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3.2.3 Bedeutung der Logistik für das Katastrophenmanagement
Die Komplexität sowie die speziellen Rahmenbedingungen, unter denen die sofortigen Rettungsmaßnahmen der Logistik in der Katastrophenbewältigung erfolgen,
lassen sich wie folgt beschreiben:
„The assessment forms the basis for an appeal that lists specific items and quantities needed to
provide immediate relief to the affected populations. Emergency stocks of standard relief items
are sent in from the nearest relief warehouses. Calls are made to traditional government donors
and the public commitments for cash and / or in-kind donations secured. Suppliers and logistics providers are lined up, and the mobilization of goods from across the globe begins: When
supplies arrive, local transportation, warehousing and distribution have to be organized. This is
a tremendous feat to accomplish, given the remote places in which disasters tend to occur, the
uniqueness of the requirements for each disaster in terms of both expertise and goods, and the
fact that the disaster site is often in a state of chaos […].”223
Seit einigen Jahren ist erkannt worden, dass Logistik für das Katastrophenmanagement eine zentrale Funktion darstellt. So wird die Bedeutung der Logistik beispielsweise in Veröffentlichungen des Fritz Institute sowie des IFRC seit dem Jahr 2003
herausgestellt:224
1. Logistik gestaltet Schnittstellen, unter anderem zwischen Katastrophenvorsorge
und Katastrophenbewältigung, zwischen Einkauf und Distribution sowie zwischen der Zentrale und dem Einsatz vor Ort.
2. Logistik ist entscheidend für die Schnelligkeit, mit der Hilfsgüter die betroffenen Menschen erreichen und bildet zugleich einen kostenintensiven Bereiche
der Katastrophenhilfe.
3. Sofern es den Logistikverantwortlichen gelingt, die Güter durch die Wertschöpfungskette zu verfolgen, werden Daten über Kosten und Schnelligkeit der beteiligten Akteure sowie über die Verwendung der Hilfsgüter zur Verfügung gestellt. Diese Daten lassen sich zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit sowohl
aktueller als auch zukünftiger Einsätze verwenden.
Das IFRC und das Fritz Institute stellen damit die Bedeutung der charakteristischen
Elemente der Logistik und des Supply Chain Management heraus:
? Unter 1.: Integration, Koordination, Managementaufgabe, logistische Funktionen ? Unter 2.: Kunden- und Zielbezug (mit den Zielgrößen Logistikkosten und Logistikservice) ? Unter 3.: Über die Materialflüsse hinausgehende Informationsflüsse
223 Thomas, Anisya / Kopczak, Laura (2005), S. 2-3.
224 Vgl. Kopczak, Laura R. / Johnson, Eric M. (2004), S. 6; Thomas, Anisya (2003), S. 3; Thomas, Anisya / Kopczak, Laura (2005), S. 2. Vgl. ähnliche Aussagen in Tufinkgi, Philippe
(2006), S 122-123.
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3.2.4 Kundenorientierung
In der Literatur und Praxis des Katastrophenmanagements wird der Begriff des
„Kunden“ i. d. R. nicht verwendet. Es geht um einzelne „Menschen“ in Notsituationen oder übergreifend um die durch eine Katastrophe „betroffene Bevölkerung“.225
Dennoch soll der Kundenbegriff an dieser Stelle eingesetzt werden, um zu verdeutlichen, dass ein „Kundenbezug“ im Katastrophenmanagement auf mehreren Ebenen
vorhanden ist.
? Die Bevölkerung, die durch eine Katastrophe betroffen ist (z. B. durch Todesopfer, Beeinträchtigung der Gesundheit, ökonomische Schäden), stellt eine dieser
Ebenen dar. Diese bildet den Abschuss der humanitären Supply Chain des Katastrophenmanagements und damit den „Endkunden“. ? Entsprechend des integrativen Gedankens und des Pull-Prinzips des SCM sind
auch Akteure, die Leistungen in vorgelagerten Wertschöpfungsstufen erbringen,
als Kunden in mehreren aufeinander folgenden Kunden-Lieferanten-Beziehungen anzusehen.226 ? Ebenfalls stellen Geldgeber eine Ebene dar, die nicht zu vernachlässigen ist.
Während Endkunden in den Wertschöpfungsketten von Industrie und Handel
Produkte oder Dienstleistungen durch den Kauf gleichzeitig in Anspruch nehmen und vergüten, treten in den Wertschöpfungsketten des Katastrophenmanagements zwei unterschiedliche Kunden auf: Die betroffene Bevölkerung, die die
Leistung in Anspruch nimmt, und Geldgeber, die die finanziellen Mittel für
Leistungserstellung aufbringen.
Abbildung 13 unterscheidet für das Katastrophenmanagement zwischen Akteuren,
die Mittel bereitstellen, und Akteuren, die Mittel einsetzen. Diese Abbildung enthält
ebenfalls die drei vorgestellten Kundenebenen: Auf der untersten Ebene wird die
betroffene Bevölkerung – und damit der Endkunde – eingebunden, die mittlere Ebene zeigt Mittel einsetzende Akteure und damit zugleich Kunden und Lieferanten in
der Wertschöpfungskette, und auf der obersten Ebene stellen die Mittelgeber die
dritte Kundenebene dar.
Mittelgeber erhalten ihre Informationen über die Leistungen einer Hilfsorganisation
über Jahresberichte, Prüfungsberichte und Dokumentationen der Hilfsorganisationen
hinaus auch über die allgemeine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, die in hohem
Maße durch Medien geprägt wird. Insbesondere Privatpersonen und Unternehmen
entscheiden auch auf der Grundlage von Medienberichten über die Höhe und die
Empfänger von Spendengeldern. Demnach stellen Medien und „die Öffentlichkeit“
eine weitere (indirekte) Kundenebene dar.
225 So auch in der Definition der Begriffe Logistik und SCM im Katastrophenmanagement in
Abschnitt 3.2.2.
226 Vgl. hierzu Abschnitte 5.1.5 und 5.1.6 mit allgemeinen Grundlagen zu Kunden- und Integrationsorientierung im SCM.
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References
Zusammenfassung
Im internationalen Katastrophenmanagement werden täglich Entscheidungen mit Logistikbezug getroffen. Die Autorin skizziert die Vielfalt der Entscheidungen durch die folgende Fragestellung: Welche Beschaffungskonzepte, Standorte, Touren, Informationssysteme und Konzepte der Zusammenarbeit sollen im Rahmen der Katastrophenvorsorge und -bewältigung realisiert werden?
Da die Entscheidungen in hohem Maße Qualität und Kosten der Versorgung betroffener Menschen beeinflussen, sollten diese nicht alleine aus dem Erfahrungswissen heraus getroffen, sondern durch logistische Planungsmethoden unterstützt werden.
Anwendungsbezogen und verständlich wird in dem Buch der Einsatz geeigneter Methoden (z. B. Standortplanung, Netzplantechnik) am Beispiel realer Katastrophen vermittelt. Konzepte des SCM und aktuelle Informationssysteme werden mit ihren Potenzialen und Grenzen für das internationale Katastrophenmanagement vorgestellt und unter Einsatz geeigneter Entscheidungskriterien exemplarisch bewertet.