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Anspruch darauf, die von UNRWA finanzierten und verwalteten Gesundheitsstationen
und Schulen kostenlos zu nutzen. Darüber hinaus betreibt UNRWA Sozialhilfeprogramme, die besonders arme Haushalte finanziell und durch Sachmittel unterstützen.
UNRWA finanziert sich teilweise aus dem allgemeinen Budget der UNO, erhält aber
auch Zuwendungen von bilateralen Gebern.169
3.5 Determinanten: die politökonomische Dimension
Inwieweit und welche Systeme der sozialen Sicherung in einem Land bestehen bzw.
entstehen, hängt von drei direkten Determinanten ab: (i) der Problemlösungsdringlichkeit (i. e. der Gefährdung der allokations-, verteilungs- und stabilitätspolitischen Ziele
der Sozialpolitik), (ii) der Problemlösungsfähigkeit der Gesellschaft bzw. der relevanten
Akteure im Bereich der Sozialpolitik und (iii) deren Problemlösungsbereitschaft.170
Hieraus resultieren ein ökonomisches und ein politisches Dilemma: Das ökonomische besteht darin, dass gerade in Gesellschaften mit hoher Problemlösungsdringlichkeit
die Problemlösungskapazitäten der sozialpolitischen Akteure begrenzt sind. So mehren
sich soziale Probleme insbesondere während ökonomischer Krisen und zu Beginn des
Entwicklungsprozesses, wenn es den potenziellen Trägerinstitutionen sowohl an den für
den Aufbau von sozialen Sicherungssystemen notwendigen finanziellen Mitteln als
auch am erforderlichen technischen und organisatorischen Know-how mangelt.171
Das politische Dilemma liegt vor, wenn in einer Gesellschaft die Erwartung besteht,
dass die bestehenden sozialen Probleme durch den Aufbau oder die Reform von Systemen der sozialen Sicherung gelöst werden, die potenziellen Träger hierfür aber nicht
bereitstehen. Bspw. besteht in vielen Entwicklungsländern eine hohe Problemlösungsdringlichkeit, die sich in einer entsprechend hohen Erwartungshaltung der Gesellschaft,
nicht aber in einer ebenso großen Problemlösungsbereitschaft auf Seiten der sozialpolitischen Akteure niederschlägt. Das liegt daran, dass die sozialpolitischen Forderungen
der Gesellschaft v. a. von deren kulturellen und religiösen Werten und den vorherrschenden sozialen Normen sowie von der Dringlichkeit der Problemlösung geprägt
sind, während die Problemlösungsbereitschaft der Politik vom politischen System und
den Eigeninteressen der politischen Akteure abhängt (vgl. Abbildung 10).
Dies bedeutet, dass die drei genannten unmittelbaren Determinanten der sozialen Sicherung wiederum im Wesentlichen von vier mittelbaren Determinanten geprägt sind:
(i) dem Entwicklungsniveau des betroffenen Landes, (ii) seinem historischen Hintergrund, (iii) seinem politischen System und den Handlungsmotiven der politischen Entscheidungsträger sowie (iv) dem Bewusstsein der Gesellschaft und ihrem Werte- und
Normensystem.172
Diese Zusammenhänge gelten im Prinzip für alle Systeme der sozialen Sicherung,
v. a. aber für Staatseingriffe in diesem Bereich.173 Deshalb werden sie im Folgenden am
Beispiel der staatlichen Politik der sozialen Sicherung erläutert. Dabei wird insbesondere
