154
gern, um eine adverse Selektion von Mitgliedern mit überdurchschnittlich großen Risiken zu verhindern. Bspw. ist auf lokaler Ebene oftmals bekannt, wer gesundheitlich
vorbelastet ist und somit ein größeres finanzielles Risiko für Kranken-, Erwerbsunfähigkeits- und Lebensversicherungssysteme darstellt. Ebenso weiß man, wessen Haus
einer überproportionalen Brand-, Wasserschadens-, Einbruchs- oder gar Einsturzgefahr
ausgesetzt ist.
5.2.3 Lösungsansätze
Ganz offensichtlich besteht also ein trade-off zwischen den jeweiligen Stärken und
Schwächen von unterschiedlichen Trägerinstitutionen bei der Organisation nachhaltiger
Versicherungssysteme für Nachfrager mit niedrigen und instabilen Einkommen (vgl.
Übersicht 8, S. 160).
In diesem trade-off besteht ein großes Problem für den KV-Ansatz, gleichzeitig aber
auch eine Chance. Solange der trade-off als Problem begriffen wird, wird man nach Lösungen hierfür suchen. Dann bieten sich zwei mögliche Ansatzpunkte an: Entweder man
versucht, kommerzielle Versicherungsunternehmen bei der Überwindung ihrer Defizite
im Bereich der Kosteneffizienz, der Informationsbeschaffung und der Vertrauenswürdigkeit in den Augen der Zielgruppe zu unterstützen. Analog zur Terminologie beim
Kleinstkreditkonzept könnte man ein solches Vorgehen downscaling nennen (vgl. Übersicht 7). Oder aber man fördert das upgrading von Selbsthilfegruppen bzw. NROs, indem man sie bei der Verbesserung ihrer Kapazitäten bei der Vertragsgestaltung, beim
Risiko-Pooling, bei der Vermeidung von widersprüchlichen Anreizen und bei der Investition von Versicherungsreserven unterstützt.
Daneben besteht aber noch eine dritte Möglichkeit, die im Kleinstkreditgeschäft als
linking-Modell bezeichnet wird. Sieht man den trade-off nämlich als Chance, so stellt
sich die Frage, wie die jeweiligen komparativen Vorteile der verschiedenen denkbaren
Anbieter bzw. Organisatoren von Versicherungsarrangements sinnvoll miteinander
kombiniert werden können. Das linking-Modell läuft also auf eine Kooperation von unterschiedlichen Trägerinstitutionen bei der Versorgung ärmerer Bevölkerungsgruppen
mit Versicherungsprodukten hinaus.
Downscaling von kommerziellen Versicherungsunternehmen
Bis zu einem gewissen Grad können kommerzielle Versicherungsunternehmen auch bei
Angeboten für das Niedrigpreissegment des Versicherungsmarktes die Gefahren begrenzen, die auf Informationsasymmetrien zurückgehen (adverse Selektion, moral hazard und Versicherungsbetrug). Sehr viel schwerer dürfte es ihnen hingegen fallen, ihre
Transaktions- und Verwaltungskosten zu senken und das Vertrauen der Zielgruppe zu
gewinnen (vgl. Übersicht 8, S. 160).
Begrenzung der Gefahr von adverser Selektion: Das wirksamste Mittel, um adverse
Selektion zu verhindern, besteht in einer allgemeinen oder zielgruppenspezifischen Versicherungspflicht. Nur wenn alle Bewohner eines Landes bzw. einer Region, alle Erwerbstätigen in einer Wirtschaftsbranche, alle Angehörigen einer Berufsgruppe oder
alle Arbeitnehmer in einem Unternehmen zum Abschluss der Versicherung gezwungen
sind, ist auszuschließen, dass diese nur von Personen mit besonders großen Risiken
nachgefragt wird. Allerdings kann eine Versicherungspflicht nur vom Staat auferlegt
155
werden. In dieser Hinsicht ist die Sozialversicherung anderen Versicherungssystemen
überlegen.
