105
ringerem Maße: Hier müssen die Politiker Rücksicht auf den Wählerwillen nehmen, um
ihre Macht zu erhalten, und können ein bestimmtes Sozialsystem nicht gegen den Widerstand der Gesellschaft durchsetzen. Daher entstehen in Demokratien zumeist Sozialsysteme, die den gesellschaftlichen Wertvorstellungen verhältnismäßig nahe kommen.
Umgekehrt fällt es den Politikern schwer, Reformen durchzuführen, die von der Mehrheit des Volkes (bzw. den Stammwählern der regierenden Politiker) abgelehnt werden,
selbst wenn diese aus allokations- oder verteilungspolitischen Gründen sinnvoll wären.
Dies erklärt z. B., warum die Reform der umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme in Europa so schleppend vorankommt, obwohl schon längst erkannt wurde, dass sie
auf Dauer nicht finanzierbar sind. Das Problem besteht darin, dass diese unzureichende
Nachhaltigkeit in erster Linie die noch minderjährige und die noch ungeborene Generation benachteiligt, die noch keine Wählerstimme hat.191
Ein großer Teil der Entwicklungsländer hat jedoch autoritäre Regime. Deren Regierungen legitimieren sich nicht durch Wahlen, sondern durch ihre Abstammung, ihr Charisma oder ihre Ideologie. Daher müssen sie bei ihren Entscheidungen auch keine Rücksicht auf die Interessen der Bevölkerungsmehrheit nehmen und staatliche Ressourcen
nicht im Sinne gesellschaftlicher Forderungen einsetzen. Vielmehr nutzen sie auch sozialpolitische Instrumente im eigenen Interesse, um ihre Macht zu festigen: Sie privilegieren ihre Klientel und kooptieren potenziell oppositionelle Gruppen, die für ihre Herrschaft gefährlich werden könnten. Die breite Masse der Bevölkerung geht hierbei leer
aus und die allokations- und verteilungspolitischen Ziele der sozialen Sicherung werden
ebenfalls vernachlässigt.192
Wohlfahrtsorganisationen und Selbsthilfegruppen haben es oftmals schwer, die Defizite einer solchen klientelistischen Sozialpolitik auszugleichen, da autoritäre Regime in
der Regel die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit stark einschränken und zivilgesellschaftliche Aktivitäten verhindern oder zumindest kontrollieren. Überbürokratische
Genehmigungsprozeduren und undurchsichtige juristische Verfahren erschweren zusätzlich den Aufbau von Systemen der sozialen Sicherung durch den dritten Sektor. Sogenannte Nichtregierungsorganisationen werden häufig vom Staat finanziert und dadurch indirekt kontrolliert und dienen ihm dazu, die Gesellschaft zu kontrollieren und
Geschenke der Regierung zu ausgewählten Individuen zu kanalisieren, die von staatlichen Sozialsystemen nur schwer erreicht werden können.
4 Soziale Sicherung im informellen Sektor
Ein wichtiges Kennzeichen von Entwicklungsökonomien ist die Dominanz des sog. informellen Sektors. Im vorangegangenen Kapitel (Abschnitt 3.5) wurde argumentiert,
dass sich die in europäischen und nordamerikanischen Ländern entwickelten sozialpolitischen Strategien, Modelle und Konzepte nicht ohne Weiteres auf die Länder des Südens übertragen lassen, da sich deren ökonomische, historische, soziokulturelle und politische Rahmenbedingungen zum Teil deutlich von jenen in den entwickelteren Ländern unterscheiden. Einer dieser Unterschiede ist, dass es sich bei der großen Mehrzahl
von Unternehmen in Entwicklungsländern um kleine Familienbetriebe handelt, die bei
191 Vgl. Beattie (2000, 133); Mesa-Lago (1997, 503 und 515.
192 Vgl. Frey / Eichenberger (1994, 174 f.); Mesa-Lago (1978, 6 ff.); Mesa-Lago / Cruz-Saco / Zamalloa (1990).
106
den Behörden nicht gemeldet sind und ihre Mitarbeiter ohne Arbeitsvertrag beschäftigen und dass auch in größeren Unternehmen Arbeitnehmer befristet und ohne geregeltes
Angestelltenverhältnis erwerbstätig sind. In beiden Fällen handelt es sich um Erwerbsaktivitäten, die als „informell“ bezeichnet werden und aus denen in einigen Ländern fast
80 % aller Haushalte und Individuen ihr Einkommen beziehen.
