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3.3.2 Effizienz
Ein hoher Zielerreichungsgrad besagt wenig über die Funktionsfähigkeit eines Instrumentes, solange er nicht ins Verhältnis zu anderen Größen gesetzt wird.84 Daher kommt es fast
noch mehr auf die Effizienz von sozialen Sicherungssystemen an, i. e. auf das Verhältnis
von Kosten und Leistungen bzw. Wirkungen. Zudem können sie nur bedingt zur allokativen Effizienz beitragen, wenn sie selbst unter einer sehr niedrigen Kosteneffizienz leiden.
Unter der Effizienz von sozialen Sicherungssystemen soll in dieser Arbeit verstanden
werden, inwieweit sie (i) ihre Ziele mit möglichst geringem Aufwand erreichen (interne
bzw. Kosteneffizienz), (ii) hohe Kosten außerhalb der Systeme selbst in Form von Wohlfahrtsverlusten für die Volkswirtschaft so weit wie möglich vermeiden (externe Effizienz)
und (iii) ihre Wirkungen auch in Zukunft noch entfalten können bzw. nicht durch die Spielregeln oder Ausgaben in der Gegenwart ihre Funktionsfähigkeit in der Zukunft gefährden.
Interne Effizienz (Kosteneffizienz)
Die interne Effizienz von sozialen Sicherungssystemen kann definiert werden als das Verhältnis ihrer Kosten zu ihrem Zielerreichungsgrad. Sie kann in drei Schritten ermittelt werden:
Transfereffizienz: Im ersten Schritt werden die Kosten (das Finanzierungsvolumen) eines
Systems der sozialen Sicherung ins Verhältnis zu den von ihm ausgezahlten Leistungen
gesetzt. Dieses Input-Output-Verhältnis gibt an, wie groß die „Sickerverluste“ sind, die innerhalb des Systems auf Verwaltungsausgaben, Transaktionskosten, den Missbrauch von
Geldern und Korruption zurückgehen, und wird als „Transfereffizienz“ bezeichnet.85
Zielgruppengenauigkeit (targeting efficiency): Im zweiten Schritt misst man, inwieweit die ausgezahlten Leistungen eines Systems der sozialen Sicherung tatsächlich an
seine Zielgruppe fließen. Sie sollten alle Mitglieder der Zielgruppe erreichen („horizontale Effizienz“), nach Möglichkeit aber auch nur sie („vertikale Effizienz“). Somit können beim targeting zwei Fehler auftreten: Der error of exclusion tritt auf, wenn Angehörige der Zielgruppe keine Leistungen beziehen (sog. E-Ineffizienz), während error of
inclusion darin besteht, dass oftmals auch an Personen außerhalb der Zielgruppe Leistungen ausgezahlt werden (sog. F-Ineffizienz).86
Wirkungseffizienz: Im dritten Schritt wird ermittelt, inwieweit die an die Zielgruppe
ausgezahlten Leistungen (outputs) tatsächlich die erwünschten Ergebnisse (outcomes)
und Wirkungen (impacts) erreicht haben, i. e. ob die Höhe und Art der Leistungen adäquat sind, um die Ziele eines sozialen Sicherungssystems zu erreichen (Wirkungsanalyse). Dieser letzte Schritt ist der schwierigste, weil er eigentlich eine Befragung der Leistungsempfänger erfordert.
Externe Effizienz
Die externe Effizienz von sozialen Sicherungssystemen wird durch die volkswirtschaftlichen Kosten bestimmt, die sie außerhalb der Systeme selbst verursachen. Solche Wohlfahrtsverluste können auftreten, wenn die Beteiligung an einem System der sozialen Sicherung nicht freiwillig ist, die Mitglieder also zu einer bestimmten Strategie des Risiko-
Managements gezwungen werden, die ihren Präferenzen widerspricht, bzw. in einem Umfang hieran teilnehmen müssen, der über dem für sie nutzenoptimierenden Ausmaß liegt.
84 Vgl. Dixon (2000b, 51).
85 Vgl. Guhan (1995, 94); Shaban / Al-Botmeh (1995).
86 Vgl. Cornia / Stewart (1995); Guhan (1995, 94 und 105).
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Besonders große Wohlfahrtsverluste sind zu erwarten, wenn die Beitragsäquivalenz
der sozialen Leistungen nicht gewahrt ist, i. e. wenn innerhalb des Systems – in welcher
Richtung auch immer – Umverteilungen zwischen den Mitgliedern stattfinden, die nicht
auf das eigentliche Risiko-Management zurückgehen. In diesem Fall zahlen einige Mitglieder mehr ein, als ihnen an Auszahlungen (sozialen Leistungen) zusteht, während
andere Mitglieder Auszahlungen zu erwarten haben, die den Wert ihrer Einzahlungen
übersteigen. Dies mag zwar aus verteilungspolitischen Gründen erwünscht sein (sofern
ärmere Mitglieder netto profitieren). Auf die allokative Effizienz wirkt sich die Umverteilung aber negativ aus. Denn die Differenzen zwischen der Summe der Einzahlungen
und dem Erwartungswert der Auszahlungen haben den Charakter einer Steuer bzw. einer Zuzahlung und können Anpassungsreaktionen und eine Verschiebung der Marktgleichgewichte mit sich bringen (vgl. Abschnitt 3.2).