169 Vgl. UN (1999); UNRWA (1999).
170 Vgl. FES (1996, 12 f., 71 und 79); Lampert (1994, 139 ff.).
171 Vgl. Loewe (1999b).
172 Vgl. Dixon (2001, 23).
173 Vgl. Norton / Conway / Foster (2001, 34 f.).
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Abbildung 10: Determinanten der sozialen Sicherung
Aufbau und
Reform von
Systemen der
sozialen
Sicherung
Problemlösungsfähigkeit
Problemlösungsdringlichkeit
+ –
1. Sozio-
ökonomisches
Entwicklungsniveau des
betreffenden
Landes
2. Historischer
Hintergrund des
betreffenden
Landes
(Pfadabhängigkeit)
Problemlösungsbereitschaft
der Politik
Problemlösungsbereitschaft
der Gesellschaft
+
++
ökonomisches Dilemma
politisches
Dilemma
4. Handlungsmotive
der politischen
Entscheidungsträger
und Struktur des
politischen
Systems
3. Soziokulturelle
Werte und Normen
und
Bewusstsein der
Gesellschaft
Quelle: eigener Entwurf auf der Basis von Lampert (1994, 141 ff.)
auf die besonderen Umstände in Entwicklungsländern hingewiesen, die sich zum Teil
fundamental von denen in weiter entwickelten Ländern unterscheiden und daher Anpassungen der v. a. für europäische Länder entwickelten und in ihnen bewährten sozialpolitischen Strategien an den jeweiligen Kontext erforderlich machen.174 Dies wird nacheinander anhand der drei unmittelbaren Determinanten der Sozialpolitik, i. e. der Problemlösungsdringlichkeit, der Problemlösungsfähigkeit und der Problemlösungsbereitschaft
illustriert.
Problemlösungsdringlichkeit
Die Dringlichkeit einer Politik der sozialen Sicherung ergibt sich aus der Risiko-
Verletzbarkeit der Mitglieder einer Gesellschaft, i. e. (i) der Relevanz und Signifikanz
174 Vgl. FES (1996, 72 ff.); Fuchs (1985, 46–85); Klemp (1992); Kurz (1999, 34–36).
100
ihrer Risiken und (ii) ihrer Kapitalausstattung und ihren Risiko-Management-
Fähigkeiten (vgl. Abschnitt 2.4.1).
Relevanz und Signifikanz von Risiken: Entwicklungsländer unterscheiden sich beträchtlich von den Industrieländern, was die Zahl und Art der für die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder relevanten und signifikanten Risiken angeht. Die meisten Bewohner der Industrieländer sind v. a. durch gesundheitliche und Lebenszyklusrisiken verletzbar, i. e. den typischerweise von Sozialversicherungssystemen abgedeckten Risiken.
Hingegen stellen für die Menschen in den Entwicklungsländern oftmals natürliche, ökologische, ökonomische und politische Risiken (vgl. Abschnitt 2.1) mindestens ebenso
große Bedrohung dar. Anstatt vollständig auf eine Absicherung auf Risiken wie Krankheit, Alter und Entlassung zu fokussieren, wie es das oftmals unhinterfragt aus europäischen Ländern übernommene Konzept der Sozialversicherung vorsieht, kann es daher in
Entwicklungsländern sinnvoller sein, dass angepasstere Formen der sozialen Sicherung
entwickelt werden, die beim Management von Risiken wie z. B. Fluten, Dürren, terms
of trade-Schocks, Inflation, Bürgerkrieg oder Krieg helfen. Zwar sind dies größtenteils
kovariierende Risiken, die nur schwer zu versichern sind, jedoch könnte bspw. an eine
Unterstützung der Bürger bei präventiven Maßnahmen gedacht werden.
Risiko-Management-Fähigkeiten: Ebenso divergieren die Kapitalausstattung und die
Risiko-Management-Fähigkeiten der Haushalte und Individuen in Entwicklungs- und
Industrieländern. So verfügt die große Mehrheit der Bewohner von Entwicklungsländern über erheblich kleinere Vermögen und Einkommen; ein bestimmter absoluter
Schaden hat daher für sie eine wesentlich größere Bedeutung, da diese vom relativen
Schaden abhängt (vgl. Abschnitt 2.3).
