuhalten und eine
Infrastruktur für die Transporte der Logistikobjekte über die unterschiedlichen Verkehrsträger zu ermöglichen. In der Katastrophenbewältigung werden Logistikobjekte benötigt, um eine zerstörte Infrastruktur wiederherzustellen, sodass eine Verteilung der benötigten Hilfsgüter in die betroffenen Regionen – gegebenenfalls auch
über alternative Verkehrsträger und Transportmittel – ermöglicht wird.287
Unter den skizzierten Logistikobjekten des Katastrophenmanagements können sich
Gefahrgüter befinden, so beispielsweise Kraftstoffe, Gas, medizinische und pharmazeutische Logistikobjekte. Diese Logistikobjekte stellen besondere Anforderungen an die logistische Leistungserstellung in Bezug auf Sicherheitsvorschriften und
Sicherheitsmaßnahmen.288
Auch Menschen (und in einigen Fällen Tiere) sind Logistikobjekte des Katastrophenmanagements. Die betroffenen Menschen sind Logistikobjekte, wenn sie beispielsweise im Rahmen einer Evakuierung zu befördern sind; zudem muss Personal
(sowohl als operativer als auch als dispositiver Faktor) in die Katastrophengebiete
transportiert werden.289
Durch die logistischen Kernleistungen werden insbesondere zeitliche und räumliche
Merkmalsausprägungen der Logistikobjekte verändert. Diese logistischen Kernleistungen sowie die ergänzenden Zusatz- und Informationsleistungen werden nachfolgend mit den besonderen Anforderungen des Katastrophenmanagements dargestellt.
Die Erläuterungen basieren auf den in Abschnitt 3.1.4 vermittelten Grundlagen zu
den Material- und Informationsflüssen in der Logistik.
286 Vgl. Deutsches Rotes Kreuz (Hrsg.) (2006), S. 8.
287 Vgl. Pan American Health Organization / World Health Organization (Hrsg.) (2001), S. 17-
18.
288 Vgl. Pan American Health Organization / World Health Organization (Hrsg.) (2001), S. 38-
41 mit einer Vorstellung der Gefahrgutklassen.
289 Vgl. Pan American Health Organization / World Health Organization (Hrsg.) (2001), S. 37.
98
3.2.6.2 Logistische Kernleistungen im Katastrophenmanagement
Logistikleistungen im Katastrophenmanagement verändern die räumlichen, raumzeitlichen und / oder sonstigen Merkmalsausprägungen der soeben dargestellten
Logistikobjekte des Katastrophenmanagements. Durch die logistische Kernleistung
Transport werden raum-zeitliche und durch die Lagerung ausschließlich zeitliche
Merkmalsausprägungen verändert.290
Transporte im Katastrophenmanagement vollziehen sich in einer mehrstufigen
Logistikkette, durch die die Logistikobjekte in das (potenzielle) Katastrophengebiet
transportiert werden und im Katastrophengebiet zu verteilen sind. Dabei kommen
unterschiedliche Verkehrsträger und Transportmittel zum Einsatz, insbesondere
Luftverkehr über Flugzeuge und Hubschrauber, Straßenverkehr über Fahrzeuge
(insbesondere LKW), Schienenverkehr über die Eisenbahn, Schiffsverkehr über
Seeschiffe, Binnenschiffe und kleine Boote, Transporte über sonstige Wege durch
Tiere und Menschen. Der Einsatz der jeweiligen Verkehrsträger setzt bestimmte
Rahmenbedingungen voraus; so können Flugzeuge und Seeschiffe nur unter der
Voraussetzung eingesetzt werden, dass in den entsprechenden Häfen eine Leistungsbereitschaft vorhanden ist. Transporte über Straßen- und Schienenverkehr
setzen voraus, dass die Transportwege über Straßen, Brücken und Schienen befahrbar sind. Im Falle einer Zerstörung der erforderlichen Infrastruktur müssen entweder
alternative Verkehrsträger bzw. Transportmittel eingesetzt werden oder alternative
Wege gewählt werden.291 „The requirement is to identify primary, secondary, and
alternate (road) combinations that will be utilized in the event of a disaster for the
purpose of evacuation or logistical support.”292
Für die Durchführung von Transporten, die der Katastrophenvorsorge dienen und
demnach i.d.R. nicht zeitkritisch sind, eignet sich die Auswahl kostengünstiger Verkehrsträger, wie das Seeschiff über große Transportentfernungen und das Binnenschiff sowie die Eisenbahn für den Transport großer Mengen im Binnenverkehr.