Andererseits können auch kommerzielle Versicherer (ebenso wie andere Anbieter
von Versicherungsarrangements) eine ganz Reihe von Maßnahmen322 ergreifen, um die
Gefahr von adverser Selektion zu reduzieren. Diese Maßnahmen werden bereits heute in
einigen Bereichen des klassischen Versicherungsgeschäfts angewandt. Sehr viel dringlicher wären sie allerdings, wenn Versicherungsunternehmen KV-Verträge anbieten wollten. Beispiele für solche Maßnahmen sind vertraglich vereinbarte Wartezeiten, Gruppenversicherungsverträge und eine Marktdiskriminierung durch differenzierte Vertragskonditionen:
— Warte- bzw. Anwartschaftszeiten dienen dazu, dass sich Nachfrager, die bereits
unter den Folgen eines Risikos leiden oder aber wissen bzw. ahnen, dass sie bald
von einem Risiko getroffen werden, nicht versichern und sofort nach Vertragsabschluss Forderungen geltend machen können. So gewähren Kranken- und Erwerbsunfähigkeitsversicherungen vielfach erst nach einigen Monaten Kompensationszahlungen, damit ihre Verträge nicht erst dann gekauft werden, wenn das
Risiko bereits eingetreten, der Schaden aber möglicherweise noch nicht erkennbar ist.
— Gruppenversicherungsverträge haben den Vorteil, dass der Versicherer mehrere
Nachfrager mit unterschiedlich großen Risiken gleichzeitig als Kunden gewinnt.
Wenn z. B. die Risikoeintrittswahrscheinlichkeit bei einem Mitglied dieser
Gruppen besonders hoch ist (z. B. weil es schon relativ alt ist), wird dies dadurch
ausgeglichen, dass die Risikowahrscheinlichkeit bei anderen Mitgliedern deutlich kleiner ist. Die Voraussetzung hierfür ist, dass die versicherte Gruppe nicht
ausschließlich für den Zweck der Versicherung gebildet wurde, da dies eine Zusammensetzung nach strategischen Gesichtspunkten ermöglichen würde. Vielmehr sollten die Gruppen bereits vor Abschluss der Versicherung bestanden haben und durch möglichst enge Beziehungen miteinander verbunden sein. Ideale
Gruppen in diesem Sinne sind Großfamilien, Dorfgemeinschaften oder die Belegschaften von Unternehmen, die der Versicherung als Ganzes beitreten. Gruppenverträge haben den zusätzlichen Vorteil, dass die Verwaltungs- und Transaktionskosten pro Einzelperson etwas niedriger liegen als bei Individualverträgen.323
— Differenzierte Vertragskonditionen zielen auf eine Selbstselektion von Nachfragern mit unterschiedlich großen Risiken ab. Der Versicherer bietet unterschiedliche Verträge an, die jeweils nur für bestimmte Segmente des Marktes von Interesse sind, so dass Personen mit größeren Risiken tatsächlich auch nur den Vertrag nachfragen, der für sie bestimmt ist. Im einfachsten Fall stehen den Nachfragern zwei Verträge zur Auswahl: Der erste besteht in einer Vollversicherung,
ist aber vergleichsweise teuer und daher für Personen mit kleinen Risiken unattraktiv. Der zweite hingegen ist deutlich günstiger, sieht aber eine nicht unwesentliche Eigenbeteiligung der Versicherten an auftretenden Schäden vor. Er ist
darum für Nachfrager mit großen Risiken uninteressant. Eine entsprechende
Marktdiskriminierung wird von privaten Krankenversicherern praktiziert.
322 Vgl. Brown / Churchill (1999, 38 f.); Wiesmann / Jütting (2000, 202).
323 Vgl. Brown / Churchill (1999, 31–33).
156
Begrenzung der Gefahr von moral hazard und Versicherungsbetrug: Auch die Gefahr von moral hazard und Versicherungsbetrug kann von kommerziellen Versicherern
gesenkt werden. U. a. können sie Eigenbeteiligungen verlangen oder Schadensfreiheitsrabatte gewähren:
— Eigenbeteiligungen stellen für die Versicherten einen zusätzlichen Anreiz dar,
vorsichtig mit dem versicherten Risiko umzugehen und sinnvolle Maßnahmen
der Risiko-Prävention zu ergreifen. Empirische Untersuchungen belegen, dass
selbst Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit nur selten eine Vollversicherung anbieten.