Zudem verändern sich auch die Risiko-Management-Fähigkeiten der Haushalte und
Individuen im Verlauf des Entwicklungsprozesses. Auffällig ist, dass die ersten staatlichen Sozialsysteme erst nach Einsetzen der Industrialisierung entstanden.175 Offensichtlich ist staatliches Handeln in diesem Bereich in Agrargesellschaften weniger dringlich
als in urbanisierten und modernisierten Industriegesellschaften. Das liegt daran, dass
Agrargesellschaften traditionelle Gesellschaften sind und von bäuerlichen Subsistenzbetrieben dominiert werden. Eine Bedrohung stellen v. a. gesundheitliche und natürliche
Risiken dar (Epidemien, Dürrekatastrophen, Unwetter etc.), wohingegen Lebenszyklusrisiken innerhalb der Großfamilie und der Dorfgemeinschaft sowie durch einkommensdiversifizierende Maßnahmen aufgefangen werden können. Ebenso haben ökonomische
Risiken keine hohe Relevanz, da das Geld noch keine große Rolle als Tausch- und Thesaurierungsmedium spielt und Konjunkturen fast ausschließlich auf Schwankungen der
Ernteerträge zurückgehen.176
Dies ändert sich mit der Industrialisierung und ihren Folgen: Mit ihr setzt eine Landflucht ein, die zur Urbanisierung der Gesellschaft, zur Herausbildung der Kleinfamilie
und zur Individualisierung der Lebensweisen führt. In den Städten wird abhängige
Lohnarbeit für die meisten Haushalte zur wichtigsten und oftmals einzigen Einnahmequelle. Hieraus ergeben sich neue Risiken, da eine Entlassung, eine Erwerbsunfähigkeit
oder der Tod des Lohnarbeiters den Totalausfall des Haushaltseinkommens bedeuten.
Da sich auch traditionelle Werte und soziale Bindungen auflösen, unterstützen sich
Verwandte und Nachbarn im Höchstfall noch auf Basis einer ausgeglichenen Reziprozität (vgl. Abschnitt 3.4.3), die bei langfristig nachwirkenden Risiken wie den genannten
175 Vgl. Lampert (1994, 132 f. und 150–153).
176 Vgl. Zacher (1988).
101
keine Hilfe darstellen. Die Dringlichkeit der Lösung sozialer Probleme geht erst dann
wieder zurück, wenn der allgemeine Wohlstand wächst und auch ärmere Sozialschichten hiervon profitieren. In den meisten Ländern wurden daher die staatlichen Sozialsysteme gegründet, noch bevor sie zu upper middle-income countries wurden.177
Inwieweit der Staat oder andere hierfür in Frage kommende Institutionen in der Lage
sind, Systeme der sozialen Sicherung aufzubauen, zu betreiben und bei Bedarf zu reformieren, wird von fünf Faktoren bestimmt: (i) der Verfügbarkeit bzw. Mobilisierbarkeit der hierfür erforderlichen finanziellen Mittel, (ii) der demographischen Entwicklung der Gesellschaft, (iii) dem Know-how und den technischen und organisatorischen
Kapazitäten der sozialpolitischen Träger, (iv) ihrer sozialpolitischen Kreativität (die
wiederum von der Natur und der Qualität des politischen Systems abhängt) und (v) dem
Ausgangszustand, i. e. dem historischen Hintergrund der Gesellschaft und der ggf. bereits bestehenden Systeme der sozialen Sicherung.178
Ausstattung mit Ressourcen: Für den Aufbau (die Reform eines sozialen Sicherungssystems werden Finanzmittel benötigt, die der Staat (bzw. ein anderer sozialpolitischer
Akteur) in aller Regel erst mobilisieren muss (indem er z. B. Beiträge oder zusätzliche
Steuern erhebt). Diese Bedingung stellt v. a. low-income countries vor ein ernsthaftes
Problem: Einerseits sind die Pro-Kopf-Einkommen so niedrig, dass große Teile der Bevölkerung hiervon allenfalls extrem kleine Beiträge für die eigene soziale Absicherung