Eine der größten Herausforderungen für eine Politik der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern besteht darin, der unverhältnismäßig hohen Risiko-Verletzbarkeit von
Erwerbstätigen im informellen Sektor zu begegnen. Aufgrund ihrer unsicheren Beschäftigungsverhältnisse und ihrer oftmals schlechteren Lebens- und Arbeitsbedingungen
sind sie einer viel größeren Zahl von relevanten und signifikanten Risiken ausgesetzt als
die Beschäftigten des formellen Sektors. Zugleich werden sie deutlich schlechter mit
kommerziellen Risiko-Management-Instrumenten versorgt und sind – insbesondere im
städtischen Raum – nur sehr bedingt in Solidargemeinschaften integriert. Selbst dem
Staat fällt es sehr schwer, die informell Beschäftigten mit seinen Sozialsystemen zu erreichen.
Die Frage ist, welche Instrumente hierfür in Frage kommen, i. e. mit welchen Strategien die soziale Sicherheit der informell Beschäftigten verbessert werden kann.
Hierzu wird im Folgenden zunächst das Konzept des informellen Sektors vorgestellt
und problematisiert (4.1). Danach wird dargestellt, warum die informell Erwerbstätigen
tendenziell stärker verletzbar durch Risiken sind (4.2). Abschließend werden denkbare
Reformansätze zur Verbesserung der sozialen Sicherheit im informellen Sektor hergeleitet (4.3).
4.1 Informeller Sektor
Für die Zwecke dieser Studie werden unter dem informellen Sektor all diejenigen ökonomischen Aktivitäten verstanden, die sich außerhalb des vom Staat definierten wirtschaftlichen Ordnungsrahmens bewegen. Die wichtigste Folge hieraus ist, dass der Zugang zum informellen Sektor tendenziell weniger restringiert ist als der Zugang zum
formellen Sektor. Zwischen den Sektoren können erhebliche Barrieren bestehen.
Der Begriff „informeller Sektor“ wurde erstmals 1971 von dem Anthropologen Keith
Hart in einem Vortrag über städtische Kleinunternehmer in Ghana gebraucht. Hiermit
beschrieb er den v. a. für Entwicklungsländer typischen Bereich von Wirtschaft und
Gesellschaft, in dem fliegende Händler, Heimarbeiter, Saisonarbeiter, Tagelöhner, kleine Handwerksbetriebe in Familienbesitz, Straßenverkäufer, Schuhputzer, Arbeiter ohne
Vertrag und Anbieter von einfachen Dienstleistungen ihren Lebensunterhalt außerhalb
geregelter Strukturen und am Rande der Legalität verdienen und in dem Einkommensarmut, Unterbeschäftigung und die Verletzbarkeit gegenüber Risiken in besonders hohem Maße verbreitet sind.193
Schon vor Keith wurde das von ihm beschriebene Phänomen beobachtet und u. a. als
„unorganisierter“, „traditioneller“, „marginaler“, „Residual- oder ‚Haushaltssektor“ bezeichnet.194 Die in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Entwicklungs-
193 Vgl. Bittner (1997, 6 f.); Lautier (2000, 71).
194 Weitere Bezeichnungen sind: inoffizieller, versteckter, unsichtbarer, volkstümlicher, unregulierter,
illegaler, verschleierter, peripherer, geheimer sowie Grausektor bzw. Parallel-, Schatten-, Untergrund-, Alternativ- und Gegenwirtschaft. Vgl. Karl (2000, 54).
107
debatte dominierende Modernisierungstheorie war jedoch davon ausgegangen, dass der
informelle Sektor eine vorübergehende Erscheinung am Rande der Ökonomie wäre, die
mit fortschreitender Industrialisierung, Urbanisierung, Modernisierung und Monetarisierung an Bedeutung verliert.
