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Die bisherigen Erfahrungen deuten somit darauf hin, dass das partner-agent model
allen anderen Organisationsmodellen überlegen zu sein scheint. Dies gilt insbesondere
für Krankenversicherungsarrangements, die besonders hohe Ansprüche an den Versicherer stellen – zumindest, wenn ihre Zielgruppe Haushalte und Individuen mit niedrigem Einkommen sind.361
5.3 Produkt
Nun stellt sich die Frage, welche Produkte für KV-Systeme überhaupt in Betracht
kommen, i. e. welche Risiken sie generell und im Einzelfall versichern können und sollen. Dies hängt im Wesentlichen von vier Kriterien ab:
— Nachfrage: Die grundlegendste Bedingung ist, dass sich die Angehörigen der
Zielgruppe der Bedrohung eines Risikos bewusst sind, Interesse daran haben,
beim Management dieses Risikos unterstützt zu werden, und bereit sind, hierfür
Beiträge zu entrichten.
— Realisierbarkeit: Sodann muss sichergestellt sein, ob eine Versicherung gegen
das Risiko grundsätzlich möglich ist, i. e. ob es sich durch Risiko-Pooling managen lässt. Kovariierende Risiken z. B. kommen nicht in Betracht (vgl. Abschnitt
2.1).
— Angemessenheit: Das Risiko-Pooling sollte aber nicht nur eine mögliche, sondern auch eine überlegene Strategie der Risiko-Absicherung darstellen. Es ist also zu prüfen, ob sich ein Risiko nicht effektiver und effizienter durch andere Instrumente managen lässt. So empfehlen sich bspw. bei Ereignissen mit geringer
Unsicherheit über den Eintrittszeitpunkt und die möglichen Schadensfolgen oftmals Spar- an Stelle von Versicherungsarrangements, vgl. Abschnitt 3.4.1).
— Finanzierbarkeit: Schließlich ist zu klären, ob ein Risiko auch im Rahmen von
KV-Arrangements gemanagt werden kann, i. e. ob das entsprechende Versicherungsprodukt auch dann finanziell selbsttragend angeboten werden kann, wenn
es sich bei den Nachfragern um Personen mit niedrigen und instabilen Einkommen handelt.362
Im Folgenden soll das Potenzial von vier typischen Versicherungsprodukten für KV-
Systeme v. a. im Hinblick auf das vierte Kriterium diskutiert werden: von (i) Lebensund Erwerbsunfähigkeitsversicherungen, (ii) Krankenversicherungen, (iii) Sachschadensversicherungen und (iv) Ernteausfallversicherungen.
Nachfrage: Alle vier Produkte dürften fast überall auf der Welt auf die Nachfrage
von Haushalten und Individuen mit niedrigem Einkommen treffen. Dies gilt insbesondere für Krankenversicherungen, weil Gesundheitsrisiken relativ häufig eintreten und
den meisten Menschen die von häufigen Risiken ausgehende Bedrohung viel stärker
bewusst ist als die Gefahr, der sie durch seltenere Risiken ausgesetzt sind – selbst wenn
Partner für sein Lebensversicherungsprogramm gesucht hat. Vgl. Brown / Churchill (2000, 12 und
25).
361 Vgl. Loewe (2006); Loewe (2001, 8 f.); McCord (2001b); Patel (2002, 29); Siegel / Alwang / Canagarajah (2001, 21).
362 Vgl. Brown / Green / Lindquist (2000, 5–7); Brown / McCord (2000, 3); Del Conte (2000, 12–14);
Loewe et al. (2001, 57–62); Lund / Srinivas (1999, 75–79); Patel (2002, 9).
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diese möglicherweise viel größere Schäden anrichten können (vgl. Abschnitt 2.2). Jedoch werden auch Lebens- und Erwerbsunfähigkeitsversicherungen und Sachschadensversicherungen von einkommensschwachen Gruppen nachgefragt. Dies belegen empirische Untersuchungen und die Erfahrungen der bereits bestehenden KV-Systeme.363
Nachfrage nach Ernteausfallversicherungen besteht natürlich v. a. bei den Selbständigen
im Agrarsektor.
Realisierbarkeit: Auch ist es prinzipiell möglich, die von den vier o. g. Versicherungsprodukten abgedeckten Risiken zu poolen. Bei Lebens- und Erwerbsunfähigkeitsversicherungen, Krankenversicherungen und Sachschadensversicherungen ergibt sich
dies schon daraus, dass sie überall auf der Welt gängige Produkte des klassischen Geschäftes von Versicherungsunternehmen darstellen. Auch Ernteausfallversicherungen
können unter bestimmten Umständen angeboten werden. Dies wird weiter unten näher
erläutert.
