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raten und unterstützen und sich v. a. für die Belange ärmerer und informell beschäftigter
Sozialgruppen einsetzen wie z. B.
— eine auf ein breitenwirksames Wirtschaftswachstum ausgerichtete Politik,
— eine stärkere Beteiligung der Armen am Grundbesitz und am Produktivkapital,
— eine Verbesserung der Qualität der Bildungs- und Gesundheitssysteme und ihren
Ausbau in ländlichen Gegenden und ärmeren Stadtvierteln,
— mehr Transparenz, Bürgernähe und Berechenbarkeit in der staatlichen Bürokratie und Sozialverwaltung,
— eine weiter gehende Öffnung der Finanzmärkte und Deregulierung des Bankenund Versicherungssektors,
— eine verteilungsorientierte Reform der öffentlichen Systeme der sozialen Sicherung und
— einen größeren Freiraum für zivilgesellschaftliche Aktivitäten.
Entsprechend argumentieren Canagarajah und Sethuraman (2001):
„Given the ‘benign neglect’ attitude toward the informal sector in most countries, it
would be unrealistic to expect governments to take the necessary initiatives in the direction of reforms unless there is pressure from the grassroot organizations. It is in this context that the emerging experience of informal organizations assumes particular significance. These organizations are not just helping their members to overcome various scalerelated disadvantages [...] and market imperfections [...]; they have also been instrumental
in obtaining legal recognition, and in creating indigenous or informal social protection
mechanisms.“ 401
Allerdings sind die Aktivitäten von NROs und Selbsthilfegruppen auch in den sozialen Sektoren insbesondere in autoritär regierten Ländern vielfach mit politisch bedingten Schwierigkeiten verbunden. Dies gilt nicht nur für ihre Anstrengung im Rahmen
von bottom-up-Ansätzen sondern auch bzw. zum Teil sogar erst recht für Lobby-Arbeit
zugunsten eines stärkeren sozialpolitischen Engagements des jeweiligen Staates im
Rahmen von top-down-Ansätzen. Die Regierenden fürchten, bei der Bevölkerung an
Reputation und Legitimität zu verlieren, wenn zivilgesellschaftliche Akteure auf sozialpolitische Versäumnisse des Staates hinweist.
6.3 Rolle der Entwicklungszusammenarbeit
Der Auf- und Ausbau von sozialen Sicherungssystemen ist ein zentraler Bestandteil von
Strategien der Armutsbekämpfung und damit auch ein wichtiges Feld für Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Die Bekämpfung von Armut wird mittlerweile von allen wichtigen bi- und multilateralen Gebern als zentrales Ziel ihrer Kooperation mit Entwicklungsländern definiert.402 Dass damit auch der Förderung von Systemen der sozialen
Sicherung durch Maßnahmen der EZ eine große Bedeutung zukommt, schlägt sich nicht
nur in der Abschlusserklärung403 des Weltsozialgipfels in Kopenhagen von 1995, son-
401 Canagarajah / Sethuraman (2001, 46).
402 Vgl. bspw. BMZ (2001a).
403 Vgl. IMF et al. (2000); UN (2001).
199
dern auch in den Leitlinien zur Armutsbekämpfung404 des Development Assistance
Committee der OECD von 2001 nieder und hat dazu geführt, dass die multilateralen
Geber ihr Engagement im Bereich der sozialen Sicherung im Laufe der letzten zehn
Jahre erheblich ausgebaut haben.405 Ebenso wird die soziale Sicherung in den letzten
Entwicklungspolitischen Berichten der Bundesregierung als eine von drei zentralen
Säulen der Armutsbekämpfung benannt.406
Dies bedeutet natürlich nicht, dass sich die Geber der EZ in jedem Partnerland auch
im Bereich der sozialen Sicherung engagieren sollten. Selbst wenn ein Partnerland unter
großen sozialen Problemen leidet, muss EZ mit diesem Land im Bereich der sozialen
Sicherung noch lange nicht sinnvoll sein.
Subsidiarität ist eines der wichtigsten Prinzipien der EZ. Es bedeutet einerseits, dass
beipielsweise der Aufbau eines Systems der sozialen Sicherung nur dann sinnvoll ist,
wenn dessen Zielgruppe ihre Risiken nicht auch völlig eigenständig managen kann.407
Andererseits impliziert das Prinzip der Subsidiarität aber auch, dass EZ dort und nur
dort sinnvoll ist, wo gravierende soziale Probleme bestehen, die die sozialpolitischen
Akteure des Partnerlandes nicht auch ohne die Unterstützung durch externe Geber lösen
können – sei es, weil es ihnen an den hierfür erforderlichen finanziellen Mittel, am sozialpolitischen Know-how, an den nötigen Erfahrungen oder aber an Kreativität mangelt.