Zu einer grundlegenden Neubewertung des informellen Sektors auf internationaler
Ebene trug vor allem ein Bericht der ILO über Employment, Incomes and Equity von
1972 bei. Erstens zeigte er auf, dass der informelle Sektor in vielen Entwicklungsländern ganz erheblich zum Volkseinkommen und zur Beschäftigung beiträgt. In einigen
Ländern findet in ihm fast die Hälfte der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung statt und
bis zu 80 % der Erwerbstätigen finden in ihm Arbeit (im internationalen Durchschnitt
sind es 25 %). Zweitens bescheinigte der Bericht, dass der informelle Sektor keineswegs im Laufe des Entwicklungsprozesses an Bedeutung verliert, sondern zeitweise
sogar höhere Wachstumsraten verzeichnet als der formelle Sektor. Drittens förderte der
Bericht das Bewusstsein für die Leistungen, die der informelle Sektor gerade für ärmere
Bevölkerungsgruppen erbringt: Einerseits bietet er Beschäftigung und Einkommen für
all diejenigen, die keinen Arbeitsplatz im formellen Sektor finden. Andererseits produziert er genau die einfachen Waren und Dienstleistungen, die von ärmeren Haushalten
und Individuen nachgefragt werden.195
Erst während der letzten Jahre setzte sich jedoch die Erkenntnis durch, dass es auch
in den Ländern des Nordens informelle Sektoren gibt. Was dort „Schattenwirtschaft“
oder auch „Graumarkt“ genannt wird, weist viele Ähnlichkeiten mit den informellen
Sektoren der Entwicklungsländer auf – wenngleich auch einige Unterschiede bestehen.
Karl (2000) schätzt, dass in den Industrieländern im Durchschnitt 15 % des tatsächlichen Volkseinkommens in diesen Bereichen der Ökonomie erwirtschaftet werden.196
Acht Gruppen von Erwerbstätigen werden i. a. dem informellen Sektor zugerechnet:
— Selbständige und Arbeitgeber, deren Unternehmen untrennbar mit dem Haushalt
des Unternehmers verbunden sind („household“ bzw. „unincorporated enterprises“), i. e. keine eigene Rechtspersönlichkeit haben und zwischen dem
Einkommen und Vermögen des Haushalts und des Unternehmens nicht trennen,
obwohl sie nicht nur für den Eigenkonsum des Unternehmers und seiner Angehörigen und Beschäftigten produzieren (wie bspw. vollständig autarke bäuerliche Betriebe) und obwohl eine solche finanzielle und rechtliche Trennung in der
jeweiligen Branche eigentlich vom Gesetz verlangt wird,
— Selbständige und Arbeitgeber, deren Unternehmen nach sonstigen Kriterien als
informell einzustufen sind (z. B. weil sie bei den Behörden entgegen der Vorschrift nicht gemeldet sind, fällige Steuern nicht entrichten, gültige Produktionsstandards nicht einhalten oder staatliche Auflagen wie z. B. Mindesteigenkapitalforderungen nicht erfüllen),
— unselbständig Beschäftigte in informellen Unternehmen,
— Arbeiter auf eigene Rechnung (own-account workers), die rein formal selbständig sind und kleinere Aufträge auf Honorarbasis ausführen, tatsächlich aber häufig von demselben Arbeitgeber für kurze Zeiten bzw. kleinere Unteraufträge engagiert werden,
195 Vgl. Beattie (2000, 130 f.); Bittner (1997, 8); Blunch / Canagarajah / Raju (2001, 3 f.); Canagarajah / Sethuraman (2001, 2, 5 und 35); Kurz (1999, 42–44); Lund / Srinivas (1999, 6).
196 Besonders hoch liegen die Anteile in Italien und Griechenland. Vgl. Karl (2000, 54).
108
— Hausangestellte, die – ohne dass die Behörden dies kontrollieren könnten – z. B.