Angemessenheit: Weiterhin sind die vier Versicherungsprodukte anderen Instrumenten des Risiko-Managements wie z. B. Sparplänen überlegen. Lebens- und Erwerbsunfähigkeitsversicherungen bieten Schutz vor den finanziellen Folgen des frühzeitigen
Todes bzw. der Erwerbsunfähigkeit eines Erwerbstätigen. In beiden Fällen handelt es
sich um seltene Risiken, i. e. Risiken, über deren möglichen Eintrittszeitpunkt ein hohes
Maß an Unsicherheit besteht. Sie lassen sich daher nur schwer mit Ersparnissen managen. Allenfalls kommen noch Maßnahmen der Risiko-Diversifikation hinzu (indem
z. B. möglichst viele Mitglieder einer Familie einer Erwerbstätigkeit nachgehen, so dass
der Ausfall eines einzelnen nicht ganz so stark ins Gewicht fällt). Doch auch einer solchen Strategie sind Grenzen gesetzt, v. a. wenn nur eine oder zwei Personen in einem
Haushalt für eine Erwerbstätigkeit in Betracht kommen.
Ähnliches gilt für Sachschäden, zu denen u. a. Hausbrände, Flutschäden, Diebstähle
und Sturmschäden zählen. Auch diese Risiken treten selten ein und lassen sich daher
deutlich leichter durch eine Versicherung als durch Ersparnisbildung absichern (vgl.
Abschnitt 3.4.1).
Bei Gesundheitsrisiken muss unterschieden werden. Leichte Krankheiten treten häufiger ein und können zumeist zu relativ moderaten Kosten ambulant behandelt werden.
Sie könnten daher ggf. auch durch die Sammlung von Ersparnissen abgefedert werden.
Seltenere Gesundheitsrisiken hingegen, die zu hohen Ausgaben führen (z. B. durch Unterbringung und Behandlung im Krankenhaus oder dadurch, dass sie chronisch sind und
wiederholte Arztbesuche und eine dauerhafte Einnahme von Medikamenten erforderlich
machen), lassen sich nur mit einer Versicherung adäquat managen.
Ernteausfälle in der Landwirtschaft sind Risiken mit einer hohen Eintrittswahrscheinlichkeit. Man könnte also meinen, dass sie sich auch mit Hilfe von Ersparnissen bzw.
durch Vorratsbildung abfedern lassen. Jedoch können Missernten auch in mehreren Jahren hintereinander auftreten und dann über lange Zeiträume ganz ausbleiben. Insbesondere in Entwicklungsländern dürfte es Landwirten schwer fallen, sich auch auf diese
Möglichkeit adäquat durch die Sammlung von Ersparnissen bzw. Vorräten einzustellen.
Finanzierbarkeit: Der Hauptunterschied zwischen den vier hier diskutierten Produkten besteht im Grad ihrer Eignung speziell für KV-Systeme, i. e. darin, inwieweit sie
auch Haushalten und Individuen mit niedrigem Einkommen finanziell selbsttragend
angeboten werden können. Nach diesem Kriterium kommen für Kleinstversicherer in
erster Linie Lebens- und Erwerbsunfähigkeitsprodukte in Betracht, die keine Renten,
363 Vgl. Del Conte (2000, 7 und 12); Loewe et al. (2001, 57 f. und 143); Lund / Srinivas (1999, 47 f.).
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sondern nur einmalige Zahlungen nach Risikoeintritt gewähren. Auch Ernteausfallversicherungen können arrangiert werden, sofern nicht die Ernteausfälle selbst, sondern deren Ursachen versichert werden.
Hingegen dürfte es nur wenigen Kleinstversicherern gelingen, Kranken- und Sachschadensversicherungen anzubieten, ohne dabei Verluste in Kauf zu nehmen. Dies liegt
einerseits daran, dass es sich in beiden Fällen um komplexe Produkte handelt, bei denen
es v. a. für Kleinstversicherer ohne größeres versicherungsspezifisches Know-how
schwierig ist, finanziell nachhaltige Verträge zu konzipieren. Andererseits können bei
Kranken- und Sachschadensversicherungen selbst Anbieter mit intensiven Beziehungen
zur Zielgruppe (wie z. B. Selbsthilfegruppen und NROs) den Gefahren von adverser
Selektion, moral hazard und Versicherungsbetrug nicht im erforderlichen Umfang entgegensteuern. Dies soll im Folgenden anhand der Erfahrungen der bereits bestehenden
KV-Systeme weiter ausgeführt werden.