— Schadensfreiheitsrabatte verringern auch die Gefahr des Versicherungsbetrugs.324
Senkung der Verwaltungs- und Transaktionskosten: Sehr viel schwerer als die Informationsprobleme lassen sich die Probleme lösen, die mit den hohen Verwaltungsund Transaktionskosten von kommerziellen Versicherungsunternehmen verbunden sind.
Die Verwaltungskosten zu senken, ist schwer. Hierzu können allenfalls Gruppenversicherungsverträge einen geringen Beitrag leisten. Jedoch steht den Versicherungsunternehmern auch zur Verringerung ihrer Transaktionskosten als einziges Instrument ihre
Vertriebswegepolitik zur Verfügung. Im Normalfall verursacht der Direktvertrieb
(durch Telefonmarketing, Außendienststellen und eigene Versicherungsagenten) die
geringsten Kosten für das Unternehmen. Dafür fallen beim Kunden entsprechend höhere Kosten an, v. a. weil er die Angebote verschiedener Versicherer vergleichen und das
für ihn am besten geeignete Angebot auswählen muss.325 Unter bestimmten Voraussetzungen kann allerdings ein indirekter Vertrieb für beide Seiten von Vorteil sein. Dies ist
insbesondere dann der Fall, wenn eine Versicherungsgesellschaft mit unabhängigen
Vertreibern (Maklern, Agenten oder Mehrfachvertretern) zusammenarbeitet, die deutlich geringere Personal- und Betriebskosten haben. Somit kommen v. a. Institutionen in
Betracht, die bereits Erfahrungen mit anderen finanzwirtschaftlichen Produkten haben
und über ein engmaschiges Filial- bzw. Vertriebsnetz verfügen wie z. B. kommunale
Verbände, Entwicklungsbanken, Mikrofinanzinstitutionen oder Genossenschaftsverbände.326
Verbesserung des Vertrauens der Zielgruppe: Eine Partnerschaft mit Institutionen
kann den zusätzlichen Vorteil haben, dass das Vertrauen der Nachfrager in den Versicherer und seine Angebote gestärkt wird. Ansonsten bestehen für kommerzielle Versicherungsunternehmen nur wenige Möglichkeiten, ihr Image bei der Zielgruppe zu beeinflussen.327
Upgrading von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit
Auch Selbsthilfegruppen dürfte es schwer fallen, ihre Schwächen zu überwinden. Ebenso wie es ihnen nur in wenigen Fällen gelang, finanziell nachhaltige Kleinstkreditsysteme aufzubauen (vgl. Übersicht 7), sind wahrscheinlich auch nur wenige Selbsthilfegruppen in der Lage, nachhaltige Versicherungsarrangements für einkommensschwache
324 Vgl. Brown / Churchill (1999, 36–38); Dror / Jacquier (1999); Hoogeveen (2001, 108); Shavell
(1979).