als Butler, Kindermädchen oder Haushaltshilfe im Haushalt des Arbeitgebers
beschäftigt sind,
— Gelegenheitsarbeiter, wie z. B. Tagelöhner im Bau oder in der Industrie,
— temporär Beschäftigte, wie z. B. Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, und
— unbezahlt Erwerbstätige, wie z. B. Lehrlinge oder mitarbeitende Familienmitglieder des Unternehmers (unpaid family workers).197
Kennzeichen der Informalität
Allerdings herrscht bis heute kein Konsens darüber, was den informellen Sektor eigentlich ausmacht. Der Begriff wird mittlerweile von vielen verwendet, jedoch oftmals nur
unzureichend erklärt. Es scheint beinahe so, als ob jeder etwas anderes darunter verstehen würde. Somit wurde der Begriff zu einem Chamäleon: Von Fall zu Fall und je nach
Bedarf wird er mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt. Offensichtlich lässt sich das Phänomen, auf das er sich bezieht, kaum fassen. Hans Singer soll einmal gesagt haben:
„The informal sector is like a giraffe. You know what it is when you see it but you can
hardly describe it.“198 Zudem wird von vielen Autoren nicht hinreichend zwischen der
Formalität eines Unternehmens, einer ökonomischen Handlung und Erwerbsverhältnissen differenziert. So gibt es informell Beschäftigte in formellen Unternehmen, während
informelle Wirtschaftsaktivitäten sowohl von Unternehmen als auch von Arbeitnehmern
des formellen Sektors ausgeübt werden können.199
Vielfach wird der informelle Sektor definiert, indem seine Eigenschaften200 benannt
werden:
— die Einheit von Kapital und Arbeit: Informelle Unternehmen seien Familienbetriebe mit sehr wenigen Mitarbeitern, die alle in einem verwandtschaftlichen,
nachbarschaftlichen oder freundschaftlichen Verhältnis (kinship relation) zum
Unternehmer stünden.
— Identität von Produktions- und Konsumeinheit: Mehr noch seien die Unternehmen finanziell und institutionell untrennbar mit dem Haushalt der Unternehmer
verbunden. Sie hätten keine eigene Rechtspersönlichkeit und betrieben keine
Buchführung. Die Eigentümer würden zwischen Privat- und Betriebsvermögen
nicht unterscheiden und Einnahmen des Unternehmens oftmals unmittelbar für
Konsumzwecke wieder ausgeben.
— begrenzte Produktionsvolumina: Die Unternehmen seien klein und könnten nur
in geringem Umfang Skalengewinne realisieren.
— Nichtbeachtung der Regulierung: Der informelle Sektor stehe außerhalb des offiziellen Ordnungs- und Rechtsrahmens: Er ignoriere staatliche Vorgaben und
197 Vgl. Bittner (1997, 19); Canagarajah / Sethuraman (2001, 10 f. und 23); ILO (2000a, 194); van
Ginneken (1999b, 6); Wahba / Moktar (2000, 4 f.).
198 Zitiert nach Kurz (1999, 43). Vgl. auch Bittner (1997, 6); Lautier (2000, 71).
199 Vgl. Blunch / Canagarajah / Raju (2001, 6); Lautier (2000, 71); Maloney (2003, 1 f.); van Ginneken (1999b, 6).
200 Vgl. Backiny-Yetna (2000, 75); Bittner (1997); Blunch / Canagarajah / Raju (2001); Canagarajah /
Sethuraman (2001, 4); Charmes (2000, 62); Fuchs (1985, 48–59); Karl (2000, 53); Kurz (1999)
41–43); Lautier (2000, 71 f.); Lund / Srinivas (1999, 6–8); Wahba / Moktar (2000, 4–13).
109
Normen, während umgekehrt der Staat diese Vorgaben und Normen nicht durchsetzen kann oder will.
— Nichtrestriktion des Zutritts: Weil er nicht reguliert sei, könne jeder ohne großen
Aufwand im informellen Sektor ökonomisch aktiv werden. Daher herrsche intensiver Wettbewerb zwischen den Anbietern, die vielfach identische Güter herstellen würden.
— niedrige Preise und Einkommen: Der starke Wettbewerb führe wiederum zu
niedrigen Absatzpreisen und Verkaufserlösen. Auch die Löhne seien niedrig.
— Mangel an Sach- und Humankapital: Die Kapitalakkumulation sei begrenzt: Informelle Unternehmer verfügten nur über wenig Eigenkapital und hätten auch
keinen Zugang zu Krediten, so dass sie weder in die Produktionsmittel der Betriebe, noch in die Fertigkeiten und das Know-how ihrer Mitarbeiter (deren Ausbildung) investieren könnten.
— statische, arbeitsintensive Produktionsweise: Sie würden daher sehr arbeitsintensiv und mit traditionellen und angepassten Verfahren produzieren. Innovationen
seien selten.
