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eines KV-Systems diesem beitritt.397 Zweitens kommen auch KV-Produkte nur für
Haushalte und Individuen oberhalb eines bestimmten Mindesteinkommens in Betracht.
Wer absolut arm ist und noch nicht einmal seine grundlegendsten Konsumbedürfnisse
befriedigen kann, ist nicht in der Lage, Versicherungsbeiträge zu entrichten – selbst
wenn diese nicht sehr hoch liegen. Ähnliches gilt auch für Personen mit einem sehr
stark schwankenden Einkommen, die immer wieder Perioden durchleben, in denen sie
keine Beiträge abführen können. Drittens können nur die Bewohner der Gegenden erreicht werden, in denen geeignete Institutionen existieren, die bereit und in der Lage
sind, KV-Systeme zu arrangieren.
Keine Umverteilung zugunsten der Armen: KVs können auch keinen Beitrag zu verteilungspolitischen Zielen leisten. Grundsätzlich kann in Versicherungssystemen, in
denen die Mitgliedschaft auf Freiwilligkeit beruht, nur horizontal, niemals aber vertikal
umverteilt werden. Wenn Systeme dieser Art die Leistungen der ärmeren Versicherten
subventionierten, so würde dies zu Lasten der Mitglieder mit einem höheren Einkommen gehen. Sie würden aus der Versicherung austreten (bzw. gar nicht erst eintreten), so
dass die Versicherung früher oder später nur noch sehr arme Mitglieder hätte und gar
nicht mehr vertikal umverteilen könnte.
Bedrohung durch adverse Selektion: Für KV-Systeme bestehen auch im günstigsten
Fall eine Gefahr durch adverse Selektion. Ganz so wie andere Versicherungen sind sie
v. a. für Nachfrager mit großen Risiken attraktiv. Wenn es also dem Anbieter nicht gelingt, Nachfragern mit besonders großen Risiken den Beitritt zur Versicherung zu verweigern, muss er damit rechnen, dass insbesondere sie beitreten. Dadurch steigen seine
Ausgaben und er muss die Beitragssätze ggf. anheben. Versicherte mit kleinen Risiken
könnten dann austreten, so dass sich die Situation immer weiter verschärfen würde.
Umgekehrt kann es geschehen, dass etablierte KV-Gemeinschaften gar keine neuen
Mitglieder mehr aufnehmen, weil sie die Befürchtung haben, dass die Risiken der Beitrittswilligen im Durchschnitt größer sein könnten als die der Mitglieder und dass deswegen die Beiträge angehoben werden müssen. Aus demselben Grund ist es sogar
denkbar, dass speziell Nachfragern mit einem sehr geringen bzw. instabilen Einkommen
die Aufnahme verweigert wird, weil ihnen unterstellt wird, dass sie ein besonders ungünstiges Risikoprofil aufweisen.
6 Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der sozialen Sicherheit im
informellen Sektor
Die vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, dass sehr unterschiedliche Akteure zur
Verbesserung der sozialen Sicherheit beitragen können – auch im informellen Sektor.
Die Hauptverantwortung dafür, dass alle Menschen Zugang zu angemessenen Instrumenten der sozialen Sicherung gegen die schlimmsten Risiken haben, liegt natürlich
beim Staat. Das bedeutet aber nicht, dass er diese Instrumente auch selbst bereitstellen
muss. Vielfach können zivilgesellschaftlichen Organisationen bzw. kommerziellen Unternehmen die erforderlichen Sozialsysteme leichter und kostengünstiger aufbauen und
397 Beattie (2000) schätzt, dass kein KV-System mehr als 25 % aller Haushalte in seinem geographischen Umfeld anlocken konnte, vgl. Beattie (2000, 133). Bennett / Creese / Monasch (1998) hingegen zeigen, dass einige Systeme mehr als 90 % der Zielgruppe erfassen. Vgl. Bennett /
Creese / Monasch (1998, Table 5.2).