325 Vgl. Brown / Churchill (1999, 42–44); Hielscher (1993, 37–57).
326 Vgl. Badelt (1999, 19); Horsch (2004); Meessen / Criel / Kegels (2002, 81).
327 Vgl. Loewe et al. (2001, 56); Horsch (2004); Meessen / Criel / Kegels (2002, 83 f.).
157
Nachfrager zu organisieren. Ein solches Unterfangen ist allerdings nicht vollkommen
unmöglich. Insbesondere in Deutschland, Japan und Korea stellten Versicherungsvereine den Nukleus der sich im 19. Jahrhundert herausbildenden Versicherungswirtschaft
dar. Noch heute sind mehr als die Hälfte der 50 weltweit größten Versicherungsunternehmen Versicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit, d. h. dass ihre Kunden
zugleich auch Teilhaber der Gesellschaften sind.328
Verbesserung der Erwartungssicherheit der Mitglieder: Am ehesten dürfte es Versicherungsvereinen gelingen, die Erwartungs- und Rechtssicherheit ihrer Mitglieder zu
verbessern. So hat sich z. B. die Praxis einiger westafrikanischer Selbsthilfegruppen
bewährt, die allgemein respektierte Persönlichkeiten aus der Nachbarschaft mit der
Verwaltung ihrer Versicherungsfonds betraut haben, die es nicht nötig haben, sich am
Vermögen der Gruppenmitglieder zu bereichern. Dadurch könnten sie leicht ihren guten
Ruf verlieren. Ebenso haben sich Versicherungsvereine bewährt, die von religiösen Institutionen verwaltet werden, die das Vertrauen der Bevölkerung genießen.329 Darüber
hinaus können die Versicherungsvereine Kontrollräte einsetzen, die die Arbeit der mit
der Verwaltung der Versicherungsfonds beauftragten Personen überwachen. Auch bei
ihnen muss es sich nicht notwendigerweise um Gruppenmitglieder handeln. Diese Kontrollräte könnten gleichzeitig als Schiedsrichter fungieren, die bei Meinungsverschiedenheiten zwischen der Verwaltung der Vereine und einzelnen Mitgliedern vermitteln,
wo die Versicherungsvereine keine staatliche Anerkennung finden und daher Auseinandersetzungen nicht vor Gericht austragen können.330
Verbesserung des Risiko-Poolings: Ebenso stehen Versicherungsvereinen Möglichkeiten zur Verfügung, um die Risiken ihrer Mitglieder über eine größere Zahl von Versicherten zu poolen. Bspw. könnten sie sich zu Bündnissen zusammenschließen, deren
Mitgliedsvereine sich gegenseitig rückversichern, i. e. einander Darlehen gewähren,
wenn es in einem Versicherungsverein zu einer zufälligen Häufung von Schadensfällen
kommt und er dadurch in vorübergehende Zahlungsschwierigkeiten gerät. Auch andere
Formen der Rückversicherung sind denkbar, z. B. bei kommerziellen Rückversicherungsunternehmen. Zudem könnten Regierungen Versicherungsvereinen einen Rücksicherungsfonds zur Verfügung zu stellen, der ihnen zur Überbrückung von vorübergehenden Verlusten Darlehen gewähren würde.331
Verbesserung des Know-hows und der versicherungstechnischen Kapazitäten: Deutlich schwieriger ist es für Versicherungsvereine, ihr versicherungsmathematisches
Know-how und ihre versicherungstechnischen Fertigkeiten aus eigener Kraft zu verbessern. Zwar könnten sie die zur Berechnung der Prämien erforderlichen Informationen
über die Eintrittswahrscheinlichkeit und den Erwartungsschaden der von ihnen versicherten Risiken einkaufen. Ebenso könnten sie Fachleute auf Honorarbasis damit beauftragen, Verträge für sie zu entwerfen und dabei auch versicherungsmathematisch faire
Prämiensätze zu berechnen. Jedoch kann eine solche Auftragsvergabe leicht die finanziellen Möglichkeiten von Selbsthilfegruppen einkommensschwacher Haushalte über-
328 Vgl. Badelt (1999, 20); Reim (2005). Selbst auf die Ausgestaltung der ersten Sozialversicherung
weltweit in Deutschland hatten die bereits bestehenden Versicherungsvereine maßgeblichen Einfluss. So wurde v. a. auf ihre versicherungsmathematischen Erfahrungen zurückgegriffen. Vgl.
Carrin / James (2005, 59).
329 Vgl. Meessen / Criel / Kegels (2002, 79).
330 Vgl. Brown / Churchill (1999, 51 f.); Hoogeveen (2001, 106 f.); Loewe (2001, 5); Meessen /
Criel / Kegels (2002, 78 f.).