erübrigen können, ohne einen bestimmten Mindestkonsum zu unterschreiten. Auch der
Staat sollte sie daher nicht zu höheren Sozialabgaben verpflichten. Andererseits sind
auch seine sonstigen Finanzierungsmöglichkeiten stark limitiert. Gerade low-income
countries leiden unter einer sehr schmalen Steuerbasis: Nur sehr wenige Bürger zahlen
überhaupt Steuern. Werden diese weiter angehoben, so besteht die Gefahr, dass die
kleine Zahl von Steuerpflichtigen ihr Vermögen ins Ausland bringt und ebenfalls nicht
mehr belangt werden kann. Daher liegt gerade in Ländern mit einem sehr kleinen Bruttoinlandsprodukt (BIP) auch noch die Staatsquote besonders niedrig.179
Demographische Entwicklung: Herausragende Merkmale von Entwicklungsgesellschaften sind ihre hohen Bevölkerungswachstumsraten und ihre sehr steilen Alterspyramiden (i. e. der Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Bevölkerung ist sehr groß,
der Anteil der Älteren hingegen klein). Für die meisten Systeme der sozialen Sicherung
stellt beides ein großes Problem dar. So werden ihre Kosten (z. B. die Ausgaben von
Gesundheitssystemen) von einem relativ kleinen Segment der Bevölkerung, den Erwerbstätigen, getragen, ohne dass diese Kosten etwa – wegen der steilen Alterspyramide – besonders niedrig lägen (auch Kinder, Alte und Nichterwerbstätige benötigen medizinische Leistungen). Zudem steigen die Kosten jedes Jahr mindestens mit der Rate
des Bevölkerungswachstums an. Nur für die Alterssicherungssysteme kann die steile
Alterspyramide einen Vorteil darstellen, da wenige Leistungsempfänger einer hohen
Zahl von Beitragszahlern gegenüberstehen. Allerdings kommt dieser Vorteil nur beim
Umlageverfahren zum Tragen (dies gilt auch für das innerfamiliäre Umlageverfahren,
vgl. Abschnitt 3.4.1). Mit ihnen ist Vorsicht geboten, da sich das Verhältnis von Rentnern und Beitragszahlern sehr schnell verschlechtern kann, sobald die steigende Le-
177 Vgl. Carrin / James (2005, 57); Del Conte (2000, 5); Fuchs (1985, 38 f.); Lund / Srinivas (1999, 54
und 68 ff.); Morduch (1999).
178 Vgl. Lampert (1994, 144 f.); Schmidt / Getubig (1992, 171 f.).
179 Vgl. Carrin / James (2005, 56f.); Dixon (1999); Guhan (1995, 106); Lampert (1994, 144); Mesa-
Lago / Cruz-Saco / Zamalloa (1990).
102
benserwartung und (um eine Generation versetzt) rückläufige Geburtenraten dazu führen, dass die Erwerbsbevölkerung langsamer wächst als die Zahl der Rentner. Dann
nimmt nämlich beim Umlageverfahren auch die finanzielle Belastung der Erwerbstätigen rapide zu.180
Know-how und Kapazitäten der Trägerinstitutionen: Auch das Know-how und die
technischen und organisatorischen Kapazitäten der möglichen Träger von sozialen Sicherungssystemen sind gerade in Entwicklungsländern begrenzt, in denen soziale Probleme besonders groß sind und deren Lösung daher besonders dringlich erscheint. Hinzu
kommt, dass in Entwicklungsländern nicht nur irgendeine, sondern nach Möglichkeit
die sparsamste Lösung erforderlich wäre, die aber oftmals ihrerseits besonders hohe
Anforderungen an das Know-how und die Kapazitäten der sozialpolitischen Akteure
richtet. Deutschland, das als erstes Land weltweit trotz seines frühen Entwicklungsstadiums bereits 1883 eine soziale Krankenversicherung aufbaute, profitierte hierbei von
dem breiten Versicherungs-Know-how, das die zahlreichen, im 19. Jahrhundert entstandenen Versicherungsvereine akkumuliert hatten.181