— niedrige Arbeitsproduktivität: Dies mindere wiederum die Produktivität informeller Unternehmen und deren Ertragsaussichten.
Jedoch ist die große Mehrzahl dieser Eigenschaften nicht konstitutiv für die Informalität eines Unternehmens, einer Wirtschaftsaktivität oder eines Erwerbsverhältnisses. Sie
treffen in vielen, z. T. sogar in den meisten, aber eben nicht in allen Fällen zu. Einzig
die Nichtbeachtung staatlicher Regeln und Normen kann als Definitionskriterium herangezogen werden:
Erstens ist der informelle Sektor nicht deckungsgleich mit der Haushaltsökonomie.
Straßenverkäufer, Scheinselbständige und kleine Unternehmer des informellen Sektors
dürften tatsächlich keine Buchführung betreiben und zwischen privatem und Betriebsvermögen nicht unterscheiden. Für größere Unternehmen dürfte dies aber kaum zutreffen. Zudem gibt es auch unselbständig Beschäftigte, die dem informellen Sektor zuzurechnen sind; jedoch können ihre Vermögen mit keinem Betriebsvermögen gleichgesetzt werden. Umgekehrt werden in vielen Haushalten in der Freizeit Güter in sehr kleinen Mengen hergestellt und im Freundeskreis verkauft (z. B. einfache Strick- oder
Flechtwaren). Aktivitäten dieser Art müssen noch lange nicht informell sein, nur weil
sie innerhalb des Haushalts stattfinden.201
Zweitens ist der informelle Sektor nicht identisch mit dem Kleinunternehmenssektor.
Ein Großteil der informellen Unternehmen ist sehr klein, es gibt aber auch informelle
Unternehmen mit einem beträchtlichen Umsatz und einer hohen Zahl von Mitarbeitern.
Ebenso gibt es informell beschäftigte Arbeitnehmer in großen informellen und formellen Unternehmen. Umgekehrt sind in einigen Branchen auch kleine Unternehmen ohne
jeden Zweifel nach allen Kriterien Bestandteil des formellen Sektors (so z. B. Anwaltskanzleien oder Arztpraxen).202
Drittens ist der informelle Sektor keinesfalls ein „Armensektor“. Zwar ist die große
Mehrheit der materiell Armen in Entwicklungsländern informell beschäftigt. Jedoch
sind keineswegs alle informell Beschäftigten arm. Nicht überall im informellen Sektor
ist die Arbeitsproduktivität niedrig. In einigen Betrieben übersteigt sie sogar das Durch-
201 Vgl. Backiny-Yetna (2000, 75).
202 Vgl. Bittner (1997, 8); Lautier (2000, 71); Lobban (1997, 85); Rizk (1991, 167 f.).
110
schnittseinkommen der Bevölkerung, so dass auch die Löhne deutlich höher liegen als
im formellen Sektor.203
Viertens ist der informelle Sektor kein statischer Sektor. Tatsächlich produziert die
Mehrheit der informellen Betriebe arbeitsintensiv und mit angepassten Technologien,
weil ihnen weniger Sach- und Humankapital zur Verfügung steht. Jedoch sind sie deswegen noch lange nicht statisch bzw. weniger innovativ als formelle Unternehmen. Die
technologische Entwicklung wird aufmerksam verfolgt und neuere Produktions- und
Organisationsverfahren werden angewandt, sobald sie erschwinglich sind und unter den
gegeben Rahmenbedingungen Vorteile versprechen. Zudem gibt es ein hochgradig dynamisches und profitables Segment innerhalb des informellen Sektors, dem es weder an
Kapital noch an technisch-organisatorischem Know-how mangelt. Die Unternehmen