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betreiben als der Staat. Dieser muss aber dafür sorgen, dass das gewünschte System
überhaupt existiert, indem er förderliche Rahmenbedingungen schafft, potenziellen Trägern Anreize zum Aufbau von Sozialsystemen bietet und, wenn alles nichts hilft, das
benötigte Sozialsystem dann doch selbst bereitstellt.
Ganz ähnlich verhält es sich mit der Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Externe
Geber können und sollen die Regierungen von Entwicklungsländern bei sozialpolitischen Vorhaben unterstützen. Jedoch müssen zunächst die inländischen Akteure und
allen voran die Staaten selbst tun, wozu sie im Rahmen ihrer finanziellen und technischen Möglichkeiten in der Lage sind. Dies setzt voraus, dass sie die bestehenden sozialen Probleme überhaupt als solche wahrnehmen und anerkennen, sich zu Reformen
durchringen, eigene Vorleistungen erbringen und schließlich von sich aus an die Geber
herantreten, um denen eine gezielte Förderung einzelner Maßnahmen vorzuschlagen.
Dabei sollten sich die Geber nur insoweit engagieren, als die Staaten oder andere inländische Akteure die bestehenden Probleme nicht auch ohne externe Unterstützung lösen
können.
Im Folgenden wird genauer ausgeführt, welche Rolle (i) der Staat, (ii) zivilgesellschaftliche Institutionen, (iii) externe Geber und (iv) die Privatwirtschaft bei der Verbesserung der sozialen Sicherheit im informellen Sektor spielen sollten.
6.1 Rolle der Regierungen
Regierungen bieten sich mindestens fünf verschiedne Ansätze, um die Beschäftigten im
informellen Sektor besser vor Risiken zu schützen: Erstens können sie versuchen, alle
Bereiche der Politik so auszugestalten, dass die Wahrscheinlichkeit des Eintritts und die
möglichen Folgen von Risiken für informell Beschäftigte möglichst klein bleiben. Hierzu gehört u. a. eine langfristig geplante, prognostizierbare und kohärente Geld-, Währungs- und Steuerpolitik. Zweitens können Anstrengungen unternommen werden, um
unnötige Barrieren zwischen dem formellen und dem informellen Sektor abzubauen und
dadurch zusätzliche Beschäftigungsverhältnisse zu formalisieren. Drittens können die
bestehenden staatlichen Systeme der sozialen Sicherung reformiert und dadurch für informelle Beschäftigte attraktiver gemacht werden. Viertens können die bestehenden
staatlichen Systeme ausgebaut bzw. neue Systeme der sozialen Sicherung für informelle
Beschäftigte geschaffen werden. Fünftens können die Regierenden die Möglichkeiten
des Risiko-Managements von informell Beschäftigten auch dadurch verbessern, dass sie
die Entstehung von nichtstaatlichen Sozialsystemen erleichtern bzw. sogar aktiv fördern.
