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1 Einleitung
1.1 Ausgangslage und Zielsetzung
Über zahlreiche Katastrophen wurde im Jahr 2008 berichtet: Zu benennen sind mit
dem Zyklon Nargis in Myanmar und dem Erdbeben in China zwei schwerwiegende
Naturkatastrophen, die sich im Mai des Jahres fast zeitgleich ereignet haben, und
deren Auswirkungen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches noch nicht
endgültig absehbar sind. Auch Unruhen waren der Auslöser von Katastrophen, so
beispielsweise nach den Präsidentschaftswahlen in Kenia, die Ende des Jahres 2007
stattfanden.
Statistische Gesamtauswertungen zu den Folgen der Katastrophen im Jahr 2008
liegen noch nicht vor, für das Jahr 2007 lässt sich aber zusammenfassend (hier für
Naturkatastrophen) feststellen:
„In 2007, 414 natural disasters were reported. They killed 16847 persons, affected more than
211 million others and caused over 74.9 US$ billion in economic damages.”1
Im Zeitablauf steigt die Anzahl weltweit registrierter Katastrophen. Dieser Trend
wird für den Zeitraum 1900 bis 2007 durch die nachfolgende
Abbildung 1 am Beispiel der Naturkatastrophen visualisiert.
Unter den in den Jahren 2004 und 2005 erfassten Katastrophen befinden sich mit
dem Tsunami in Asien, dem Hurrikane Katrina in den USA sowie einem Erdbeben
in Pakistan Katastrophen mit gravierenden Auswirkungen auf die betroffene Bevölkerung und mit umfangreichen ökonomischen Schäden. In den Nachrichten, Printmedien und Dokumentationen ist im Zusammenhang mit diesen Katastrophen wiederholt auf Schwachstellen in der Logistik hingewiesen worden, die sich am Beispiel des Tsunami in Asien wie folgt charakterisieren lassen:
„…the sheer number of cargo-laden humanitarian flights overwhelmed the capacity to handle
goods at the airport, … transportation pipelines were bottlenecked, … the damaged infrastructure combined with the flood of assistance from the military representatives from several countries and large numbers of foreign aid agencies created a coordination and logistical nightmare.”2
Die Bedeutung der Logistik für das internationale Katastrophenmanagement ist als
Folge der benannten Katastrophen in den Jahren 2004 und 2005 zunehmend erkannt
worden:
„One of the notable aspects of the relief efforts following the 2004 Asian Tsunami was the
public acknowledgement of the role of logistics in effective relief.“3
1 Scheuren, Jean-Michel u.a. (2008), S. X.
2 Thomas, Anisya / Kopczak, Laura (2005), S. 1.
3 Thomas, Anisya / Kopczak, Laura (2005), S. 1.
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Jahr: 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000
Anzahl
500
450
400
350
300
250
200
150
100
50
0
Abbildung 1: Anstieg weltweiter Katastrophen (1900-2007)4
Die logistischen Kernleistungen Transport, Lagerung und Umschlag, logistische
Zusatzleistungen wie Kommissionierung und Verpackung sowie logistische Informationsleistungen waren bereits vor den benannten Katastrophen Gegenstand des
internationalen Katastrophenmanagements. Ohne die entsprechenden Transporte der
Hilfsgüter hätten diese auch zuvor die betroffene Bevölkerung nicht erreichen können. Die Neuausrichtung der Logistik ist vornehmlich darin zu sehen, dass seither
logistische Leistungen im internationalen Katastrophenmanagement nicht weiterhin
als rein operativ ausgerichtete Ausführungsleistungen sondern zunehmend als Managementleistungen begriffen werden. Damit verbunden ist auch die Erkenntnis,
dass sich logistische Methoden einsetzen lassen, um die Managementleistungen der
Planung, Steuerung und Kontrolle im internationalen Katastrophenmanagement zu
unterstützen. Mit der zunehmend unternehmensübergreifenden Abstimmung zwischen den Akteuren des internationalen Katastrophenmanagements lassen sich dar-
über hinaus auch unternehmensübergreifende Konzepte des Supply Chain Management einsetzen, um Logistik- und Wertschöpfungsketten übergreifend zu gestalten.