Transporte mit dem LKW sind erforderlich, wenn Anschlüsse an das Schienennetz
und Flüsse nicht vorhanden sind, und zusätzlich sinnvoll, wenn sie mit geringeren
Transportkosten verbunden sind. Tendenziell eignet sich der LKW-Transport für
kleinere Transportmengen, während Bahn und Schiff für größere Transportmengen
eingesetzt werden. Zusätzlich können sich vergleichsweise kostenintensive Transporte mit dem Flugzeug für geringvolumige und geringgewichtige aber hochwertige
Logistikobjekte eignen.293
290 Vgl. Abschnitt 3.1.4.
291 Eine ausführliche Charakterisierung der Verkehrsträger mit individuellen Vor- und Nachteilen enthält Pan American Health Organization / World Health Organization (Hrsg.) (2001), S.
111-112; Schulte, Christof (2005), S. 171-178; Vahrenkamp, Richard (2007), S. 250-327.
292 Henderson, James H. (2007), S. 60.
293 Vgl. auch Pan American Health Organization / World Health Organization (Hrsg.) (2001), S.
111-112.
99
Transporte in der Katastrophenbewältigung sind zeitkritisch, da die betroffene Bevölkerung zeitnah mit Hilfsgütern zu versorgen ist. Der Einsatz kostenintensiver
Transportmittel wie das Flugzeug für weite Transportentfernungen und den Hubschrauber für mittlere Transportentfernungen können dem Zielsystem der Logistik
im Katastrophenmanagement entsprechen, sofern die Hilfsgüter auf diese Weise die
betroffene Bevölkerungen schneller, zuverlässiger und / oder flexibler erreichen.
Den Rahmen für die Logistikkosten bildet das gegebene Logistikbudget. Beispielsweise wurden im Chad und in Darfur durch WFP (Word Food Programme) über
mehrere Monate zwei Flugzeuge regelmäßig eingesetzt, um das im Katastrophenmanagement tätige Personal innerhalb einer kurzen Zeitdauer in die betroffenen
Gebiete zu befördern. Die Transportzeit ließ sich so auf einer Entfernung von 950
km von ursprünglich 2 Tagen auf 2 Stunden reduzieren.294 Der Einsatz von Tieren
(insbesondere Esel), Menschen und kleinen Booten (auch Schlauchboote) als Transportmittel erfolgt über kurze Transportdistanzen in Gebiete, die über andere Verkehrsträger nicht erreichbar sind. Die Auswahl dieser ungewöhnlichen Transportmittel ist dann erforderlich, wenn die logistische Infrastruktur für den Einsatz anderer Transportmittel entweder bereits vor dem auslösenden Ereignis der Katastrophe
nicht vorhanden war oder durch das Ereignis zerstört und (noch) nicht wiederhergestellt werden konnte.295
Für die Planung und Gestaltung der Touren im Katastrophenmanagement wird in
Kapitel 4 mit dem Savings-Verfahren eine Methode der Tourenplanung vorgestellt,
die sich für unterschiedliche Verkehrsträger und Transportmittel zeitnah umsetzen
lässt. Insbesondere für die in der Katastrophenbewältigung häufig eingesetzten
Transportmittel Hubschrauber, LKW, Menschen und Tiere sowie Boote kann das
Savingsverfahren als heuristisches Verfahren eine für das Katastrophenmanagement
geeignete Methode darstellen. Informationen über zerstörte bzw. nicht passierbare
Transportrelationen lassen sich flexibel in die Berechnungen einbinden.
