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5.4.2 Politische Rahmenbedingungen
Noch eher als an den ökonomischen können KV-Projekte an den politischen Rahmenbedingungen scheitern. Mindestens vier Voraussetzungen müssen erfüllt sein:
Politische Akzeptanz: Zuallererst muss feststehen, dass KV-Projekte von der Regierung des jeweiligen Landes zumindest geduldet werden und dass die Politik den beteiligten Akteuren einen ausreichend großen Handlungsspielraum zugesteht.
Politische Stabilität: Zudem ist auch bei den politischen Rahmenbedingungen ein
Mindestmaß an Stabilität erforderlich. Häufige Staatsstreiche, Unruhen oder Revolutionen führen zur Verunsicherung der Bevölkerung. Unter solchen Umständen ist keine
Institution bereit, die mit dem Aufbau eines KV-Systems verbundenen Risiken auf sich
zu nehmen. Umgekehrt dürften die privaten Haushalte keinem Anbieter das erforderliche Vertrauen entgegenbringen, zumal sie nicht wissen, ob er den nächsten Machtwechsel unbeschadet überleben wird.
Gesetzeskonformität: Sodann muss die Gesetzeslage KV-Arrangements zulassen.
Hindernisse können dabei v. a. in der Regulierung des Versicherungsmarktes und der
Gesetzgebung für Selbsthilfegruppen und NROs bestehen.
Rechtssicherheit: Schließlich muss gewährleistet sein, dass die Einhaltung der Gesetze vom Staat kontrolliert wird und dass Zuwiderhandlungen geahndet werden. Zudem
müssen alle an einem KV-System beteiligten Akteure (Anbieter und Nachfrager) davon
ausgehen können, dass sie ihre Rechte ggf. vor Gericht einklagen können und dass dabei entsprechend der geltenden Gesetze entschieden wird.
Im Folgenden soll (i) auf die Regulierung des Versicherungsmarktes und (ii) auf die
Gesetzgebung für Selbsthilfegruppen und NROs ausführlicher eingegangen werden.
Regulierung des Versicherungsmarktes
Fragen der Regulierung sind für den KV-Ansatz von größter Bedeutung. Die Versicherungsmärkte gehören auch in den Industrieländern zu den am stärksten regulierten
Märkten.
Die meisten Vorschriften sollen letztlich die Konsumenten, i. e. Versicherten schützen. Insbesondere soll verhindert werden, dass der Konkurs bzw. die Zahlungsunfähigkeit eines Versicherers negative Konsequenzen für sie hat. Dies kann auf zweierlei Weise erreicht werden: Entweder man versucht, die Zahlungsunfähigkeit der Versicherungsunternehmen als solche abzuwenden. Hierzu dienen Auflagen über das Mindesteigenkapital, das Anlagen-Portfolio und die Sortimentspolitik der Anbieter sowie über die
Ausbildung und Mindestpraxiserfahrung ihres Personals.382 Oder aber die Anbieter von
Versicherungsprodukten werden dazu verpflichtet, eine bestimmte Liquiditätsreserve zu
halten und einen Rückversicherungsvertrag abzuschließen. Damit werden lediglich die
Konsequenzen des Konkurses bzw. der Zahlungsunfähigkeit von Versicherungsunternehmen abgefedert.
Vorschriften im Bereich des Marketing und der Produktgestaltung sollen demgegen-
über die Transparenz des Marktes verbessern, unlauteren Wettbewerb verhindern und
die Nachfrager vor irreführender Werbung und unüberdachten Vertragsabschlüssen be-
382 Der Nachteil eines solchen Ansatzes ist, dass der natürliche Prozess der Bereinigung des Marktes
von unzureichend wettbewerbsfähigen Anbietern verhindert wird. Somit fehlt der ultimative Mechanismus, um ineffiziente Geschäftspraktiken zu sanktionieren. Vgl. Zweifel / Eisen (2000, 345–
351).
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wahren. So besteht der Sinn von gesetzlich vorgeschriebenen Einheitsverträgen darin,
dass die Produkte von unterschiedlichen Anbietern leichter miteinander verglichen werden können. Zugangsbeschränkungen für Versicherungsagenten und -makler sollen eine
fundierte Beratung der Nachfrager sicherstellen. Und Publizitätspflichten sorgen dafür,
dass sich die Versicherten über die finanzielle Lage der Versicherungsunternehmen informieren können.
