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Somit ist keineswegs sicher, dass die Einmalzahlung der Versicherung den gesamten
vom Risiko verursachten Einkommensausfall kompensieren kann. Insbesondere einkommensschwache Versicherungsnehmer könnten aber auch gar nicht die Beiträge aufbringen, die erforderlich wären, um entsprechend hohe Leistungen zu finanzieren. Bei
ihnen kann es daher gar nicht darum gehen, dass sie (bzw. die hinterbliebenen Angehörigen) ihren Lebensunterhalt mit Hilfe der Versicherungsleistung bis ans Lebensende
bestreiten können. Vielmehr soll die Einmalzahlung dazu beitragen, dass die Begünstigten (i) die mit dem Tode des Angehörigen verbundenen Kosten (z. B. für Beisetzung)
decken sowie (ii) Umschulungen oder Investitionen finanzieren und sich dadurch neue
Möglichkeiten der Einkommensgewinnung aufbauen können. Selbst die klassischen
Risikolebensversicherungen, die an Haushalte mit höherem Einkommen verkauft werden, sehen zumeist nur Einmalzahlungen vor, deren Höhe üblicherweise nur bei zwei
bis drei Nettojahreseinkommen des Versicherungsnehmers liegt.367
Unter Umständen kann es sich für Kleinstversicherer allerdings auszahlen, Kapitalan Stelle von Risikolebensversicherungen anzubieten und auch Erwerbsunfähigkeitsversicherungen mit einem Sparplan zu kombinieren. Für den Versicherer hat dies den
Nachteil, dass sein Verwaltungsaufwand steigt und dass er erheblich höhere Rückstellungen bilden und gewinnbringend anlegen muss. Der Nachteil für die Kunden besteht
darin, dass sie höhere Beiträge leisten müssten; zusätzlich zu den Versicherungsbeiträgen müssen sie auch in den Sparplan regelmäßige Raten einzahlen. Dem steht der Vorteil gegenüber, dass die Versicherten nicht nur im Falle des Risikoeintritts, sondern –
nach Ablauf einer bestimmten Frist (z. B. zehn Jahre nach Vertragsabschluss oder beim
Erreichen des üblichen Ruhestandsalters) – auch bei Nichteintritt des Risikos Anspruch
auf eine Versicherungsleistung haben. Möglicherweise können Kleinstversicherer dadurch eine große Zahl von zusätzlichen Kunden anlocken, die davor zurückschrecken,
Beiträge an eine Versicherung zu entrichten, von der sie überhaupt nichts haben, wenn
das versicherte Risiko bei ihnen nicht eintritt. Allerdings werden kombinierte Spar- und
Versicherungspakete bislang nur wenigen Kleinstversicherern angeboten.368
Krankenversicherungen
Eine wesentlich größere Herausforderung scheinen Krankenversicherungsarrangements
für Kleinstversicherer darzustellen. Die WHO369 hat 82 KV-Systeme in allen Teilen der
Welt untersucht und festgestellt, dass kein einziges von ihnen Krankenversicherungsprodukte kostendeckend anbietet. Auch eine Studie der ILO und der Pan-American
Health Organization (PAHO) fand nur ganz wenige KV-Systeme, die hierzu in der Lage sind.370
Offensichtlich lässt sich bei Krankenversicherungen der trade-off, der grundsätzlich
zwischen der finanziellen Nachhaltigkeit eines Versicherungsarrangements und seiner
Attraktivität für einkommensschwache Nachfrager besteht, besonders schwer auflösen.
Die meisten Kleinstversicherer erheben zumindest anfänglich viel zu niedrige Beiträge.
Zwar gelingt es ihnen dadurch, eine relativ große Zahl von Kunden zu gewinnen. Je-
367 Vgl. Brown / Churchill (2000, 4); Ibe (1992, 185 und 189); Morduch (1999, 200).
368 Dies tun bspw. die Asociación de Consultores para el Desarrollo de la Pequeña Empresa
(ACODEP) in Nikaragua, SURCO in Uruguay und Gono Bima in Bangladesh, das von Grameen
Bima zusammen mit der Delta Life Insurance betrieben wird. Vgl. Brown / Churchill (2000, 2).
369 Vgl. Bennett / Creese / Monasch (1998, vii, 26 und 46).
370 Vgl. ILO / PAHO (1999b, 23 f. und 40).
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doch können sie ihre Ausgaben bei weitem nicht mit den Beitragseinnahmen decken.
Viele können nur mit Hilfe von Zuschüssen überleben, die sie von der jeweiligen Regierung bzw. von ausländischen Gebern beziehen. Einige wenige Kleinstversicherer haben
das Problem erkannt und die Beitragssätze ihrer Krankenversicherungsarrangements
angehoben. Dies hatte zur Folge, dass die Mehrheit ihrer Kunden den Vertrag kündigte.