In einer solchen Situation, die in Abschnitt 3.5 als das „ökonomische Dilemma der
Sozialpolitik“ bezeichnet wurde, kann EZ mit begrenztem Aufwand vergleichsweise
große Wirkungen entfalten, weil sie zielgenau auf die Überwindung konkreter Entwicklungsengpässe im Partnerland ausgerichtet werden kann.
Vorstellbar ist aber auch eine Situation, in der die relevanten Akteure im Partnerland
durchaus auch ohne externe Unterstützung in der Lage wären, die bestehenden sozialen
Probleme zu lösen, hierzu aber nicht bereit sind (vgl. Abschnitt 3.5). In diesem Fall ist
EZ weder erforderlich noch möglich. Zum einen sollte EZ keine Reformen fördern, die
von den Mitgliedern der betroffenen Gesellschaft nicht gewünscht werden. EZ-
Maßnahmen sollten partizipativ sein, i. e. unter Beteiligung bzw. zumindest nach Konsultation der Zielgruppe stattfinden. Zum anderen kann EZ – wie der Name schon sagt –
nie einseitig von den Gebern ausgehen, sondern besteht in deren Kooperation mit einem
inländischem Partner, der die bestehenden Probleme als solche sieht, ein Interesse an
ihrer Lösung hat und bereit ist, im Rahmen seiner Möglichkeiten zu einer solchen Lösung beizutragen.
Daraus folgt, dass ein Engagement der Geber im Bereich der sozialen Sicherung an
zwei Bedingungen knüpft. Die erste Bedingung ist erfüllt, wenn ein Land seine sozialen
Problemen nicht aus eigener Kraft lösen kann. Ist es hierzu in der Lage, so sollten die
knappen Ressourcen der EZ besser in anderen Bereichen verwendet werden. Die zweite
Bedingung hingegen besteht darin, dass sowohl die Gesellschaft als auch die Regierung
des Partnerlandes an der Lösung der identifizierten sozialen Probleme interessiert sind
und auch die Bereitschaft haben, ihren Teil hierzu beizutragen.408
404 Vgl. OECD–DAC (2001).
405 Vgl. ADB (2000); Barrientos / Hulme / Shepherd (2005); BMZ (1999b); BMZ (2002, 8); World
Bank (2000a).
406 Vgl. BMZ (2001b).
407 Vgl. Klemp (1992, 53); Schmidt / Getubig (1992, 175).
408 Vgl. BMZ (1996, 12); BMZ (1999a, 7 und 13); Gsänger (1993b, 109 f.); Loewe (1999b, 124).
200
Potenzielle Ansatzpunkte für EZ bestehen bei fast allen staatlichen Sozialsystemen.
Typische Beiträge sind
— Rechtsberatung bei der Neuformulierung eines Sozialversicherungsgesetzes,
— versicherungsmathematische Beratung bei der Neuberechnung von Beitragssätzen und Rentenformeln,
— finanzwirtschaftliche Beratung bei der Reform der Investitionspolitik von Sozialversicherungsanstalten sowie Mitarbeiterschulungen in deren Investmentabteilungen,
— sozialpolitische Beratung bei der Revision des targeting von Sozialhilfesystemen
sowie bei der Reform der Finanzierung von öffentlichen Gesundheitssystemen,
— Organisationsberatung bei der Restrukturierung und Dezentralisierung der
Erbringungsstruktur von öffentlichen Gesundheitsdienstleistungen sowie für eine Verbesserung der Koordination und des Informationsaustausches zwischen
unterschiedlichen Sozialversicherungs- und Sozialhilfesystemen,
— Beratung und technische Unterstützung bei der Dezentralisierung und Modernisierung der Verwaltung sämtlicher Sozialsysteme und bei der Umstellung ihrer
Datenerfassung und -verarbeitung auf computergestützte Systeme,
— Fortbildung der leitenden Angestellten zu Fragen des Organisations-, Ablauf-,
Daten- und Dienstleistungsmanagements oder
— Schulung der einfachen Angestellten in der Kundenbetreuung, in der Datenverwaltung, in Schadensfallprüfungen und in der Kontrolle von Erwerbstätigen hinsichtlich ihrer Meldung und Einkommenserklärung bei der Sozialversicherungsanstalt.409
Daneben können die Geber aber auch bei der Förderung von privatwirtschaftlichen
Systemen der sozialen Sicherung einen Beitrag leisten – so z. B. bei
— einer Revision der Regulierung von Banken, Versicherungsunternehmen und
Maklern,
— der Stärkung der zuständigen Regulierungs- und Aufsichtsbehörden,
— der Bereitstellung der für das Funktionieren der Finanzmärkte notwendigen materiellen und immateriellen Infrastruktur,
— der Anpassung bestehender Gesetze an die Erfordernisse von KV-Systemen und
— der Reform und Verbesserung der Effizienz und Transparenz juristischer Prozeduren.410
Schließlich können die Geber aber auch den Aufbau bzw. die Stärkung von zivilgesellschaftlichen und kooperativen Systemen der sozialen Sicherung fördern. Dabei sollten sie stets dort ansetzen, wo NROs und Selbsthilfegruppen jeweils die größten Probleme bestehen. Hierbei kann es sich um einen oder mehrere der in Abschnitt 5.2 genannten Engpässe handeln:
— die Einengung des Handlungsspielraums von NROs und Selbsthilfegruppen
durch Gesetze und unberechenbare Entscheidungen der Regierungen, der Verwaltung und der Justiz,