dieses Segments verfügen über teure Maschinen und importieren sogar Einsatzgüter aus
dem Ausland. Oftmals sind sie flexibler bei der Einführung neuer Organisationsformen
und Absatzwege und bei der Eroberung neuer Märkte als Unternehmen des formellen
Sektors. Im Gegensatz zum Rest des informellen Sektors entwickelt sich ihr Umsatz
prozyklisch: Er schrumpft, wenn der formelle Sektor in die Rezession gerät, während
die restlichen Segmente des informellen Sektors in dieser Zeit wachsen, weil dann die
im formellen Sektor entlassenen Arbeitnehmer in die Informalität ausweichen.204
Entscheidend ist, dass sich der informelle Sektor der staatlichen Regulierung ganz
oder zumindest teilweise entzieht. Informelle Unternehmen sind nicht bei allen Behörden (Finanzamt, Handelsregister, Grundbuchamt, Sozialversicherungsanstalt...) gemeldet und statistisch nicht erfasst. Daher entrichten sie oftmals keine Steuern und Sozialabgaben, missachten das Arbeitsrecht, Produktionsauflagen und Produktstandards und
betreiben keine Buchführung. Informell beschäftigte Arbeitnehmer hingegen zahlen
ebenfalls keine Einkommensteuern und Sozialversicherungsbeiträge, haben weder
schriftliche noch mündliche Arbeitsverträge und befinden sich zumeist in instabilen,
oftmals vorübergehenden Beschäftigungsverhältnissen.205
Eine ganz wichtige Folge hiervon ist, dass der Zugang zum informellen Sektor tendenziell weniger restringiert ist als der Zugang zum formellen Sektor. Dies hat damit zu
tun, dass die Beachtung und Einhaltung der staatlichen Normen und Vorschriften im
formellen Sektor mit Kosten verbunden ist (in Form von Zeit, Geld und Mühe), die die
im informellen Sektor erwerbstätigen Personen nicht aufbringen können bzw. aufbringen wollen (s. u.). Zwischen den Sektoren können demnach Barrieren bestehen, die umso höher sind, je rigider die Regulierung der Güter- und Faktormärkte des formellen
Sektors in einem Land ausfällt. Bspw. müssen Arbeitnehmer im formellen Sektor Einkommensteuern und Sozialabgaben entrichten. Hingegen entstehen für Unternehmer
Kosten durch Umsatz- und Unternehmenssteuern, die Einhaltung von arbeitsrechtlichen, Umweltschutz- und Verbraucherschutzvorschriften, die Gebühren einer Handelsregistereintragung oder Zulassung von bestimmten Produktionen und komplizierte,
langwierige und teilweise intransparente Antrags- und Genehmigungsverfahren.206
203 Vgl. Blunch / Canagarajah / Raju (2001, 7); Canagarajah / Sethuraman (2001, 5 und 13); Lautier
(2000, 71); Maes (2003, 41); Maloney (2003, 4).
204 Vgl. Bittner (1997, 10); Blunch / Canagarajah / Raju (2001, 8 und 21); Maloney (2003, 5 f.).
205 Vgl. Bittner (1997, 7); Blunch / Canagarajah / Raju (2001, 17); Canagarajah / Sethuraman (2001,
4); van Ginneken (1999a); Maes (2003, 40).
206 Vgl. Beattie (2000, 131); BMZ (1999b, 4); Canagarajah / Sethuraman (2001, 12 und 28 f.); Holzmann / Packard / Cuesta (1999, 5 f.).
111
Allerdings ist der informelle Sektor nicht mit dem „illegalen Sektor“ zu verwechseln.
Dies ist schon deswegen falsch, weil der Staat toleriert bzw. mangels ausreichender
Kontrollkapazitäten hinnimmt, dass viele Unternehmen u. a. nicht registriert sind bzw.