Weitere wichtige Entscheidungen zur logistischen Kernleistung des Transports
betreffen Entscheidungen über Eigenerstellung und Fremdbezug der Transportleistungen. Im Rahmen des logistischen Zielsystems und der daraus abgeleiteten Entscheidungskriterien ist eine Entscheidung zu treffen, ob Transporte selbst erstellt
oder durch Logistikdienstleister durchgeführt und ggf. auch geplant werden. Diese
Fragestellung betrifft im Falle einer Entscheidung für den Fremdbezug die unternehmensübergreifende Logistikkette, sodass eine ausführliche Analyse im Rahmen
des Supply Chain Managements in Kapitel 5 erfolgt.
Lagerleistungen sind im Katastrophenmanagement darauf gerichtet, Hilfsgüter und
weitere erforderliche Logistikobjekte für potenzielle Katastrophenfälle vorzuhalten
294 Das Beispiel betrifft die Jahre 2004/05. Vgl. Thomas, Anisya / Mizushima, Mitsuku (2005),
S. 61.
295 Vgl. Auch Pan American Health Organization / World Health Organization (Hrsg.) (2001), S.
111-112.
100
und in einem Katastrophenfall zwischenzulagern.296 Wichtige Grundlageninformationen zur Lagerung von Hilfsgütern hat die Pan American Health Organization gemeinsam mit der World Health Organization zusammengestellt. Aus Tabellen lässt
sich beispielsweise die erforderliche Lagerkapazität für Hilfsgüter (z. B. 4-5 Kubikmeter für 25 Familienzelte) entnehmen. Ebenso wird angegeben, unter welchen
Lagerbedingungen die einzelnen Hilfsgüter zu lagern sind (z. B. Anforderungen an
die Luftfeuchtigkeit, Temperatur, Verpackung, Trennung von anderen Lagerobjekten).297
Das Lager erfüllt
? eine Sicherungsfunktion (z. B. zur Sicherung der Lieferfähigkeit im Fall eines
Ereignisses, das eine Katastrophe auslöst), ? eine Ausgleichsfunktion bezogen auf Zeit und / oder Menge, ? eine Sortierungsfunktion (z. B. Zusammenstellung / Kommissionierung von
Hilfslieferungen im Lager) sowie eine ? Spekulationsfunktion (z. B. bei befürchteten Verknappungen oder Preissteigerungen).298
Im Rahmen der Katastrophenvorsorge sorgen international ausgerichtete Hilfsorganisationen bereits vor einem Katastrophenfall für die Vorhaltung wichtiger Hilfsgüter. So unterhält das IFRC Zentralläger unter der Bezeichnung „Regional Logistics
Units“ in Panama, Kuala Lumpur und Dubai sowie auf einer weiteren Distributionsstufe eine Vielzahl an Regionallägern.299 Vergleichbar hält World Vision Hilfsgüter
in Zentrallägern in Denver, Hannover, Brindisi und Dubai vor. Für den Fall, dass
diese vorgehaltenen Bestände für die Versorgung der betroffenen Bevölkerung nicht
ausreichen, werden bereits im Rahmen der Katastrophenvorsorge Verträge mit Lieferanten und Logistikdienstleistern über die Vorhaltung von Hilfsgütern vereinbart.
Im Fall von World Vision stehen so zusätzliche Bestände unter anderem in Kenia,
Kanada, Indien, Thailand und Australien zur Verfügung, auf die unter anderem nach
dem Tsunami in Asien zurückgegriffen wurde.300 Ärzte ohne Grenzen unterhält
Zentralläger in Europa, Ostafrika und Zentralamerika.301 Zu den Lagerleistungen der
Katastrophenvorsorge zählen demnach der Aufbau einer Distributionsstruktur mit
eigenen Zentral- und Regionallägern der Hilfsorganisationen. Des Weiteren sind
Bestände vorzuhalten und demnach entsprechende logistische Prozesse, wie Einund Auslagerungen sowie Lagerungen zu erbringen. Auch Entscheidungen über den
Fremdbezug der Lagerleistungen sowie die Ausgestaltung des Fremdbezugs sind
296 Vgl. Gudehus, Timm (2007a), S. 359; Pan American Health Organization / World Health
Organization (Hrsg.) (2001), S. 14.
297 Vgl. Pan American Health Organization / World Health Organization (Hrsg.) (2001), S. 87-
104.