409 Vgl. BMZ (1999a, 12); BMZ (2002, 15); Loewe (2000a, 63–65); Loewe (2000a); Loewe et al.
(2001, 94–96); Norton / Conway / Foster (2001, 37); Schubert (1993).
410 Vgl. AKA (1998, 9 ff.); BMZ (1996, 12 ff.); BMZ (2002, 15); van Ginneken (1999a).
201
— den Mangel an Know-how bei NROs und Selbsthilfegruppen,
— ihre organisatorischen und administrativen Defizite bzw.
— ihre begrenzten Risiko-Pooling-Möglichkeiten.
Schreiner (2000)411 hat die potenzielle Rolle der Geber in diesem Bereich mit den
drei Stichworten „genetic engineers“, „catalysts during start-up“ und „lenders of last
resor“ umschrieben:
Genetic engineers: In einem ersten Schritt können die Geber über mögliche Strategien der sozialen Sicherung informieren, indem sie z. B. public awareness-Kampagnen
finanziell und technisch unterstützen, in deren Rahmen (i) auf die Bedeutung von Risiken aufmerksam gemacht wird, (ii) die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Strategien
des Risiko-Managements diskutiert werden und (iii) dargelegt wird, wie NROs bzw.
Selbsthilfegruppen hierbei durch den Aufbau von sozialen Sicherungssystemen Unterstützung leisten können.
Dabei sollte auch und v. a. über das KV-Konzept gesprochen und hierfür geworben
werden. Die Initiative zum Aufbau von KV-Projekten müssen die Akteure im Partnerland selbst ergreifen. Jedoch ist das Konzept in vielen Ländern noch nicht sehr bekannt.
Um hieran etwas zu verändern, könnten die Geber bspw. Vertreter von bestehenden
KV-Systemen in andere Länder einladen, damit diese über ihre Erfahrungen berichten:
unterschiedliche KV-Modelle und deren Vor- und Nachteile vorstellen, mögliche
Schwierigkeiten bei der Umsetzung des KV-Konzepts ansprechen und Ratschläge für
deren Überwindung geben.
Catalyst during start-up: Hat sich eine NRO oder Selbsthilfegruppe zum Aufbau eines sozialen Sicherungssystems oder zur Anwendung einer neuen Risiko-Management-
Strategie entschlossen, so kann sie hierbei technisch und ggf. auch finanziell von den
Gebern unterstützt werden. Diese könnten z. B. eine ROSCA, deren Mitglieder ihren
Club in einen Versicherungsverein umwandeln wollen, (i) bei der Planung, beim Aufbau und beim Monitoring des Projekts beraten, (ii) der Gruppe die technische Anfangsausstattung bereitstellen und (iii) die Organisatoren in der Gestaltung von Verträgen und
Zahlungsverfahren, der Berechnung von Beiträgen und Leistungen und der Durchführung von Schadensprüfungen schulen.
Lenders of last resort: Die dritte Aufgabe der Geber kann darin bestehen, KV-
Systeme zu helfen, die Risiken ihrer Mitglieder über eine größere Zahl von Personen zu
verteilen. Hierzu können sie beitragen, indem sie NROs und Selbsthilfegruppen bei der
horizontalen und / oder vertikalen Vernetzung unterstützen. Bei der horizontalen Vernetzung gehen mehrere NROs und Selbsthilfegruppen Allianzen ein und schließen ggf.
einen Rückversicherungsvertrag auf Gegenseitigkeit. Bei der vertikalen Vernetzung
hingegen kooperieren die NROs und Selbsthilfegruppen entsprechend dem partneragent model z. B. mit einem Versicherungsunternehmen, das über bessere Pooling-
Möglichkeiten, mehr Erfahrung und ein größeres Know-how verfügt (vgl. Abschnitt
5.2).