Für Kleinstversicherungsprojekte kann eine Überregulierung des Versicherungsmarktes aber auch aus ganz anderen Gründen ein unüberwindbares Problem darstellen.
In den meisten Ländern sind die den Versicherungsmarkt regelnden Gesetze und Verordnung gänzlich auf das konventionelle Versicherungsgeschäft von kommerziellen
Unternehmen zugeschnitten. Als sie erlassen wurden, dachte niemand an die Möglichkeit, dass auch Institutionen des dritten Sektors Versicherungsverträge anbieten oder
vertreiben könnten.383
Für KV-Projekte kann hierin ein ernsthaftes Problem bestehen. Bspw. verfügen
Selbsthilfegruppen und NROs über kein nennenswertes Vermögen und können daher
die in vielen Ländern gültigen Richtlinien über die Mindesteigenkapitalausstattung eines Anbieters von Versicherungsprodukten nicht erfüllen.384 Zudem kann ihnen die
staatliche Regulierung auch in ihrer Rolle als agent im partner-agent model Probleme
bereiten. So müssen sich Versicherungsagenten und -makler vielerorts amtlich akkreditieren lassen. Hierfür müssen sie den Nachweis erbringen, dass sie zuvor eine entsprechende Ausbildung absolviert und mehrere Jahre in einem Versicherungsunternehmen
gearbeitet haben. Diese Bedingung können die Mitarbeiter von NROs und Mitglieder
von Selbsthilfegruppen nur in Ausnahmefällen erfüllen.385
Weiterhin besteht in zahlreichen Ländern, wie in den USA, die Vorschrift, dass
Bank- und Versicherungsgeschäfte institutionell zu trennen sind. Dadurch soll verhindert werden, dass die Einlagen der Versicherten herangezogen werden, um Kreditausfälle im Bankgeschäft auszugleichen, bzw. dass umgekehrt mit den Spareinlagen Verluste
im Versicherungsgeschäft gedeckt werden. Entsprechende Bedenken sind durchaus angebracht. Für KV-Projekte stellt die Vorschrift aber ein Problem dar, da sie verhindert,
dass MFIs ihre Produkte diversifizieren und Versicherungsprodukte anbieten. Möglicherweise ließe sich das Ziel der Vorschrift auch dann erreichen, wenn dieselbe Institution im Bank- und im Versicherungsgeschäft tätig sein dürfte, die beiden Sparten aber
finanziell strikt voneinander trennen müsste.386
Daher müssten viele Staaten, um den Aufbau von KV-Systemen zu ermöglichen, ihre
Versicherungsgesetze liberalisieren oder aber Ausnahmeregelungen für die Anbieter
und Makler von KV-Produkten schaffen. Unter Umständen kann dies auch auf dem
Verordnungsweg geschehen. In Bangladesh z. B. hat die Regierung angeordnet, dass
das Versicherungsgesetz bei Kleinstversicherern flexibel zu interpretieren sei und dies
mit deren sozialpolitischer Funktion begründet. Ganz ähnlich gab die peruanische Versicherungsaufsichtsbehörde einzelnen MFIs ihr stillschweigendes Einverständnis dafür,
dass sie Versicherungspolicen an ihre Kreditkunden verkaufen. Das Argument war, dass
es sich bei den Policen um „einzelne private Verträge“ handele, auf die das Versiche-
383 Vgl. Patel (2002, 12).
384 Vgl. Bennett / Creese / Monasch (1998, 52 ff.); Brown (2001b, 23); Brown / Churchill (1999, 51);
Lund / Srinivas (1999, 66).