Mit Blick auf die Zielsetzungen des internationalen Katastrophenmanagements und
Logistik bzw. Supply Chain Management ist es sinnvoll, diese in Abstimmung zueinander zu bringen. Das übergreifende Ziel des Katastrophenmanagements besteht
darin, durch Katastrophenvorsorge und Katastrophenbewältigung menschliche,
physische, wirtschaftliche und ökologische Verluste, die im Zusammenhang mit
4 www.emdat.be, Link “Database”, “Trends”, “Global Disasters”, “Number of Disasters”.
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Katastrophen erlitten werden, zu verhindern, zu verringern und zu begrenzen.5 Die
Gestaltung der logistischen Prozesse und Ketten ist auf die beiden Zielgrößen Logistikservice und Logistikkosten gerichtet,6 die zugleich die übergreifende Zielsetzung
des Katastrophenmanagements beeinflussen: Ein erhöhter Logistikservice kann z. B.
dazu beitragen, dass die betroffenen Menschen schneller erreicht werden, dass eine
größere Anzahl betroffener Menschen erreicht wird, dass die Versorgung zuverlässiger und flexibler erfolgen kann. Eine Reduzierung der Logistikkosten vermindert
zum einen wirtschaftliche Verluste und kann zum anderen dazu beitragen, dass sich
das zur Verfügung stehende Logistikbudget für weitere Leistungserstellungen zur
Vermeidung bzw. Verringerung von „Verlusten“ einsetzen lässt.
Mit den erläuterten Erkenntnissen über die Bedeutung der Logistik und des SCM für
das internationale Katastrophenmanagement galt und gilt es weiterhin zu untersuchen, inwieweit sich existierende Methoden aus der Privatwirtschaft auf das internationale Katastrophenmanagement übertragen bzw. anpassen lassen.
„In the corporate sector, well-founded research exists in the area of commercial supply chain
and logistic analysis, and strategic inter-corporation collaboration has demonstrated significant
improvement in effectiveness and efficiency. However, the applicability of these commercial
supply chain methods and other corporate logistics and related research to humanitarian operations is not fully understood.”7
Seit dem Jahr 2004 haben sich das Management der Logistik und der Wertschöpfungsketten sowie die entsprechende EDV-technische Unterstützung weiterentwickelt. Einige Entwicklungen bis zum Jahr 2008 sollen dies exemplarisch skizzieren:
Im Rahmen der Katastrophenbewältigung in Myanmar und China im Jahr 2008
kooperieren Akteure der Vereinten Nationen mit Logistikdienstleistern der Privatwirtschaft in einem Umfang, der zu Beginn der 2000er Jahre noch unvorstellbar
gewesen wäre.8 Die Unterstützung durch Informations- und Kommunikationstechnologien ist deutlich vorangeschritten. Beispielsweise hat sich die Website des Joint
Logistics Center der Vereinten Nationen (UNJLC) so weit etabliert, dass logistische
Informationen bis hin zu den Details der Transportpläne und Lagerbestände unterschiedlicher beteiligter Akteure einsehbar sind.9 Mit Helios befindet sich eine Software zur Unterstützung der Logistik und des SCM für Akteure des internationalen
Katastrophenmanagements in der Pilotphase, durch die sich unter anderem eine
Sendungsverfolgung unterstützen lässt.10
Im internationalen Katastrophenmanagement des Jahres 2008 befinden sich der
Einsatz logistischer Methoden sowie die Umsetzung der Konzepte des SCM trotz
der skizzierten Entwicklungen noch in den Anfängen. Zur Fortentwicklung dieses
5 Vgl. Tufinkgi, Philippe (2006), S. 97.
6 Vgl. z. B. Schulte, Christof (2005), S. 6-9.
7 Fritz Institute (Hrsg.) (2004), S. 5.
8 Vgl. z. B. Hein, Christoph (2008).
9 Das Informationsportal des UNJLC befindet sich unter www.logcluster.org.
10 Vgl. www.fritzinstitute.org, Link “Supply Chain Solutions”, “Programs”, “Technology,
”Helios”.