331 Vgl. Brown / Churchill (1999, 24 f. und 39 f.); Dror (2001, 675); Dror / Duru (2000, 4–7).
158
fordern. Zudem ist es i. d. R. mit einer einmaligen Berechnung der Prämien nicht getan;
jedes Versicherungssystem muss regelmäßig seine Vermögensbilanz und Liquidität prüfen, die zukünftigen Zahlungsflüsse abschätzen und ggf. die Prämiensätze oder das Paket seiner Leistungen anpassen.332
Verbesserung der Investitionsmöglichkeiten: Ebenso dürften nur wenige Versicherungsvereine in der Lage sein, rentable Anlagemöglichkeiten für ihre Reserven auf lokaler Ebene zu identifizieren oder ohne externe Unterstützung Zugang zum formellen Kapitalmarkt zu finden. Allenfalls ließe sich vorstellen, dass Versicherungsvereine beim
Finanzmanagement mit den örtlichen Filialen von Entwicklungs- oder Genossenschaftsbanken kooperieren und dadurch Zugang zu Investitionsmöglichkeiten erhalten.333
Linking von unterschiedlichen Trägerinstitutionen
Offensichtlich können sowohl kommerzielle Versicherungsunternehmen als auch Versicherungsvereine ihre Defizite in bestimmten Bereichen nur dadurch kompensieren, dass
sie mit anderen Institutionen zusammenarbeiten, deren Stärken komplementär zu den
eigenen Stärken sind: Kommerzielle Versicherer müssen beim Vertrieb mit Institutionen kooperieren, die einen besseren Kontakt zur Zielgruppe haben, um dadurch deren
Vertrauen zu gewinnen und ihre eigenen Transaktionskosten zu senken. Umgekehrt sind
Versicherungsvereine auf Partner angewiesen, die ihnen Zugang zu versicherungstechnischem und -mathematischem Know-how, zum Kapitalmarkt und u. U. auch zu Rückversicherungsmöglichkeiten verschaffen.
Daher liegt es nahe, viel grundsätzlicher über die Möglichkeiten einer Kooperation
von unterschiedlichen Trägerinstitutionen bei der Versorgung von Nachfragern mit
niedrigen und instabilen Einkommen mit Versicherungsprodukten nachzudenken. Neben kommerziellen Versicherungsunternehmen und Selbsthilfegruppen kommen hierfür
auch Sozialversicherungsanstalten, Mikrofinanzinstitutionen und Wohltätigkeitsorganisationen in Betracht.334
Ähnlich wie beim linking-Modell des Kleinstkreditansatzes (vgl. Übersicht 7) sollten
sich auch bei einer Kooperation von unterschiedlichen Kleinstversicherungsanbietern
die jeweiligen Stärken der beteiligten Akteure so gut wie möglich ergänzen; jeder sollte
die Aufgaben übernehmen, bei denen er über komparative Vorteile verfügt. Um zu untersuchen, wie eine solche Aufgabenteilung aussehen könnte, ist nacheinander zu klären,
— welche Aufgaben mit der Organisation eines Versicherungssystems verbunden
sind,
— welche Eigenschaften derjenige aufweisen sollte, der diese Aufgaben übernimmt, und
— welche Arten von Institutionen über diese Eigenschaften jeweils am ehesten verfügen.
332 Vgl. Loewe (2001, 5).
333 Vgl. Brown / Churchill (1999, 47).
334 Vgl. Holzmann / Jørgensen (2000, 16–18); Patel (2002, 29).
159
Im Wesentlichen lassen sich die Aufgaben, die mit der Organisation eines Versicherungssystems verbunden sind, sechs Teilbereichen des Versicherungsgeschäfts zuordnen.335 Man könnte auch sagen, dass ein Versicherer sechs Funktionen ausfüllt:
— Zur Produktgestaltung gehören (i) die Auswahl des versicherten Risikos, (ii) die
Gestaltung der Vertragskonditionen, (iii) die Eingrenzung der Kundenzielgruppe
und (iv) die Prämienkalkulation (das pricing). Hierbei kommt es v. a. auf versicherungsmathematisches Know-how und versicherungstechnische Fertigkeiten
und Erfahrungen an.