298 Vgl. z. B. Martin, Heinrich (2006), S. 310; Schulte, Christof (2005), S. 223.
299 Vgl. IFRC (Hrsg.) (2006), S. 10-11.
300 Vgl. Matthews, Steve (2005), S. 38.
301 Vgl. www.aerzte-ohne-grenzen.de, über den Link Organisation, Projekte, Logistik.
101
vorzunehmen. Mehrere Abschnitte des 4. und 5. Kapitels befassen sich mit Fragestellungen im Zusammenhang mit den in der Katastrophenvorsorge zu erbringenden
Lagerleistungen. Hierzu zählt der bereits angesprochene Abschnitt zu den Entscheidungen über die Eigenerstellung und den Fremdbezug logistischer Leistungen (hier
der Lagerleistungen), Entscheidungen über die Standorte in der Distributionsstruktur
sowie Entscheidungen über die Arten und Mengen vorzuhaltender Hilfsgüter, beispielsweise auf Basis einer ABC-XYZ-Analyse. Dabei wird deutlich, dass sich Methoden und Instrumente, die sich in der Privatwirtschaft bewährt haben, auch im
Katastrophenmanagement einsetzen lassen.
Das zur Verfügung stehende Logistikbudget wird für die angesprochenen Lagerleistungen im Rahmen der Katastrophenvorsorge zielgerecht eingesetzt, um in der Katastrophenbewältigung die Bevölkerung innerhalb relativ kurzer Zeit mit den vorgehaltenen Hilfsgütern versorgen zu können. Vor Ort ist gegebenenfalls innerhalb
kurzer Zeitdauer eine zusätzliche Distributionsstufe aufzubauen. Beispielsweise sind
Hilfsgüter in Camps einzulagern, zu lagern und bei Bedarf auszulagern, damit die
bedürftigen Menschen in den (Flüchtlings-) Lagern versorgt werden können. Methoden der Standortplanung lassen sich einsetzen, um geeignete Standorte für
Camps sowie weitere Auslieferungslager in den betroffenen Gebieten zeitnah zu
ermitteln (vgl. hierzu Standortplanung in Kapitel 4). Zum Wideraufbau der Lagerleistungen im Rahmen der Katastrophenbewältigung zählt über den Aufbau der
Bestände in der Distributionsstruktur auch die Bereinigung nicht bzw. nicht mehr
benötigter Hilfsgüter. Wertvoller und kostenintensiver Lagerplatz sollte nicht mit
Gütern gefüllt werden, die im Katastrophenmanagement keine Verwendung (mehr)
finden. Hierzu zählen z. B. Medikamente und Lebensmittel mit abgelaufener Haltbarkeit, beschädigte und nicht mehr einsatzfähige Zelte sowie nicht benötigte bzw.
qualitativ minderwertige Kleidung (dies ist häufig für second-hand-Kleidung der
Fall). „Several disaster-response official mentioned that providing second-hand
clothing was a waste of time and resources, and supplies were left piled up in warehouses months after the event.“302
Am Beispiel der Lagerleistungen wird in Abbildung 24 exemplarisch dargestellt,
wie sich logistische Kernleistungen in das Kreislaufmodell des Katastrophenmanagements einbinden lassen.
302 Economist Intelligence Unit (Hrsg.) (2005), S. 14. Die Aussage ist auf nicht abgebaute Lagerkapazitäten nach dem Tsunami in Asien gerichtet.