385 Vgl. Loewe (2000a), p. 68); Loewe et al. (2001, 9 f. und 23 f.).
386 Vgl. Brown / Churchill (1999, 53); Brown / Churchill (2000, 78).
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rungsgesetz nicht anwendbar sei. Allerdings bergen solche Ausnahmeverfügungen die
Gefahr, dass die Behörden willkürlich entscheiden und dadurch verschiedene Anbieter
unterschiedlich behandeln.387
Gesetzgebung für Selbsthilfegruppen und NROs
Hindernisse für KVs können sich zudem aus den staatlichen Gesetzen für Selbsthilfegruppen und NROs ergeben. Diese enthalten oftmals Passagen, die es zivilgesellschaftlichen Organisationen unmöglich machen, finanzwirtschaftliche Aktivitäten zu betreiben oder aber Gelder ohne explizite Genehmigung der Regierung anzunehmen – was im
Zweifelsfall auch die Erhebung von Versicherungsbeiträgen mit einschließt.388
Natürlich gibt es immer auch Möglichkeiten, solche Regelungen zu umgehen. Genossenschaften und Selbsthilfegruppen z. B., die Versicherungsvereine betreiben, deklarieren die Prämien ihrer Mitglieder bisweilen als „Mitgliedsbeiträge“ oder „Spenden“
und die an ihre Mitglieder ausgezahlten Versicherungsleistungen als „Unterstützung
von notleidenden Mitgliedern durch die Gemeinschaft“, womit ihre finanzwirtschaftlichen Aktivitäten offiziell nicht als Versicherungsgeschäft gelten. Derweil sind manche
Selbsthilfegruppen dazu übergegangen, ihren Versicherungspool als „Solidaritätsfonds“
zu bezeichnen, wobei sie auf schriftliche Versicherungsverträge verzichten. MFIs hingegen schließen bei kommerziellen Versicherungsgesellschaften auf eigene Rechnung
Gruppenversicherungsverträge für ihre Kreditnehmer ab und finanzieren diese durch
erhöhte „Bearbeitungsaufschläge“ auf die vergebenen Kredite, so dass sie rein formal
keine Versicherungsprodukte vertreiben.389
Ob solche Tricks von der staatlichen Bürokratie hingenommen werden, dürfte letztlich immer davon abhängen, inwieweit die Regierenden KV-Projekten grundsätzlich
wohlwollend gegenüberstehen oder nicht. Wenn dies der Fall ist, so werden sie die entsprechenden Gesetze ohnehin über kurz oder lang liberalisieren. Wenn sie die KV-
Systeme hingegen ablehnen, z. B. weil sie den beteiligten Akteuren misstrauen, so werden sie immer einen Grund finden, um sie zu unterbinden, auch wenn nach rein formalen Kriterien nichts gegen sie einzuwenden ist.
5.4.3 Soziokulturelle Rahmenbedingungen
Schließlich hängen die Erfolgsaussichten von KV-Projekten auch von den jeweiligen
soziokulturellen Rahmenbedingungen ab. Die in einer Gesellschaft gültigen religiösen
und traditionell verankerten Werte und sozialen Verhaltensnormen entscheiden maßgeblich darüber, inwieweit die Zielgruppe von KV-Systemen
— ein Bewusstsein für ihre Risiken und für die von ihnen ausgehende Bedrohung
hat,
— antizipative Maßnahmen des Risiko-Managements als sinnvoll betrachtet,
— Unterstützung beim Management ihrer Risiken wünscht,
— das Prinzip des Risiko-Poolings versteht und
387 Vgl. Brown / Churchill (2000, 75 und 78); Patel (2002, 13).
388 Entsprechende Vorgaben macht bspw. das ägyptische Vereinsgesetz. Vgl. Loewe (2000a, 68).
389 Vgl. Brown / Churchill (1999, 52); Brown / Churchill (2000, 77 f.); Siegel / Alwang / Canagarajah
(2001, 25).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nur die Hälfte aller Menschen weltweit ist gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Ernteausfall abgesichert. Dies gilt v.a. für Beschäftigte im informellen Sektor. Lange wurde übersehen, dass hierin nicht nur ein soziales sondern auch ein ökonomisches Problem besteht, da Menschen ohne soziale Sicherheit besonders vorsichtig handeln und zum Beispiel Investitionen in Bildung und Produktionskapital meiden. Sie scheuen die hiermit verbundenen zusätzlichen Risiken und haben Angst, dass ihnen das investierte Geld bei Zahlungsschwierigkeiten nicht kurzfristig zur Verfügung steht.
Das vorliegende Buch gibt Einblick in die Funktionsweise moderner und traditioneller Systeme der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern und zeigt auf, warum viele von ihnen für informell Beschäftigte ungeeignet sind. Es diskutiert, welche Strategien sich eignen, um die soziale Sicherheit im informellen Sektor zu verbessern und geht insbesondere auf das Potenzial von Kleinstversicherungen ein. Diese zeichnen sich durch niedrige Beitragssätze, flexible Zahlungsmodalitäten und begrenzte Leistungen aus und sind somit ganz an die Möglichkeiten und Bedarfe von Beziehern niedriger Einkommen angepasst, ohne auf Subventionen angewiesen zu sein.