Sozialpolitische Kreativität und politisches System: Selbst in Bezug auf die sozialpolitische Kreativität der Gesellschaft und der sozialpolitischen Akteure dürfte zumindest
ein Teil der Entwicklungsländer im Nachteil sein. Lampert182 vermutet, dass die Fähigkeit, effektive und effiziente Konzeptionen und Instrumente zur Lösung sozialpolitischer Probleme zu entwickeln, in erster Linie von der gesellschaftlichen Organisation
eines Landes, der Qualität von Staatsverwaltung und Regierungsführung und somit
letztlich auch von der Art und Struktur des politischen Systems abhängt. Tatsächlich
sollte man davon ausgehen können, dass pluralistische Gesellschaften mit starken zivilgesellschaftlichen Organisationen, Rechtssicherheit, einer an den Interessen der Bürger
orientierten Verwaltung und Wettbewerb auf den Märkten ein höheres Innovationspotenzial aufweisen als Gemeinwesen, die vom Staat dominiert und gelenkt werden und
von ineffizienten Strukturen, Korruption und Machtmissbrauch geprägt sind. Jedoch
leidet gerade eine größere Zahl von Entwicklungsländern unter autoritären Regimen,
zentralistischen Verwaltungsstrukturen, einer Überregulierung der Märkte, rigiden gesetzlichen Vorschriften für Vereine und NROs und Einschränkungen bei der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit.
Historischer Hintergrund: Schließlich wird die Problemlösungskapazität eines Landes auch durch seine historischen Erfahrungen und die Beschaffenheit der bereits bestehenden Systeme der sozialen Sicherung eingeschränkt (Pfadabhängigkeit von Reformen). Je mehr Systeme bereits existieren, desto kleiner ist der Gestaltungsspielraum bei
Reformen und desto schwieriger ist es, neue Systeme aufzubauen. Wie wiederum die
bereits bestehenden Systeme ausgestaltet sind, hängt aber vom historischen Hintergrund
des Landes, i. e. den Rahmenbedingungen ihrer Genese ab. Manche haben autochthonpräkoloniale Wurzeln, andere aber entstanden während der Kolonialzeit oder danach.
Oftmals sind sie Kopien der Sozialsysteme, die in den Ländern der einstigen Kolonialherren bereits bestanden. So bestehen auch heute noch in vielen britisch geprägten Ländern Zwangssparsysteme und steuerfinanzierte Gesundheitssysteme, während die eins-
180 Vgl. FES (1996, 72 ff.); Fuchs (1985, 46–85, Klemp (1992); Kurz (1999, 34–36).
181 Vgl. Carrin / James (2005, 56 f. und 59).
182 Vgl. Lampert (1994, 145. Ähnlich: World Bank (2000a, 106–112).
103
tigen französischen Kolonien beitragsfinanzierte Sozialversicherungssysteme vom Bismarck-Typ haben.183
Problemlösungsbereitschaft der Gesellschaft
Inwieweit eine Gesellschaft die Lösung von sozialen Problemen mit allen hiermit verbundenen Konsequenzen wünscht und von der Politik einfordert, wird von drei Faktoren bestimmt: (i) der Problemlösungsdringlichkeit, (ii) dem Problembewusstsein der
Gesellschaft und (iii) dem vorherrschenden Werte- und Normensystem.
Problemlösungsdringlichkeit: Natürlich setzt der Wunsch voraus, dass überhaupt soziale Probleme bestehen, deren Lösung ganz objektiv erforderlich ist.
Bewusstsein der Gesellschaft: Darüber hinaus muss sich aber auch die Gesellschaft
dieser Probleme bewusst werden. Inwieweit dies der Fall ist, hängt mit davon ab, ob
auch die Mitglieder der Gesellschaft die Probleme als gravierend empfinden und nicht
etwa als gottgewollt und unabwendbar betrachten.