Lebens- und Erwerbsunfähigkeitsversicherungen
Die besten Erfahrungen machten Kleinstversicherer bislang mit Risikolebens- und Erwerbsunfähigkeitsversicherungen. Fast allen Kleinstversicherern, die Risikolebens- und
Erwerbsunfähigkeitsversicherungen anbieten, gelang es, für diese Produkte eine relativ
hohe Zahl von Kunden zu gewinnen, ohne dabei Verluste in Kauf nehmen zu müssen.
Im Durchschnitt liegen ihre Ausgaben bei lediglich 55 % der Einnahmen.364
Ein Grund hierfür ist, dass die Anbieter von Lebens- und Erwerbsunfähigkeitsversicherungen nur in begrenztem Umfang mit Informationsproblemen konfrontiert werden.
Insbesondere moral hazard stellt für sie kaum eine Gefahr dar. Keiner ihrer Kunden
dürfte freiwillig den eignen Tod oder eine Erwerbsunfähigkeit in Kauf nehmen, nur weil
er (sie) über eine Lebens- bzw. Erwerbsunfähigkeitsversicherung verfügt. Ähnlich gering ist die Betrugsgefahr, da jeder Versicherer mit begrenztem Aufwand überprüfen
kann, ob einer seiner Kunden tatsächlich gestorben bzw. erwerbsunfähig ist. Um
schließlich auch adverse Selektion zu verhindern, können Kleinstversicherer Gruppenan Stelle von Individualversicherungsverträgen anbieten (vgl. Abschnitt 5.2.3). Dies hat
sich in vielen bereits bestehenden KV-Systemen bewährt.365
Vor allem aber sind Risikolebens- und Erwerbsunfähigkeitsversicherungen vergleichsweise einfache Produkte – sofern ihre Leistungen nicht in regelmäßigen Renten,
sondern nur einer Einmalzahlung bestehen. Dies führt dazu, dass der mit ihnen verbundene Verwaltungsaufwand begrenzt bleibt. Zudem kann ein kostendeckender Prämiensatz auch ohne größeres versicherungsmathematisches Know-how berechnet werden.
Informationen über die durchschnittliche Eintrittswahrscheinlichkeit können leicht beschafft werden und die Deckungssumme ergibt sich unmittelbar aus der Höhe der vertraglich vereinbarten Einmalzahlung. Demgegenüber stellen Rentenversicherungen, die
nach Eintritt des versicherten Risikos wiederkehrende Leistungen vorsehen, wesentlich
größere Anforderungen an das Know-how des Versicherers und bringen einen deutlich
höheren Verwaltungsaufwand mit sich.366
Zwar haben einmalige Leistungen den Nachteil, dass für die Versicherten nach wie
vor Unsicherheit über die Auswirkungen des Risikos besteht. Sie wissen nicht, wie früh
oder spät sie vom Risiko getroffen werden und wie lange sie danach noch leben werden.