— Die Vermarktung (das marketing bzw. product sale) umfasst (i) die Werbung für
das angebotene Produkt, (ii) seinen Vertrieb, (iii) die Risikoprüfung von Nachfragern (das signalling), (iv) den Vertragsabschluss (das underwriting) und das
screening von Kunden nach Vertragsabschluss. Für die Wahrnehmung dieser
Aufgaben sollte sich ein Versicherer durch Kundennähe auszeichnen: das Vertrauen der Zielgruppe genießen, niedrige Verwaltungs- und Transaktionskosten
haben und relevante Information über potenzielle Kunden einziehen können, um
insbesondere adverse Selektion zu verhindern.
— Ähnliche Eigenschaften sind beim Dienstleistungsgeschäft erforderlich. Hierzu
gehören (i) der Einzug der Prämien, (ii) die Betreuung der Kunden und (iii) das
Leistungsmanagement (Prüfen von Schadensmeldungen und Auszahlung von
Leistungen).
— Zur Verwaltung zählen (i) die Steuerung der anderen Funktionen, (ii) das controlling (Buchführung, Rechnungslegung und monitoring der Gesamtrisikosituation des Versicherers) und (iii) die Datenverwaltung. Hierbei sind v. a. versicherungsmathematisches Know-how, versicherungstechnische Erfahrungen und
buchhalterische Fertigkeiten gefragt.
— Das Risiko-Management ist der Kernbereich des Versicherungsgeschäfts. Es besteht in der Übernahme der Risiken von den Versicherten und deren Pooling.
Die wichtigsten Eigenschaften bei der Wahrnehmung dieser Funktion sind wiederum versicherungsmathematisches Know-how und versicherungstechnische
Fertigkeiten und Erfahrungen sowie ausreichende Möglichkeiten des Risiko-
Poolings. Ggf. kann Zugang zu Rückversicherungsmöglichkeiten erforderlich
sein.
— Das Finanz-Management schließt (i) die Abwicklung der Zahlungsströme und
(ii) das Finanzmanagement (i. e. das Spar- und Entspar-Geschäft) ein. Es erfordert allgemeines finanzwirtschaftliches Know-how und Zugang zum Kapitalmarkt.
Übersicht 8 bietet einen Überblick über diese Funktionen und die wichtigsten Eigenschaften, die bei ihrer Wahrnehmung erforderlich sind. Dem stellt sie die in den vorangegangenen Abschnitten diskutierten Erkenntnisse über die Stärken und Schwächen
unterschiedlicher Träger von Versicherungssystemen beim Umgang mit einkommens-
ärmeren Versicherten gegenüber.
335 Vgl. Badelt (1999, 16–21); Brown / Churchill (2000, 21 f.); Brown / McCord (2000, 11); Farny
(2000, 21–25); Hielscher (1993, 22–34); Loewe (2001, 5); Loewe et al. (2001, 11).
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Die Übersicht macht deutlich, dass kommerzielle Versicherer – Ähnliches gilt für
Sozialversicherungen – über komparative Vorteile bei der Produktgestaltung, der Verwaltung, dem Risiko-Management und dem Finanz-Management verfügen. Hingegen
sind insbesondere Selbsthilfegruppen bei der Vermarktung und beim Dienstleistungsgeschäft überlegen.
Genau entlang dieser Linie verläuft die Aufgabenteilung beim linking- bzw. partneragent model („Partner-Träger-Modell“). Danach kooperiert eine zielgruppennahe Institution (der agent) mit einem professionellen Versicherer (dem partner). Der agent agiert
dabei als Intermediär zwischen dem partner und den Versicherten und ist nur für die
Vermarktung der Versicherungsprodukte und das Dienstleistungsgeschäft zuständig.