arbeitsrechtliche und Umweltschutzvorschriften nicht einhalten. Allenfalls könnte man
ihn als „alegalen“ bzw. „semi-legalen“ Sektor bezeichnen: Informelle Wirtschaftsaktivitäten sind nicht bereits von ihrer Natur her illegal, wie dies z. B. beim Schmuggel, bei
der Zuhälterei und beim Diebstahl der Fall ist. Ihnen mangelt es lediglich an der amtlichen Registrierung und Anerkennung. Ebenso sind informell gefertigte Güter nicht
grundsätzlich verboten wie z. B. Drogen oder Falschgeld. Informelle Unternehmen umgehen nur die Institutionen des Rechtsstaats.207
Zudem entziehen sich informelle Unternehmen der staatlichen Reglementierung
meistens nicht gänzlich: Sie halten einige Vorschriften ein und missachten andere. Umgekehrt begehen auch formelle Unternehmen Steuerbetrug, melden ihre Beschäftigten
nicht bei der Sozialversicherung oder verletzen Umweltschutzgesetze.208
Demnach gibt es unterschiedliche Stufen der Informalität. Der informelle Sektor ist
kein monolithischer Block. Selbst mit dem Kriterium der Akzeptanz bzw. Missachtung
von staatlichen Normen und Vorgaben kann keine eindeutige Trennlinie zwischen einem formellen und einem informellen Sektor gezogen werden. Allenfalls können verschiedene ökonomische Aktivitäten unterschiedlichen Stufen der Formalität zugeordnet
werden. Eigentlich sollte man daher weder von dem informellen Sektor noch überhaupt
von einem Sektor sprechen, sondern von formelleren und weniger formellen Bereichen
der Ökonomie.209
Weiterhin ist der informelle Sektor kein „anarchischer Sektor“. Auch im informellen Sektor gibt es Regeln und Normen, die eingehalten werden. Nur handelt es sich
hierbei nicht um staatliche Rechtsnormen, sondern um das Gewohnheitsrecht, das auf
den soziokulturellen Werten der jeweiligen Gesellschaft beruht. Im Unterschied zum
offiziellen Recht kann es nur in wenigen Fällen vor einer gerichtlichen Instanz eingeklagt werden, so dass auch im informellen Sektor keine endgültige Rechtssicherheit
herrscht.210
Schließlich kann es Informalität nur geben, wo es auch Formalität gibt. Wenn Informalität, wie zu Beginn dieses Abschnitts, als das Umgehen bzw. die Nichtakzeptanz des
staatlichen Ordnungs- und Rechtsrahmens definiert wird, so setzt dies voraus, dass ein
solcher Ordnungs- und Rechtsrahmen überhaupt existiert und grundsätzlich auf die
betreffende Wirtschaftsaktivität anwendbar ist. Gibt es hingegen für bestimmte ökonomische Handlungen keinerlei Vorgaben von Seiten des Staates, so sind sie gleicherma-
ßen formell wie informell.
Demnach können Unternehmen und Erwerbstätige in der Landwirtschaft nur unter
bestimmten Bedingungen dem informellen Sektor angehören. Nimmt der Staat die
Landwirtschaft bzw. Teile von ihr gänzlich von der Gültigkeit seiner Gesetze und Verordnungen aus, so lässt sich keine Aussage über den Grad ihrer Formalität treffen. Sind
hingegen zumindest einzelne Elemente der ökonomischen Rahmengesetzgebung auch
auf bäuerliche Betriebe und Erwerbsverhältnisse anwendbar, so kann es auch in der
207 Vgl. Blunch / Canagarajah / Raju (2001, 17); Charmes (2000, 62); Karl (2000, 53).
208 Vgl. BMZ (1999b, 2); Lautier (2000, 72); Lobban (1997, 85); Rizk (1991, 167 f.).
209 Vgl. Blunch / Canagarajah / Raju (2001, 14 f.); Lund / Srinivas (1999, 8); Maes (2003, 40); Maldonado (1999b, 334).
210 Vgl. Maldonado (1999b, 333 f.).
112
Landwirtschaft Informalität geben. Zwar führen viele Statistiken Erwerbstätige in der
Landwirtschaft (teilweise sogar die Bewohner des ländlichen Raumes generell) separat
auf (sie werden weder als informell noch als formell Beschäftigte ausgewiesen). Dies
hat aber v. a. methodische Gründe: Im ländlichen Bereich ist es noch schwieriger als in
den Städten, Daten zu erheben, die Rückschlüsse auf die Formalität eines Unternehmens
oder Erwerbsverhältnisses zulassen. Zudem müssten andere Messungskriterien angewendet werden als im städtischen Raum, was Inkonsistenzen zur Folge hätte.211
Ursachen der Informalität
Ebenfalls umstritten ist die Frage, warum Unternehmen und Erwerbsverhältnisse
überhaupt informell sind, i. e. warum sie sich außerhalb des staatlichen Ordnungs- und
Rechtsrahmens bewegen. In der Literatur lassen sich verschiedene Antworten auf diese
Frage voneinander unterscheiden (vgl. Kasten 1).