Auch diese Systeme schreiben z. T. noch immer Verluste, weil sie ihre Fixkosten mit
der kleinen Zahl von Beitragszahlern nicht mehr decken können. Vor allem aber hat
sich ihre Mitgliederstruktur komplett geändert. Von ihrer ursprünglichen Zielgruppe
einkommensarmer Haushalte und Individuen blieb ihnen fast kein Kunde treu. Geblieben sind v. a. Mitglieder, die eher der sozialen Mittelschicht zuzurechnen sind.371
Dass der trade-off zwischen der finanziellen Nachhaltigkeit eines KV-Systems und
seiner Fähigkeit, auch Nachfrager mit niedrigen Einkommen zu gewinnen, bei Krankenversicherungsarrangements besonders ausgeprägt ist, lässt sich durch drei Faktoren
erklären:
Erstens hängt der materielle Schaden, den Gesundheitsrisiken verursachen, nicht
vom Einkommen der Geschädigten ab. Wenn eine Person erkrankt und eine medizinische Behandlung benötigt, wird sie stets mit denselben Kosten konfrontiert – ganz
gleich, wie viel sie verdient. Daher muss jeder Krankenversicherungsvertrag dieselbe
Deckungssumme vorsehen und der Beitrag kann nicht – wie etwa bei Lebens- und Erwerbsunfähigkeitsversicherungen – an die Zahlungsfähigkeit der Versicherten angepasst
werden (vgl. Abschnitt 5.2.3). Für ärmere Nachfrager liegen kostendeckende Beitragssätze daher oftmals zu hoch.
Zweitens sind Krankenversicherungspolicen besonders komplizierte Produkte, die
sehr hohe Anforderungen an das versicherungsmathematische Know-how des Versicherers und seine Möglichkeiten der Informationsbeschaffung stellen: Anders als Lebensund Erwerbsunfähigkeitsversicherungen decken Krankenversicherungen im Grunde
eine Vielzahl von Risiken ab. Jede Krankheit stellt ein eigenes Risiko mit einer spezifischen Eintrittswahrscheinlichkeit und einem spezifischen Erwartungsschaden dar. Zudem ist die Varianz des möglichen materiellen Schadens bei diesen Risiken viel größer
als bei vielen anderen Risiken, da die Höhe der Behandlungskosten je nach Schwere der
Erkrankung stark divergieren kann. Theoretisch müsste ein Krankenversicherer über
alle diese Werte von allen nur erdenklichen Krankheiten Informationen besitzen, um
finanziell nachhaltige Vertragsangebote konzipieren zu können. Praktisch ist dies natürlich gar nicht möglich. Professionelle Versicherungsunternehmen haben ihre Erfahrungswerte, wie hoch die durchschnittlichen Gesundheitsausgaben unterschiedlicher
Versicherter in verschiedenen Altersstufen liegen. Auf dieser Basis können sie kostendeckende Beitragssätze festlegen. Wenn einem Kleinstversicherer die Erfahrungswerte
allerdings fehlen, dürfte er hierzu kaum in der Lage sein. Ihm bleibt als einzige Alternative, angemessene Beitragssätze über ein trial and error-Verfahren herauszufinden.372
Drittens bergen Krankenversicherungsprodukte ein deutlich größeres Potenzial für
moral hazard und Versicherungsbetrug als Lebens- und Erwerbsunfähigkeitsversicherungen. Niemand nimmt den eigenen Tod in Kauf, nur weil er über eine Lebensversicherung verfügt, wohingegen durchaus die Gefahr besteht, dass Krankenversicherte im
371 Vgl. Bennett / Creese / Monasch (1998, 46 und 81 ff.); Brown / Churchill (2000, 2, 23 f. und 52–
54); ILO / PAHO (1999b, 18); Musau (1999, xii–xiv); Siegel / Alwang / Canagarajah (2001, 16).
372 Vgl. Bennett / Creese / Monasch (1998, 10); Brown / Churchill (1999, 33); Brown / Churchill
(2000, 11 f., 44–47, 51 f. und 65 f.); Patel (2002, 14); Musau (1999, 18–20 und 25).