Bei der Produktgestaltung, der Verwaltung des Versicherungssystems, dem Risiko-
Management und dem Finanz-Management wird er vom partner unterstützt, der über
größere versicherungstechnische Erfahrungen verfügt und Zugang zum Kapitalmarkt
und zu Rückversicherungsmöglichkeiten hat.336
Das linking- bzw. partner-agent model ist kein Novum. Sowohl im Hoch- als auch
im Mittelpreissegment des Versicherungsmarktes kommt es bereits in vielfältiger Weise
zur Anwendung. So stellt die Kooperation von Versicherungsgesellschaften mit Maklern einen gängigen Vertriebsweg für Lebens-, Renten- und Krankenversicherungspolicen im Hochpreissegment des Versicherungsmarktes in entwickelten und Entwicklungsländern dar – auch wenn dieser eher zum Zwecke der Absatzsteigerung gewählt wird,
als um dadurch die Transaktionskosten zu senken, Informationsprobleme zu überwinden
und das Vertrauen der Nachfrager zu gewinnen, worauf es im Mittel- und Niedrigpreissegment besonders ankommt. Genau aus diesem Grund sind nämlich betriebliche, genossenschaftliche und gewerkschaftliche Versicherungssysteme, die sich vornehmlich
an Verdiener mittlerer Einkommen richten, vielerorts nach dem partner-agent model
organisiert: Gewerkschaften, Berufsverbände und Genossenschaften bieten ihren Mitgliedern Lebens- und/oder Krankenversicherungsprodukte an, fungieren dabei aber nur
als agent. Sie kooperieren mit kommerziellen Versicherungsunternehmen, die für die
Produktgestaltung und die Managementfunktionen zuständig sind.
Das Interesse des agent an einer solchen Kooperation ist offensichtlich. Zwar muss
auch er in einem gewissen Rahmen für seinen Aufwand entschädigt werden, seine Motivation rührt aber nicht von einem Gewinninteresse her. Vor allem will er seine Klientel (seine Mitglieder oder die Zielgruppe, für die er sich verantwortlich fühlt) beim Risiko-Management unterstützen.
Weniger offensichtlich ist, welches Interesse der partner an der Zusammenarbeit und
an der Versorgung von weniger wohlhabenden Nachfragern mit Versicherungsprodukten haben sollte. Um dies zu beantworten, mag es hilfreich sein, die Motive von kommerziellen Versicherungsunternehmen mit Gewerkschaften, Verbänden und Genossenschaften im mittleren Preissegment des Versicherungsmarktes zu analysieren. Dabei
spielen vier unterschiedliche Motive337 eine Rolle, die alle auch für eine Kooperation im
Niedrigpreissegment sprechen dürften:
— Die Kooperation mit zielgruppennahen agents verschafft kommerziellen Versicherern Zugang zu Marktsegmenten, die sie ohne die Unterstützung niemals erreichen könnten. Selbst wenn sie in diesen Segmenten vorerst keinen bzw. nur
336 Vgl. Badelt (1999, 16–18); Brown / Churchill (1999, 21 f.); Brown / Churchill (2000, 11); Del
Conte (2000, 5); Horsch (2004); Lund / Srinivas (1999, 55); Patel (2002, 29).
337 Vgl. Badelt (1999, 19 f.); Hielscher (1993, 22 f. und 42–54); Loewe et al. (2001, 65 und 73).
162
mäßigen Gewinn erwirtschaften, kann ein früher Marktzutritt von Vorteil sein,
um etwaigen Konkurrenten zuvorzukommen und sie ggf. ganz von diesem
Marktsegment fernzuhalten.
— Jedoch können kommerzielle Versicherer auch im mittleren und selbst im Niedrigpreissegment des Versicherungsmarktes teils beträchtliche Gewinne erzielen.
Wenn sie mit zielgruppennahen agents kooperieren und dadurch ihre Unkosten
senken und Informationsprobleme umgehen, können sich durchaus positive Nettoerträge ergeben. Zwar dürfte der Gewinn pro Vertrag deutlich niedriger liegen
als im Hochpreissegment, dies wird aber dadurch kompensiert, dass die Zahl der
potenziellen Kunden im mittleren und erst recht im Niedrigpreissegment deutlich größer ist. Insbesondere wenn ganze Belegschaften oder sämtliche Mitglieder von Verbänden oder Genossenschaften bzw. von Selbsthilfegruppen als
Kunden gewonnen werden, können für Versicherungsunternehmen starke Anreize bestehen, in diese Preissegmente zu expandieren.