Risiko-Prävention auf politischer Ebene
Vielfach kann die Gefahr von Risiken am besten durch präventive Maßnahmen verringert werden, die ihre Eintrittswahrscheinlichkeit und ihre potenziellen Auswirkungen
von vornherein reduzieren. Jedem Haushalt und jedem Individuum stehen Möglichkeiten hierzu zur Verfügung. Jedoch kann der Staat seine Bürger bei ihren Bemühungen
unterstützen und auch von sich aus – durch eine entsprechende Ausgestaltung seiner
Politik – in vielerlei Weise die Relevanz und Signifikanz der Risiken seiner Bürger beeinflussen, so z. B. durch
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— eine vorausschauende und zielgerichtete Gesundheitspolitik, die (i) endemische
und epidemische Krankheiten bekämpft, (ii) Anreize für einen gesunden Lebenswandel und für die Einhaltung von Vorsichtsmaßnahmen bei der Arbeit, im öffentlichen Leben und in der Freizeit schafft (Bekämpfung des Tabakkonsums,
defensives Verhalten im Straßenverkehr, Schutzkleidung und Sicherheitsmaßnahmen am Arbeitsplatz, Ernährungsberatung) und (iii) Vorsorgeuntersuchungen und präventive Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge fördert (Krebsvorsorge, Schwangerschaftsvorsorge etc.),
— eine Bildungspolitik, die v. a. ärmere Haushalte bei der Akkumulation von Humankapital unterstützt, ihnen berufsrelevantes Wissen und praktische Fertigkeiten vermittelt und somit ihre Beschäftigungschancen verbessert und das Risiko
der Arbeitslosigkeit mindert, zugleich aber auch für ein größeres Risikobewusstsein der Bevölkerung sorgt,
— eine langfristig orientierte konsistente und transparente Wirtschaftspolitik, die
(i) überraschende Entscheidungen, häufige Strategiewechsel und diskriminierende Interventionen des Staates in die Wirtschaftsabläufe vermeidet und (ii) die
Akkumulation von Sach-, Finanz-, Human- und Sozialkapital durch ärmere
Haushalte fördert,
— eine vorsichtige Regulierung der Märkte (insbesondere der Arbeits- und Finanzmärkte), die (i) nicht auf den Schutz inländischer Produzenten, sondern der
Konsumenten abzielt und (ii) den Wettbewerb auf den Märkten fördert,
— die Förderung der ländlichen Entwicklung, u. a. durch (i) einen engmaschigeren
Ausbau der Gesundheits- und Bildungssysteme, (ii) eine Verbesserung der Verkehrs-, Versorgung- und Kommunikationsinfrastruktur, (iii) den Abbau von
Steuern und Auflagen, die Produzenten in der Landwirtschaft diskriminieren und
(iv) Maßnahmen, die den Zugang zu Krediten und Möglichkeiten der Ersparnisbildung erleichtern (Förderung der Finanzinfrastruktur, Mikrofinanzprogramme,
Legalisierung von faktischem Landbesitz, der als Sicherheit für Bankkredite
dienen kann),
— Umweltpolitik, die nicht nur für den Erhalt lebenswichtiger Ressourcen wie
bspw. Luft, Boden, Wasser oder Wäldern sorgt, vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen schützt und einer Degradation der Produktionsbedingungen vorbeugt, sondern auch dazu beiträgt, dem Eintritt von Naturkatastrophen und ökologischen Risiken (wie z. B. Überschwemmungen, Waldbrände, Dürrekatastrophen) vorzubeugen,
— das Mainstreaming von gender-Aspekten in Politik, Rechtsprechung und Verwaltungspraxis, das die besonders hohe Relevanz vieler Risiken für Frauen möglicherweise zu verringern vermag. So ist für Frauen mit zahlreichen Risiken
oftmals eine deutlich höhere Gefahr verbunden als für Männer, weil sie in vielen
Ländern schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, im Erbschafts- und
Familienrecht diskriminiert werden, kein Eigentum an Land haben können und
auch von der Verwaltung und Justiz benachteiligt behandelt werden.398
398 Vgl. Holzmann / Jørgensen (2000, 19 f.); World Bank (2000d), Summary, vi–x); World Bank
(2000b, 83–88).