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Wissen um ihren Versicherungsschutz leichtsinnig handeln und dabei leichte Erkrankungen bzw. Verletzungen billigend in Kauf nehmen. Ein solches Verhalten kann ein
Versicherer eigentlich nur dann erkennen, wenn er die Versicherten gut kennt und häufig trifft (was bei Selbsthilfegruppen und NROs der Fall sein kann). Ebenso schwierig
ist es für ihn zu überprüfen, ob eine bestimmte medizinische Behandlung bei einem seiner Kunden tatsächlich erforderlich ist. Er ist hierbei auf die Auskünfte von medizinischem Personal angewiesen, das selber ein Interesse daran hat, möglichst aufwändige
Behandlungen durchzuführen und bei der Krankenversicherung abzurechnen. Man
spricht in diesem Fall auch von „angebotsinduzierter Nachfrage“. Insbesondere kommerziellen Versicherungsunternehmen, aber auch MFIs und größeren NROs stehen
kaum Mittel zur Verfügung, um etwas gegen diese Möglichkeiten von moral hazard
und Versicherungsbetrug bei Krankenversicherungsarrangements auszurichten.373
Sachschadensversicherungen
Ganz Ähnliches gilt für Sachschadensversicherungen. Hierzu zählen Versicherungsarrangements, die Kompensation für Schäden an Vermögens- bzw. Gebrauchsgegenständen bzw. deren Verlust leisten. Dabei können sie Schutz vor so unterschiedlichen Risiken wie Feuersbrünsten, Explosionen, Überschwemmungen, Sturm, Hagel, Erdbeben,
Plünderungen oder Diebstahl bieten. Beispiele hierfür sind Hausrats-, Diebstahl-, Flutschadens-, Gebäudebrand- und Sturmschadensversicherungen. Bislang werden Sachschadensversicherungen nur von wenigen Kleinstversicherern angeboten, weshalb auch
nur wenige Erfahrungen mit ihnen vorliegen. Dies lässt aber darauf schließen, dass auch
die Leistungen von Sachschadensversicherungen nur schwer aus den Beiträgen von ärmeren Kunden finanziert werden können.374
Hierfür sind dieselben Ursachen verantwortlich wie bei Krankenversicherungen. Moral hazard und Versicherungsbetrug dürften sogar noch größere Gefahren darstellen. Im
Falle von moral hazard liegt dies daran, dass die Versicherten, wenn sie Vorsichtsmaßnahmen unterlassen, i. d. R. nur mit materiellen Schäden rechnen müssen, während Gesundheitsrisiken stets auch immaterielle Schäden verursachen (das physische und psychische Leiden des Erkrankten). Wer voll gegen einen Sachschaden versichert ist, hat
daher wenig Anreiz, auf eigene Kosten Maßnahmen zu ergreifen, die diesem Schaden
vorbeugen könnten. Betrugsversuche werden zudem bei Sachschadensversicherungen
durch ein Zurechnungsproblem begünstigt, das v. a. bei beweglichen Objekten besteht.
Wenn es darauf ankommt, kann ein Krankenversicherer von dritter Seite (bspw. einem
Vertrauensarzt) prüfen lassen, ob einer ihrer Kunden tatsächlich erkrankt ist oder aber
versucht hat, die Kosten einer medizinischen Behandlung bei einer ganz anderen Person
abzurechnen. Demgegenüber kann der Kunde von Sachschadenversicherungen beschädigte Gegenstände präsentieren, die seinem eigenen, versicherten Objekt ähneln. Einer
Diebstahl- oder Hausratsversicherung kann er zudem für einen verschwundenen bzw.
zerstörten Gegenstand einen übertrieben hohen Wert angeben, ohne dass diese den Betrugsversuch mit angemessenem Aufwand nachweisen könnte.375
Demgegenüber stellt adverse Selektion bei Sachversicherungen ein weniger großes
Problem dar als bei Krankenversicherungen. Dem Versicherer ist es eher möglich,
373 Vgl. Bennett / Creese / Monasch (1998, 36, 40 und 51); Brown / Churchill (2000, 48 und 55–57);
ILO / PAHO (1999b, 21); Musau (1999, 15–18); Patel (2002, 18).
374 Vgl. Brown / Churchill (2000, 63 f.); Patel (2002, 9 und 12).
375 Vgl. Brown / Churchill (2000, 68).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nur die Hälfte aller Menschen weltweit ist gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Ernteausfall abgesichert. Dies gilt v.a. für Beschäftigte im informellen Sektor. Lange wurde übersehen, dass hierin nicht nur ein soziales sondern auch ein ökonomisches Problem besteht, da Menschen ohne soziale Sicherheit besonders vorsichtig handeln und zum Beispiel Investitionen in Bildung und Produktionskapital meiden. Sie scheuen die hiermit verbundenen zusätzlichen Risiken und haben Angst, dass ihnen das investierte Geld bei Zahlungsschwierigkeiten nicht kurzfristig zur Verfügung steht.
Das vorliegende Buch gibt Einblick in die Funktionsweise moderner und traditioneller Systeme der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern und zeigt auf, warum viele von ihnen für informell Beschäftigte ungeeignet sind. Es diskutiert, welche Strategien sich eignen, um die soziale Sicherheit im informellen Sektor zu verbessern und geht insbesondere auf das Potenzial von Kleinstversicherungen ein. Diese zeichnen sich durch niedrige Beitragssätze, flexible Zahlungsmodalitäten und begrenzte Leistungen aus und sind somit ganz an die Möglichkeiten und Bedarfe von Beziehern niedriger Einkommen angepasst, ohne auf Subventionen angewiesen zu sein.