102
Katastrophenvorsorge
Vorbeugung ? Aufbau einer
Distributionsstruktur mit
Zentral- und Regionallägern ? Vorhaltung von Beständen in
der Distributionsstruktur ? Verträge über den Fremdbezug
von Lagerleistungen
Katastrophenbewältigung
Monitoring / Frühwarnung ? Anpassung der Lagermengen sowie
der Distributionsstruktur auf Basis
der Informationen aus
Frühwarnsystemen / Prognosen
Weitere humanitäre Hilfe ? Ein- und Auslagerung der
Hilfsgüter nach dem Bedarf der
betroffenen Bevölkerung
Wiederaufbau ? Wiederherstellung der
Lagermengen in der
Distributionsstruktur ? Bereinigung der Lager von
nicht benötigten / qualitativ
nicht (mehr) einsetzbaren
Hilfsgütern
Risikoanalyse ? Bei Bedarf Anpassung der
Lagergüter und –mengen ? Bei Bedarf Anpassung der
Distributionsstruktur ? Bei Bedarf Anpassung der
Verträge mit Lieferanten und
Logistikdienstleistern
Sofortige Rettungsmaßnahmen ? Auslagerung vorgehaltener Hilfsgüter
nach dem Bedarf der betroffenen
Bevölkerung aus Zentral- und
Regionallägern (eigen und fremd) ? Aufbau einer Distributionsstruktur im
Katastrophengebiet mit Aufbau
zusätzlicher Regionalläger (auch in
Camps)
Abbildung 24: Lagerleistungen im Kreislauf des Katastrophenmanagements303
3.2.6.3 Logistische Zusatz- und Informationsleistungen im Katastrophenmanagement
Kommissionierung und Verpackung sind logistische Zusatzleistungen, durch die
weitere als die raum-zeitlichen Merkmalsausprägungen der Logistikgüter eine Ver-
änderung erfahren. Beide Zusatzleistungen vollziehen sich ebenso wie die Kernleistungen auf mehreren Stufen der Logistikkette. Einige Beispiele dokumentieren nachfolgend die Bedeutung der Zusatzleistungen für das Katastrophenmanagement.
Kommissionierung im Katastrophenmanagement erfolgt beispielsweise im Rahmen
der Zusammenstellung von „Notfallpaketen“, „Notfallkits“ oder „Baukästen“. Teilmengen der Hilfsgüter werden aus der im Lager zur Verfügung stehenden Gesamtmenge der Hilfsgüter nach den Bedarfsinformationen über die (potenziell) betroffene Bevölkerung zusammengestellt.304
Ärzte ohne Grenzen kommissionieren Baukästen im Rahmen der Katastrophenvorsorge:
303 Eigene Darstellung, in Ergänzung zu Abbildung 12.
304 Vgl. ausführliche Informationen zur Kommissionierung und zu Kommissioniersystemen z. B.
Martin, Heinrich (2006), S. 367.
103
„Jeder Baukasten ist für eine spezifische Notsituation ausgerüstet. Er enthält bestimmte Medikamente und Materialien, wie beispielsweise medizinische Geräte, Zelte und Wassertanks.
Dabei ist genau festgelegt, für wie viele Menschen und über welchen Zeitraum ein Kit ausreicht. So sichert beispielsweise ein Notfallkit für Flüchtlinge die Grundbedürfnisse von
10.000 Menschen in einer ländlichen Gegend über einen Zeitraum von drei Monaten. Insgesamt hat Ärzte ohne Grenzen rund 150 verschiedene Kits für spezifische Situationen entwickelt.“305
In ähnlicher Weise kommissionieren auch andere Hilfsorganisationen in der Katastrophenvorsorge Baukästen, wie beispielsweise das IFRC mit den bereits benannten
„Emergency Response Units“ und „mobilen Krankenhäusern“.306 Die Zusammenstellung der Notfallpakete ist zwar mit Kommissionier- und Lagerkosten (auch Kapitalbindungskosten) verbunden; aufgrund der Möglichkeit, im Katastrophenfall mit
einer Grundversorgung zeitnah und zuverlässig einsatzbereit zu sein, bewegt sich
diese logistische Leistungserstellung aber im Rahmen des logistischen Zielsystems
(sofern das vorgegebene Logistikbudget nicht überschritten wird). In Verbindung zu
den logistischen Kernleistungen bieten die standardisierten Baukästen die Vorteile,
dass die erforderlichen Raumkapazitäten für die Lagerung der Baukästen und die
Transporte in betroffene Gebiete bekannt und zeitnah in die Planung eingebunden
werden können. Die Baukästen werden in den Logistikzentren der Ärzte ohne Grenzen in Europa, Ostafrika (Nairobi) und Zentralamerika kommissioniert und abgefertigt durch den Zoll gelagert.307
Diese kombinierten Logistikleistungen der Kommissionierung, Lagerung und Zollabfertigung ermöglichen Ärzte ohne Grenzen und anderen Hilfsorganisationen, die
solche Baukästen kommissioniert bereithalten, im Rahmen der Katastrophenbewältigung diese Baukästen
? zeitnah (die Baukästen stehen in Zentrallägern nahe der potenziellen Krisengebiete kommissioniert und abgefertigt bereit), ? flexibel (in Bezug auf die tatsächlichen Einsatzgebiete und in Bezug auf Art und
Ausmaß der Katastrophe) und ? zuverlässig (im Rahmen einer standardisierten und weniger zeitkritischen Zusammenstellung der Baukästen sinken die Kommissionierfehler, erforderlich ist
aber eine regelmäßige Überprüfung der Baukästen, z. B. auch nach Haltbarkeitsdatum der Lebensmittel und Medikamente)
mit hohen Zielerreichungsgraden bezüglich des Logistikservice einzusetzen.