364 Vgl. Brown / Churchill (2000, 32–35).
365 Vgl. Brown / Churchill (2000, 32–35).
366 Vgl. Loewe et al. (2001, 57 f.).
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Somit ist keineswegs sicher, dass die Einmalzahlung der Versicherung den gesamten
vom Risiko verursachten Einkommensausfall kompensieren kann. Insbesondere einkommensschwache Versicherungsnehmer könnten aber auch gar nicht die Beiträge aufbringen, die erforderlich wären, um entsprechend hohe Leistungen zu finanzieren. Bei
ihnen kann es daher gar nicht darum gehen, dass sie (bzw. die hinterbliebenen Angehörigen) ihren Lebensunterhalt mit Hilfe der Versicherungsleistung bis ans Lebensende
bestreiten können. Vielmehr soll die Einmalzahlung dazu beitragen, dass die Begünstigten (i) die mit dem Tode des Angehörigen verbundenen Kosten (z. B. für Beisetzung)
decken sowie (ii) Umschulungen oder Investitionen finanzieren und sich dadurch neue
Möglichkeiten der Einkommensgewinnung aufbauen können. Selbst die klassischen
Risikolebensversicherungen, die an Haushalte mit höherem Einkommen verkauft werden, sehen zumeist nur Einmalzahlungen vor, deren Höhe üblicherweise nur bei zwei
bis drei Nettojahreseinkommen des Versicherungsnehmers liegt.367
Unter Umständen kann es sich für Kleinstversicherer allerdings auszahlen, Kapitalan Stelle von Risikolebensversicherungen anzubieten und auch Erwerbsunfähigkeitsversicherungen mit einem Sparplan zu kombinieren. Für den Versicherer hat dies den
Nachteil, dass sein Verwaltungsaufwand steigt und dass er erheblich höhere Rückstellungen bilden und gewinnbringend anlegen muss. Der Nachteil für die Kunden besteht
darin, dass sie höhere Beiträge leisten müssten; zusätzlich zu den Versicherungsbeiträgen müssen sie auch in den Sparplan regelmäßige Raten einzahlen. Dem steht der Vorteil gegenüber, dass die Versicherten nicht nur im Falle des Risikoeintritts, sondern –
nach Ablauf einer bestimmten Frist (z. B. zehn Jahre nach Vertragsabschluss oder beim
Erreichen des üblichen Ruhestandsalters) – auch bei Nichteintritt des Risikos Anspruch
auf eine Versicherungsleistung haben. Möglicherweise können Kleinstversicherer dadurch eine große Zahl von zusätzlichen Kunden anlocken, die davor zurückschrecken,
Beiträge an eine Versicherung zu entrichten, von der sie überhaupt nichts haben, wenn
das versicherte Risiko bei ihnen nicht eintritt. Allerdings werden kombinierte Spar- und
Versicherungspakete bislang nur wenigen Kleinstversicherern angeboten.368
Krankenversicherungen
Eine wesentlich größere Herausforderung scheinen Krankenversicherungsarrangements
für Kleinstversicherer darzustellen. Die WHO369 hat 82 KV-Systeme in allen Teilen der
Welt untersucht und festgestellt, dass kein einziges von ihnen Krankenversicherungsprodukte kostendeckend anbietet. Auch eine Studie der ILO und der Pan-American
Health Organization (PAHO) fand nur ganz wenige KV-Systeme, die hierzu in der Lage sind.370
Offensichtlich lässt sich bei Krankenversicherungen der trade-off, der grundsätzlich
zwischen der finanziellen Nachhaltigkeit eines Versicherungsarrangements und seiner
Attraktivität für einkommensschwache Nachfrager besteht, besonders schwer auflösen.
Die meisten Kleinstversicherer erheben zumindest anfänglich viel zu niedrige Beiträge.
Zwar gelingt es ihnen dadurch, eine relativ große Zahl von Kunden zu gewinnen. Je-
367 Vgl. Brown / Churchill (2000, 4); Ibe (1992, 185 und 189); Morduch (1999, 200).
368 Dies tun bspw. die Asociación de Consultores para el Desarrollo de la Pequeña Empresa
(ACODEP) in Nikaragua, SURCO in Uruguay und Gono Bima in Bangladesh, das von Grameen
Bima zusammen mit der Delta Life Insurance betrieben wird. Vgl. Brown / Churchill (2000, 2).
369 Vgl. Bennett / Creese / Monasch (1998, vii, 26 und 46).
370 Vgl. ILO / PAHO (1999b, 23 f. und 40).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nur die Hälfte aller Menschen weltweit ist gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Ernteausfall abgesichert. Dies gilt v.a. für Beschäftigte im informellen Sektor. Lange wurde übersehen, dass hierin nicht nur ein soziales sondern auch ein ökonomisches Problem besteht, da Menschen ohne soziale Sicherheit besonders vorsichtig handeln und zum Beispiel Investitionen in Bildung und Produktionskapital meiden. Sie scheuen die hiermit verbundenen zusätzlichen Risiken und haben Angst, dass ihnen das investierte Geld bei Zahlungsschwierigkeiten nicht kurzfristig zur Verfügung steht.
Das vorliegende Buch gibt Einblick in die Funktionsweise moderner und traditioneller Systeme der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern und zeigt auf, warum viele von ihnen für informell Beschäftigte ungeeignet sind. Es diskutiert, welche Strategien sich eignen, um die soziale Sicherheit im informellen Sektor zu verbessern und geht insbesondere auf das Potenzial von Kleinstversicherungen ein. Diese zeichnen sich durch niedrige Beitragssätze, flexible Zahlungsmodalitäten und begrenzte Leistungen aus und sind somit ganz an die Möglichkeiten und Bedarfe von Beziehern niedriger Einkommen angepasst, ohne auf Subventionen angewiesen zu sein.