Tatsächlich dürfte die Situation je nach Land und Unternehmen bzw. Erwerbsverhältnis variieren; nicht überall greift dieselbe Erklärung der Informalität:
Einerseits ist der informelle Sektor in gewisser Hinsicht ein privilegierter Bereich der
Ökonomie. In den meisten Ländern ist der Staat außer Stande, in allen Bereichen der Ökonomie zu kontrollieren, ob die von ihm gesetzten Normen und Vorgaben bei jeder Aktivität
und in jeder Hinsicht eingehalten werden. Er muss sich auf größere Unternehmen und deren
Mitarbeiter konzentrieren und in Kauf nehmen, dass kleinere Betriebe, v. a. auf dem Lande
und in den informellen Vororten der Städte, Gesetze und Verordnungen umgehen.
Viele Unternehmer und Erwerbstätige entscheiden sich daher freiwillig für die Informalität. Sie sind nicht bereit, die Normen und Vorschriften des formellen Sektors
einzuhalten und die hiermit verbundenen Kosten zu tragen. Insbesondere die Unternehmen des bereits zitierten upper-tier informal sector wären durchaus in der Lage, ihre
Rechtsform und ihre Produktionen weiter zu formalisieren. Allerdings würden die hiermit verbundenen Kosten (für Steuern, Gebühren und Sozialabgaben, Registrierung,
ordnungsgemäße Buchführung etc.) die Kosten der Informalität übersteigen, die in einem Mangel an Rechtssicherheit, im schlechteren Zugang zu den Behörden, zu Banken
und Versicherungen und zu staatlichen Förderprogrammen sowie in der größeren sozialen Unsicherheit der Mitarbeiter u. a. bestehen. Selbst unselbständig Beschäftigte und
Arbeiter auf eigene Rechnung nehmen vielfach die Nachteile von informellen Beschäftigungsverhältnissen in Kauf, weil diese flexibler sind und helfen, Kosten einzusparen
(z. B. Sozialversicherungsbeiträge). Auch in Industrieländern sind rationale Kosten-
Nutzen-Kalküle dieser Art gängig, was sich nicht zuletzt darin widerspiegelt, dass das
Ausmaß von Schwarzarbeit zunimmt, weil viele Anbieter die rechtliche Unsicherheit
der hohen Regulierungsdichte im formellen Sektor vorziehen.212
Andererseits ist der informelle Sektor auch ein Überlebensterritorium für diejenigen, die
nicht in der Lage sind, die hohen Kosten der Formalität zu tragen. Für sie gestalten sich die
Barrieren zwischen den Sektoren (s. o.) als unüberwindbar. Dass diese Barrieren so hoch
sind, liegt z. T. an der Unfähigkeit des Staates in vielen Entwicklungsländern, den Regulierungsrahmen für die Märkte des formellen Sektors an die lokalen Erfordernisse anzupassen.
Die Steuer- und Abgabensätze liegen zu hoch, Melde- und Genehmigungsverfahren sind
211 Vgl. Backiny-Yetna (2000, 75); Charmes (2000, 63).
212 Vgl. Blunch / Canagarajah / Raju (2001, 4); Karl (2000, 54); Maloney (2003, 9).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nur die Hälfte aller Menschen weltweit ist gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Ernteausfall abgesichert. Dies gilt v.a. für Beschäftigte im informellen Sektor. Lange wurde übersehen, dass hierin nicht nur ein soziales sondern auch ein ökonomisches Problem besteht, da Menschen ohne soziale Sicherheit besonders vorsichtig handeln und zum Beispiel Investitionen in Bildung und Produktionskapital meiden. Sie scheuen die hiermit verbundenen zusätzlichen Risiken und haben Angst, dass ihnen das investierte Geld bei Zahlungsschwierigkeiten nicht kurzfristig zur Verfügung steht.
Das vorliegende Buch gibt Einblick in die Funktionsweise moderner und traditioneller Systeme der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern und zeigt auf, warum viele von ihnen für informell Beschäftigte ungeeignet sind. Es diskutiert, welche Strategien sich eignen, um die soziale Sicherheit im informellen Sektor zu verbessern und geht insbesondere auf das Potenzial von Kleinstversicherungen ein. Diese zeichnen sich durch niedrige Beitragssätze, flexible Zahlungsmodalitäten und begrenzte Leistungen aus und sind somit ganz an die Möglichkeiten und Bedarfe von Beziehern niedriger Einkommen angepasst, ohne auf Subventionen angewiesen zu sein.