Wie groß die externen Kosten (Wohlfahrtsverluste) jeweils sind, die von einem System der sozialen Sicherung verursacht werden, lässt sich nur schwer abschätzen, weil jede Anpassungsreaktion weitere Anpassungsreaktionen nach sich zieht und eine Quantifizierung der gesamten Folgekosten daher ein volldeterminiertes Totalmodell der Ökonomie erforderlich machen würde. Jedoch kann man davon ausgehen, dass sich die
Wohlfahrtsverluste im Rahmen halten, wenn zwei Prinzipien so weit wie möglich eingehalten werden: (i) das Prinzip der Beitragsäquivalenz und (ii) das Subsidiaritätsprinzip.87
Beitragsäquivalenz: Unter Beitragsäquivalenz i. e. S. versteht man, dass der Gegenwartswert aller Auszahlungen / Leistungen lt eines Systems der sozialen Sicherung in
verschiedenen Perioden t dem Gegenwartswert der Einzahlungen / Finanzierungsbeiträge bt entspricht:
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wobei 1/(1+ip) einen Diskontierungsfaktor für die Periode p darstellt, z. B. den Diskontierungsfaktor der Inflation oder eines bestimmten Opportunitätszinses.
Hingegen lässt Beitragsäquivalenz i. w. S. (auf die es eigentlich ankommt) Umverteilung zugunsten derjenigen zu, die durch ein Risiko zu Schaden gekommen sind (nicht
aber Umverteilung im verteilungspolitischen Sinne zugunsten der Armen). Beitrags-
äquivalenz i. w. S. liegt vor, wenn der Gegenwartswert der erwarteten Auszahlungen /
Leistungen Elt eines Systems der sozialen Sicherung in zukünftigen Perioden t dem Gegenwartswert der zu erwartenden Einzahlungen / Finanzierungsbeiträge bt entspricht:
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87 Vgl. Blinder (1982, 26–32); Naqib (1985).
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Beitragsäquivalenz i. w. S. reicht aus, um allzu große Wohlfahrtsverluste zu verhindern, die auf Anpassungsreaktionen der Mitglieder eines Systems der sozialen Sicherung ausgehen. Diese können ja nicht wissen, ob sie in der Zukunft durch ein Risiko zu
Schaden kommen und in Folge dessen Auszahlungen / Kompensationsleistungen von
dem System zu erwarten haben oder nicht. Bei ihren Entscheidungen können sie sich
daher nur an Wahrscheinlichkeiten orientieren und rechnen bei ihren Überlegungen, ob
sie von dem System netto be- oder entlastet werden, mit dem Erwartungswert der Zahlungsströme. Nachträglich, wenn sie wissen, ob sie Gewinn oder Verlust gemacht haben, können sie ihr Verhalten nicht mehr korrigieren.
Subsidiarität: Allerdings ist auch Beitragsäquivalenz i. w. S. keine hinreichende Bedingung für die Vermeidung von Wohlfahrtsverlusten. Wird nämlich den Haushalten
bzw. Individuen eine Beteiligung an einem System der sozialen Sicherung (z. B. per
Gesetz oder durch sozialen Druck) zur Pflicht gemacht wird, so kann es geschehen, dass
sie zu einer Form des Risiko-Managements gezwungen werden, die ihnen gar nicht lieb
ist, bzw. Vorsorge betreiben in einem Umfang, der weit über dem für sie nutzenmaximierenden Niveau liegt.88
Ein guter Indikator dafür, ob die Mitglieder eines Systems der sozialen Sicherung
dessen Unterstützung beim Risiko-Management überhaupt wünschen, ist das Prinzip der
Subsidiarität.89 Es geht auf eine Idee der katholischen Soziallehre zurück, nach der sich
die Gesellschaft aus konzentrischen Kreisen aufbaut: Im Mittelpunkt steht das Individuum, das nacheinander umgeben wird von der Familie, der Großfamilie, der Nachbarschaft, der Dorfgemeinschaft, der Provinz und letztlich dem Staat und der internationalen Staatengemeinschaft.90
Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass Maßnahmen der sozialen Sicherung auf einer
möglichst niedrigen Ebene ergriffen werden und der Maxime „Selbsthilfe geht vor
Fremdhilfe“91 folgen sollten. Prinzipiell sollte das Risiko-Management eigenständig
vom Individuum oder vom Haushalt durchgeführt werden. Ist dies nicht möglich, so
sollten die Familie, die Nachbarschaft oder die Dorfgemeinschaft Beistand leisten und
bei der Erfüllung dieser Aufgabe wiederum flankierend vom Staat unterstützt werden.