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Abbau der Barrieren zwischen dem formellen und dem informellen Sektor
Darüber hinaus können sich die Regierenden bemühen, Mobilitätsbarrieren abzubauen,
die den Zugang der informell Beschäftigten zu den Märkten und Ressourcen des formellen Sektor behindern bzw. verhindern. Bei diesen Barrieren handelt es sich vielfach um
staatliche Auflagen und Restriktionen, die die einheimischen Produzenten des formellen
Sektors vor Konkurrenten schützen. Werden die Auflagen und Restriktionen entschärft,
so kann dies für die Beschäftigten und Unternehmen im formellen Sektor bedeuten, dass
sie an Rechten, an Sicherheit und v. a. finanziell Einbußen hinnehmen müssen. Gleichzeitig aber eröffnen sich für die ‚outsider‘ im informellen Sektor andere Arbeitnehmer
neue Möglichkeiten. Die Regierungen müssen also einen Kompromiss im Sinne eines
Interessenausgleichs anstreben. Hierzu können sie u. a. beitragen, indem sie
— KMU-Förderprogramme auflegen, die nicht nur Kredite vergeben, sondern die
Unternehmen auch beim Marketing ihrer Produkte unterstützen und ihnen dadurch Zugang zu den Kapital- und Absatzmärkten des formellen Sektors verschaffen,
— Eigentumstitel für faktischen Landbesitz vergeben und dadurch einerseits
Rechtssicherheit für die Besitzer herstellen und ihnen andererseits den Zugang
zu Kapital erleichtern, da nur legales Landeigentum als Kreditsicherheit eingesetzt werden kann,
— das Arbeitsrecht flexibilisieren, das in den meisten Ländern der Region einen rigiden Kündigungsschutz und starre Mindestlöhne vorsieht, wodurch Investoren
abgeschreckt werden und die Schaffung von Arbeitsplätzen im formellen Sektor
behindert wird,
— die Produktmärkte liberalisieren, indem (i) auf Regulierung verzichtet wird, wo
sie ausschließlich Produzenten schützt, nicht aber den Konsumenten zugute
kommt, (ii) die Vergabe von Produktions- und Handelslizenzen weniger restriktiv gehandhabt wird, (iii) Genehmigungs- und Entscheidungsprozesse der Verwaltung und der Justiz vereinfacht, beschleunigt und transparenter werden, und
schließlich v. a.
— für Rechtssicherheit sorgen, indem (i) Gesetze und Verordnungen verständlicher
formuliert und allen Bürgern leicht zugänglich gemacht werden, (ii) die Einhaltung von Rechtsnormen konsequenter überwacht und Zuwiderhandlungen verfolgt werden, (iii) für eine nicht diskriminierende Behandlung der Bürger durch
die Verwaltung und die Justiz gesorgt wird und (iv) Korruption und Ämtermissbrauch bekämpft wird.399
Reform der bestehenden Sozialsysteme
Eine Reform von staatlichen Sozialsystemen hat vielfach eine zweifache Funktion: Einerseits sollen dabei Transfer- und targeting-Ineffizienzen sowie negative Verteilungseffekte verringert werden, so dass die Mitgliedschaft in bzw. Beteiligung an diesen Systemen wieder attraktiver wird – nicht zuletzt auch für informell Beschäftigte. Andererseits kann eine solche Reform auch zu Einsparungen führen, also finanzielle Mittel frei-
399 Vgl. World Bank (2000c, Summary, vi).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nur die Hälfte aller Menschen weltweit ist gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Ernteausfall abgesichert. Dies gilt v.a. für Beschäftigte im informellen Sektor. Lange wurde übersehen, dass hierin nicht nur ein soziales sondern auch ein ökonomisches Problem besteht, da Menschen ohne soziale Sicherheit besonders vorsichtig handeln und zum Beispiel Investitionen in Bildung und Produktionskapital meiden. Sie scheuen die hiermit verbundenen zusätzlichen Risiken und haben Angst, dass ihnen das investierte Geld bei Zahlungsschwierigkeiten nicht kurzfristig zur Verfügung steht.
Das vorliegende Buch gibt Einblick in die Funktionsweise moderner und traditioneller Systeme der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern und zeigt auf, warum viele von ihnen für informell Beschäftigte ungeeignet sind. Es diskutiert, welche Strategien sich eignen, um die soziale Sicherheit im informellen Sektor zu verbessern und geht insbesondere auf das Potenzial von Kleinstversicherungen ein. Diese zeichnen sich durch niedrige Beitragssätze, flexible Zahlungsmodalitäten und begrenzte Leistungen aus und sind somit ganz an die Möglichkeiten und Bedarfe von Beziehern niedriger Einkommen angepasst, ohne auf Subventionen angewiesen zu sein.