Abbildung 25 ordnet die Zusatzleistung der Kommissionierung exemplarisch in den
bereits bekannten Kreislauf des Katastrophenmanagements ein.
305 Vgl. www.aerzte-ohne-grenzen.de, über den Link Organisation, Projekte, Logistik.
306 Vgl. Vgl. Deutsches Rotes Kreuz (Hrsg.) (2006), S. 8 sowie Erläuterungen in Abschnitt
3.2.6.1.
307 Vgl. www.aerzte-ohne-grenzen.de, über den Link Organisation, Projekte, Logistik.
104
Katastrophenvorsorge
Vorbeugung ? Entwicklung der
Baukastensysteme und
Kommissionierung der
Baukastensysteme in den
Zentrallagern potenzieller
Krisenregionen
Katastrophenbewältigung
Monitoring / Frühwarnung ? Kommissionierung zusätzlicher
Mengen auf Basis der Informationen
aus Frühwarnsystemen / Prognosen
Weitere humanitäre Hilfe ? Bei Bedarf Kommissionierung
und Transport zusätzlicher
Baukastensysteme
Wiederaufbau ? Kommissionierung im Rahmen
der Wiederherstellung des
Bedarfs an Baukastensystemen
in der Region
Risikoanalyse ? Bei Bedarf Kommissionierung
zusätzlicher Baukastensysteme,
Anpassung der Inhalte der
Baukästen
Sofortige Rettungsmaßnahmen ? Auslagerung der kommissionierten
Baukastensysteme und Transport in
die Krisengebiete
Abbildung 25: Kommissionierung im Kreislauf des Katastrophenmanagements308
Die Verpackung steht in der Logistik in enger Verbindung zu den Informationsleistungen. Sie hat sowohl eine Transport-, Lagerungs- und Bereitstellungsfunktion
(inklusive des Schutzes der Logistikobjekte) als auch eine Informations- und Identifikationsfunktion.309 Dabei kommen im Katastrophenmanagement unterschiedliche
logistische Einheiten zum Einsatz, wie
? einzelne verpackte Hilfsgüter (z. B. Lebensmittel), die gemeinsam mit Packmittel und Packhilfsmittel zu ? Sammelpackungen zusammengefasst werden, die wiederum mit Ladehilfsmitteln und Sicherungsmitteln zu einer ? Ladeeinheit (z. B. Palette) und gemeinsam mit Ladungssicherungsmitteln zu
einer ? Ladung (z. B. Container) verpackt werden.310
Durch besondere farbliche oder symbolische Kennzeichnung der Verpackungen und
Ladeeinheiten lassen sich im Katastrophenmanagement die Arten verpackter Hilfsgüter schnell erkennen und den weiteren logistischen Prozessen zuführen, z. B.
durch die farbliche Kennzeichnung
308 Eigene Darstellung, in Ergänzung zu Abbildung 12.
309 Vgl. z. B. Vahrenkamp, Richard (2007), S. 328-329; Martin, Heinrich (2006), S. 71.
310 Ausführliche Erläuterungen zur Verpackung, zu den standardisierten logistischen Einheiten
und zur Bildung der Verpackungseinheiten enthalten beispielsweise die folgenden Quellen:
Gudehus, Timm (2007a), S. 425-461; Martin, Heinrich (2006), S. 71-85; Vahrenkamp, Richard (2007), S. 328-340.