Werte- und Normensystem: Schließlich muss sich in der Gesellschaft ein breiter Konsens darüber herausbilden, dass sie über die zur Problemlösung erforderlichen Fähigkeiten verfügt und dass ihre Mitglieder bereit sind, die Problemlösung auch dann zu akzeptieren, wenn sie ggf. negative Auswirkungen hat (z. B. weil bestimmte Mitglieder der
Gesellschaft durch die Problemlösung finanziell belastet werden).184
Ob ein solcher Konsens zustande kommt, hängt maßgeblich von den vorherrschenden sozialen Verhaltensnormen sowie den kulturspezifischen Werten, Weltanschauungen und religiösen Überzeugungen ihrer Mitglieder ab. Tendenziell sind die Gesellschaften von Entwicklungsländern stärker von religiösen Überzeugungen und ethischen
Werten wie bspw. Solidarität, Humanität, Verantwortlichkeit für die Gemeinschaft und
Gerechtigkeit geprägt als die Gesellschaften Europas und Nordamerikas, deren Mitglieder eher nach der freien Entfaltung der Persönlichkeit, individuellem Glück und
Wohlstand und der Unabhängigkeit des Individuums streben. Dies führt dazu, dass der
Zusammenhalt zwischen den Individuen in Entwicklungsgesellschaften stärker ausgeprägt ist und subsidiäre Institutionen wie die Familie, die Nachbarschaft oder die Dorfgemeinschaft einen höheren Stellenwert in ihnen haben.
Von Land zu Land unterschiedlich wird das Verhältnis von Staat und Markt bewertet: In einigen Ländern ist die Sozialpolitik traditionell Aufgabe des Staates, der bspw.
Armenhäuser betreibt oder Almosen an die Bedürftigen vermittelt. Andere Länder hingegen haben keinerlei wohlfahrtsstaatliche Tradition: In ihnen ist es Sache des Einzelnen, dem Eintritt von Risiken vorzubeugen bzw. Maßnahmen der Risiko-Abfederung zu
ergreifen und auch die soziale Fürsorge für die Armen überlässt der Staat privaten Vereinen und religiösen Stiftungen.
Problemlösungsbereitschaft der Politik
Im Idealfall würde die Problemlösungsbereitschaft der Politik von (i) der Problemlösungsdringlichkeit, (ii) der Problemlösungsfähigkeit des Staates und der anderen Akteure der Sozialpolitik und (iii) der Problemlösungsbereitschaft der Gesellschaft bestimmt.
In der Realität jedoch schlägt sich eine hohe Problemlösungsbereitschaft auf Seiten der
Gesellschaft bei weitem nicht immer in einer hohen Problemlösungsbereitschaft bei den
183 Vgl. Dixon (2001, 24).
184 Vgl. Carrin / James (2005, 56 f.); Dixon (2001, 24); Lampert (1994, 142 und 144).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nur die Hälfte aller Menschen weltweit ist gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Ernteausfall abgesichert. Dies gilt v.a. für Beschäftigte im informellen Sektor. Lange wurde übersehen, dass hierin nicht nur ein soziales sondern auch ein ökonomisches Problem besteht, da Menschen ohne soziale Sicherheit besonders vorsichtig handeln und zum Beispiel Investitionen in Bildung und Produktionskapital meiden. Sie scheuen die hiermit verbundenen zusätzlichen Risiken und haben Angst, dass ihnen das investierte Geld bei Zahlungsschwierigkeiten nicht kurzfristig zur Verfügung steht.
Das vorliegende Buch gibt Einblick in die Funktionsweise moderner und traditioneller Systeme der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern und zeigt auf, warum viele von ihnen für informell Beschäftigte ungeeignet sind. Es diskutiert, welche Strategien sich eignen, um die soziale Sicherheit im informellen Sektor zu verbessern und geht insbesondere auf das Potenzial von Kleinstversicherungen ein. Diese zeichnen sich durch niedrige Beitragssätze, flexible Zahlungsmodalitäten und begrenzte Leistungen aus und sind somit ganz an die Möglichkeiten und Bedarfe von Beziehern niedriger Einkommen angepasst, ohne auf Subventionen angewiesen zu sein.