— Angebote im Mittel- und Niedrigpreissegment können aber auch ein Mittel der
Werbung sein. Wenn sich ein Unternehmen auf die Probleme und Bedarfe von ärmeren Bevölkerungsschichten einstellt und ihnen dadurch beim Management ihrer
Risiken hilft, so kann dies positive Effekte auf das Image des Unternehmens und
damit ggf. auch auf den Absatz seiner konventionellen Produkte haben.
— Schließlich kann davon ausgegangen werden, dass sich die sozioökonomische
Lage einiger Kunden im Mittel- und Niedrigpreissegment irgendwann verbessert. Wenn diese Kunden gute Erfahrungen mit einem Versicherungsunternehmen gemacht haben, so dürften sie ihm tendenziell treu bleiben und zu Käufern
der Standardprodukte des Unternehmens für höhere Preissegmente des Versicherungsmarktes werden.
Dass diese Motive in der Praxis tatsächlich eine Rolle spielen, wird im nächsten Abschnitt deutlich, der die Erfahrungen von bereits bestehenden KV-Systemen untersucht.
5.2.4 Typische Organisationsmodelle
Von den theoretischen Überlegungen der vorangegangenen Abschnitte soll der Blick
nun zur Praxis schwenken. Dabei werden die aus der Theorie abgeleiteten Schlussfolgerungen über die Stärken und Schwächen unterschiedlicher Trägerinstitutionen und die
drei denkbaren Ansatzpunkte zur Überwindung ihrer Defizite mit empirischen Erkenntnissen, i. e. den Erfahrungen von bereits existierenden KV-Systemen abgeglichen.
In fast allen Weltregionen besteht eine große und wachsende Zahl von Arrangements, die nach der eingangs formulierten Definition als KV-Systeme zu bezeichnen
sind: Sie poolen Risiken, finanzieren sich durch mäßig hohe Beiträge, richten die Vertragskonditionen an den Bedarfen und Möglichkeiten von Haushalten und Individuen
mit niedrigem und instabilem Einkommen aus und zeichnen sich dadurch aus, dass den
Trägerinstitutionen ein großes Vertrauen entgegengebracht wird. Übersicht 9 macht
deutlich, dass KV-Systeme bislang v. a. in West- und in Ostafrika, in Lateinamerika und
in Süd- und Südostasien existieren, während es in arabischen Ländern noch fast gar keine Versicherungssysteme dieser Art gibt.
Die bereits bestehenden KV-Systeme werden von unterschiedlichen Institutionen getragen. Jedoch sind alle nach einem von vier verschiedenen Anbietermodellen organisiert (vgl. Abbildung 12).
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References
Zusammenfassung
Nur die Hälfte aller Menschen weltweit ist gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Ernteausfall abgesichert. Dies gilt v.a. für Beschäftigte im informellen Sektor. Lange wurde übersehen, dass hierin nicht nur ein soziales sondern auch ein ökonomisches Problem besteht, da Menschen ohne soziale Sicherheit besonders vorsichtig handeln und zum Beispiel Investitionen in Bildung und Produktionskapital meiden. Sie scheuen die hiermit verbundenen zusätzlichen Risiken und haben Angst, dass ihnen das investierte Geld bei Zahlungsschwierigkeiten nicht kurzfristig zur Verfügung steht.
Das vorliegende Buch gibt Einblick in die Funktionsweise moderner und traditioneller Systeme der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern und zeigt auf, warum viele von ihnen für informell Beschäftigte ungeeignet sind. Es diskutiert, welche Strategien sich eignen, um die soziale Sicherheit im informellen Sektor zu verbessern und geht insbesondere auf das Potenzial von Kleinstversicherungen ein. Diese zeichnen sich durch niedrige Beitragssätze, flexible Zahlungsmodalitäten und begrenzte Leistungen aus und sind somit ganz an die Möglichkeiten und Bedarfe von Beziehern niedriger Einkommen angepasst, ohne auf Subventionen angewiesen zu sein.