Eine Alternative besteht darin, dass sich die Geber selbst als Rückversicherer zur
Verfügung stellen. Sie können z. B. einen Notfall-Sicherungsfonds bereitstellen, der
KV-Systeme vor der Zahlungsunfähigkeit bewahrt. Er kann sich auch im Falle des
partner-agent model als hilfreich erweisen, wenn der partner nicht in der Lage bzw.
nicht bereit ist, das volle Risiko des KV-Projekts zu übernehmen. Einen solchen Fonds
411 Vgl. Schreiner (2000, 423).
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hat u. a. die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) der Self-
Employed Women’s Association (SEWA) in Indien zur Verfügung gestellt (vgl. Abschnitt 5.5).
Allerdings sollten es die Geber vermeiden, KV-Systeme dauerhaft zu bezuschussen.
Diese sollten so konzipiert sein, dass sie sich nach der Anlaufphase grundsätzlich selbständig finanzieren können. In dieser Hinsicht ist das SEWA-Projekt ein Negativbeispiel. Zwar muss SEWA darauf achten, dass der von der GTZ finanzierte Fonds inflationsbereinigt erhalten bleibt. SEWA muss daher etwaige Entnahmen aus dem Fonds so
bald wie möglich wieder zurückzahlen. SEWA kann aber die realen Kapitalerträge des
Fonds – i. e. die Differenz zwischen der nominalen Rendite und dem Inflationsverlust –
einbehalten und hiermit einen Teil seiner Kosten decken. Der Fonds ist so großzügig
bemessen, dass die Zinserträge fast ein Drittel der gesamten Ausgaben des Versicherungssystems von SEWA finanzieren.412
6.4 Rolle des Privatsektors
Neben dem Staat, der Zivilgesellschaft und den Gebern der EZ kann auch die Privatwirtschaft Beiträge zur Verbesserung der sozialen Sicherheit im informellen Sektor
leisten.
Das Beispiel des partner-agent model zeigt, dass sich der private Sektor selbst an der
Absicherung von einkommensschwachen Sozialgruppen mitwirken kann.
Weitere Möglichkeiten bestehen im Bereich der staatlichen Sozialsysteme, die keineswegs vom Staat selbst verwaltet werden müssen, selbst wenn er sie finanziert. So
zeigen die Erfahrungen Japans, dass die Privatisierung einer auch weiterhin steuerfinanzierten Gesundheitsversorgung zu mehr Wettbewerb zwischen den Anbietern und dadurch einer besseren Qualität und Kundenorientierung der Dienstleistungsangebote führen kann. Sie zeigen allerdings auch, dass der Staat die privaten Anbieter sehr sorgfältig
kontrollieren muss.413
412 Vgl. BMZ (1999a, 9); Loewe (2000a, 67–71); Loewe (2001, 13 f.); Loewe et al. (2001, 92–94);
McCord / Isern / Hashemi (2001, 21); Patel (2002, 30–33 und 40); Siegel / Alwang / Canagarajah
(2001, 29 f.).
413 Vgl. Oberländer (2001, 2 f.).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nur die Hälfte aller Menschen weltweit ist gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Ernteausfall abgesichert. Dies gilt v.a. für Beschäftigte im informellen Sektor. Lange wurde übersehen, dass hierin nicht nur ein soziales sondern auch ein ökonomisches Problem besteht, da Menschen ohne soziale Sicherheit besonders vorsichtig handeln und zum Beispiel Investitionen in Bildung und Produktionskapital meiden. Sie scheuen die hiermit verbundenen zusätzlichen Risiken und haben Angst, dass ihnen das investierte Geld bei Zahlungsschwierigkeiten nicht kurzfristig zur Verfügung steht.
Das vorliegende Buch gibt Einblick in die Funktionsweise moderner und traditioneller Systeme der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern und zeigt auf, warum viele von ihnen für informell Beschäftigte ungeeignet sind. Es diskutiert, welche Strategien sich eignen, um die soziale Sicherheit im informellen Sektor zu verbessern und geht insbesondere auf das Potenzial von Kleinstversicherungen ein. Diese zeichnen sich durch niedrige Beitragssätze, flexible Zahlungsmodalitäten und begrenzte Leistungen aus und sind somit ganz an die Möglichkeiten und Bedarfe von Beziehern niedriger Einkommen angepasst, ohne auf Subventionen angewiesen zu sein.