105
? grün für Medikamente und medizinisches Gerät, ? rot für Lebensmittel, ? blau für Kleidung und Haushaltsgüter und ? gelb für Ausstattungsgegenstände.311
Standardisierte Symbole werden verwendet, um die Art des Hilfsgutes differenzierter darzustellen, z. B. Symbole für Kleidungsstücke mit symbolischer Darstellung,
ob sich diese an Frauen, Männer oder Kinder richten.312 Weitere wichtige Informationen über die Güterart und damit über die Handhabung der Logistikeinheit in der
Logistikkette betreffen Informationen über erforderliche Kühlungen (z. B. bei Impfstoffen) und Gefahrgutinformationen (mit Angabe der Gefahrgutklasse). Damit
erfüllt die Verpackung wichtige Informationsfunktionen, die über die Information
bezüglich der Art der Hilfsgüter auch weitere Informationen, z. B. über Menge,
Gewicht, Volumen sowie Absender und Empfänger enthalten. Detaillierte Informationen, werden auf einer Pack- bzw. Lieferliste und / oder auf einem automatischen
Identifikationssystem (z. B. Barcode, RFID-Transponder) erfasst.313
Weiteren Informationsleistungen in der Logistik- und Wertschöpfungskette des
Katastrophenmanagements widmet sich – aufgrund der hohen Bedeutung für das
internationale Katastrophenmanagement – ausführlich Kapitel 6.
3.2.7 Logistische Funktionen im Katastrophenmanagement
Die dargestellten logistischen Kern-, Zusatz- und Informationsleistungen vollziehen
sich in den logistischen Funktionen, die in Abschnitt 3.1.5 allgemein vorgestellt
wurden und sich auf die Logistik im Katastrophenmanagement übertragen lassen. In
der einschlägigen Logistikliteratur werden zahlreiche Methoden und Instrumente
vorgestellt, die sich zur Analyse, Bewertung und Gestaltung der Logistik in den
Funktionen Beschaffungs-, Produktions- und Distributionslogistik einsetzen lassen.314 Beispiele und Erläuterungen beziehen sich dabei in der Regel auf Industrieund Handelsunternehmen. In der Literatur und Praxis des Katastrophenmanagements finden diese Methoden und Instrumente bislang nur ansatzweise Berücksichtigung, sodass im nachfolgenden Kapitel die Einsatzpotenziale dieser Methoden auf
das Katastrophenmanagement an ausgewählten Methoden – ohne einen Anspruch
auf Vollständigkeit – aufgezeigt werden.
311 Vgl. Pan American Health Organization / World Health Organization (Hrsg.) (2001), S. 47.
312 Standardisierte Symbole des IFRC sind exemplarisch in Pan American Health Organization /
World Health Organization (Hrsg.) (2001), S. 53 dokumentiert.
313 Vgl. Pan American Health Organization / World Health Organization (Hrsg.) (2001), S. 47-
50.
314 Vgl. z. B. Pfohl, Hans-Christian (2004a), S. 179-223; Schulte, Christof (2005), S. 263-504;
Vahrenkamp, Richard (2007), S. 75-83; 173-201; 441-472.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Im internationalen Katastrophenmanagement werden täglich Entscheidungen mit Logistikbezug getroffen. Die Autorin skizziert die Vielfalt der Entscheidungen durch die folgende Fragestellung: Welche Beschaffungskonzepte, Standorte, Touren, Informationssysteme und Konzepte der Zusammenarbeit sollen im Rahmen der Katastrophenvorsorge und -bewältigung realisiert werden?
Da die Entscheidungen in hohem Maße Qualität und Kosten der Versorgung betroffener Menschen beeinflussen, sollten diese nicht alleine aus dem Erfahrungswissen heraus getroffen, sondern durch logistische Planungsmethoden unterstützt werden.
Anwendungsbezogen und verständlich wird in dem Buch der Einsatz geeigneter Methoden (z. B. Standortplanung, Netzplantechnik) am Beispiel realer Katastrophen vermittelt. Konzepte des SCM und aktuelle Informationssysteme werden mit ihren Potenzialen und Grenzen für das internationale Katastrophenmanagement vorgestellt und unter Einsatz geeigneter Entscheidungskriterien exemplarisch bewertet.