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Prozesses möchte dieses Buch einen Beitrag leisten. Bewährte Methoden des Logistikmanagements (z. B. zur Standortplanung und zur Netzplantechnik) werden vorgestellt und auf das Management internationaler Katastrophen angewendet. Die Datengrundlagen der Berechnungsbeispiele werden aus statistischem Datenmaterial
zum internationalen Katastrophenmanagement, aus realen Daten des Webportals des
Joint Logistics Center der UN sowie aus fiktiven aber realitätsnahen Daten zusammengestellt. Durch die Berechnungsbeispiele erhalten Akteure des internationalen
Katastrophenmanagements realitätsnahe Hinweise zu den Einsatzpotenzialen und
Grenzen ausgewählter logistischer Methoden. Ebenso werden aktuelle Referenzmodelle und Konzepte des Supply Chain Management sowie Informations- und Kommunikationstechnologien mit ihren Einsatzpotenzialen für das internationale Katastrophenmanagement vorgestellt und diskutiert.
Das Buch kann darüber hinaus als weiterführendes Lehrbuch für Studierende der
Logistik oder der Supply Chain Management eingesetzt werden. Durch den Anwendungsfall des internationalen Katastrophenmanagements stehen umfangreiche reale
und fiktive Fallstudien zur Verfügung, durch die die Einsatzpotenziale der Methoden und Konzepte im internationalen Umfeld vermittelt werden.
1.2 Aufbau des Buches
Die folgende Abbildung skizziert die Inhalte der Kapitel sowie deren Zusammenhänge. Akteure sowie das Strategie- und Zielsystem bilden einen übergreifenden
Bestandteil aller Kapitel. So werden die Akteure des internationalen Katastrophenmanagements, wie z. B. Akteure des UN-Systems, staatliche und nicht-staatliche
Hilfsorganisationen und Geldgeber sowie Unternehmen der Privatwirtschaft im
zweiten Kapitel ebenso vorgestellt wie die Akteure der Logistik und des Supply
Chain Management in den Kapiteln drei und fünf. Die Strategie- und Zielsysteme
dieser Akteure werden in den einzelnen Kapiteln vorgestellt und sukzessive zusammengeführt.
Die Einleitung in das internationale Katastrophenmanagement erfolgt in Kapitel
zwei in Form einer Vorstellung empirischer Daten und ausgewählter Beispiele internationaler Katastrophen. Diese Datengrundlagen sowie Beispiele werden in den
weiteren Kapiteln über Logistik und Supply Chain Management herangezogen, um
die Bedeutung der Logistik und des SCM im internationalen Katastrophenmanagement zu untermauern und Berechnungen unter Einsatz logistischer Methoden durchzuführen. Ebenso wird das internationale Katastrophenmanagement als Kreislaufmodell vorgestellt, das sich aus mehreren Aufgabenbereichen der Katastrophenvorsorge und der Katastrophenbewältigung zusammensetzt. Der Abbildung über die
Struktur dieses Buches kann entnommen werden, dass dieses Kreislaufmodell des
Katastrophenmanagements eine wesentliche Grundlage der weiteren Kapitel bildet.
Ausgangslage und Zielsetzung in Abschnitt 1.1 sind auf die Bedeutung der Logistik
und des Supply Chain Management für das internationale Katastrophenmanagement
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Im internationalen Katastrophenmanagement werden täglich Entscheidungen mit Logistikbezug getroffen. Die Autorin skizziert die Vielfalt der Entscheidungen durch die folgende Fragestellung: Welche Beschaffungskonzepte, Standorte, Touren, Informationssysteme und Konzepte der Zusammenarbeit sollen im Rahmen der Katastrophenvorsorge und -bewältigung realisiert werden?
Da die Entscheidungen in hohem Maße Qualität und Kosten der Versorgung betroffener Menschen beeinflussen, sollten diese nicht alleine aus dem Erfahrungswissen heraus getroffen, sondern durch logistische Planungsmethoden unterstützt werden.
Anwendungsbezogen und verständlich wird in dem Buch der Einsatz geeigneter Methoden (z. B. Standortplanung, Netzplantechnik) am Beispiel realer Katastrophen vermittelt. Konzepte des SCM und aktuelle Informationssysteme werden mit ihren Potenzialen und Grenzen für das internationale Katastrophenmanagement vorgestellt und unter Einsatz geeigneter Entscheidungskriterien exemplarisch bewertet.