Der Staat sollte erst dann selber aktiv werden, wenn (i) das Individuum weder alleine,
noch mit Unterstützung der Verwandten, Freunde oder Nachbarn in der Lage ist, seine
Risiken zu managen, und wenn er (ii) die erforderlichen Maßnahmen besser durchführen kann als andere sozialpolitische Akteure. Das beinhaltet auch, dass der Staat nur bei
Marktversagen ins Wirtschaftsgeschehen eingreift.
Subsidiarität soll verhindern, dass einem Wirtschaftssubjekt Hilfe geleistet wird, die
es gar nicht erwünscht hat und die seinen Nutzen nicht erhöht, sondern mindert. Zudem
soll sie das Gefühl der Selbstverantwortlichkeit (das ownership) fördern und das Selbsthilfepotenzial der Individuen und der kleineren gesellschaftlichen Einheiten stärken.92
88 Bspw. im Rahmen der Sozialversicherung, vgl. Breyer (1990b).
89 Der Begriff „Subsidiarität“ ist abgeleitet von lat. subsidium, i. e. Rückhalt / Beistand / Schutz, vgl.
Kurz (1999, 29).
90 Vgl. Kurz (1999, 29); Lampert (1994, 413 f.).
91 Lampert (1994, 414).
92 Vgl. BMZ (1999a, 13); Guhan (1995, 107); Lampert (1994, 414).
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Nachhaltigkeit der Effizienz
Schließlich muss die Effizienz eines Systems der sozialen Sicherung auch dadurch zum
Ausdruck kommen, dass es nachhaltig ist, i. e. dass
— sein gegenwärtiges Leistungsniveau auch in der Zukunft und für kommende Generationen aufrechterhalten werden kann (finanzielle Nachhaltigkeit bzw. Finanzierbarkeit),
— der institutionelle Bestand des Systems und seines Trägers stabil und auch in der
Zukunft gesichert ist (institutionelle Nachhaltigkeit bzw. Bestandsgarantie),
— die „Spielregeln“ des Systems (die Bestimmungen über den Kreis der Mitglieder
bzw. Leistungsberechtigten, die Beitrags- und Leistungsbedingungen, die Höhe
von Beiträgen und Leistungen etc.) bekannt sind und Veränderungen langfristig
voraussehbar sind bzw. rechtzeitig angekündigt werden (Erwartungssicherheit)
und
— der Leistungsanspruch (entitlement) transparent ist, rechtlich garantiert wird, einklagbar ist und bei Nicht-Erhalt mit Sanktionen gedroht werden kann (Rechtssicherheit).93
3.3.3 Soziale Gerechtigkeit
Wenn die Wirkungen eines Systems der sozialen Sicherung betrachtet werden, darf
ebenfalls nicht die Frage vergessen werden, wem es v. a. nützt, i. e. wie sozial gerecht
es ist. Dies drückt sich (i) in seinen Verteilungswirkungen und (ii) in der Unterschiedslosigkeit der Zugangsmöglichkeiten für verschiedene Bevölkerungsgruppen aus. Weiterhin muss die soziale Gerechtigkeit (iii) aber auch nachhaltig sein.
Verteilungsgerechtigkeit
Die Verteilungswirkungen von sozialen Sicherungssystemen lassen sich daran ablesen,
inwieweit für unterschiedliche soziale Gruppen Beitragsäquivalenz i. w. S. gewährleistet
ist. Liegt bei ärmeren Gruppen der Gegenwartswert der erwarteten Leistungen über dem
Gegenwartswert ihrer Finanzierungsbeiträge, so stellt dies eine Abweichung vom Äquivalenzprinzip dar, die aber akzeptabel und ggf. sogar erwünscht ist, wenn das betreffende
Sozialsystem explizit zur Einkommensumverteilung beitragen soll. Anders verhält es sich
jedoch, wenn die Armen damit rechnen müssen, dass sie in ein Sozialsystem mehr einzahlen, als sie von ihm erhalten werden, während die Wohlhabenden netto bezuschusst werden. Es wirkt dann nämlich regressiv auf die Einkommensverteilung in der Gesellschaft.
Chancengleichheit
Ein System der sozialen Sicherung kann aber auch dann regressive Verteilungseffekte
haben, wenn für alle Mitglieder die erwarteten Leistungen äquivalent zu ihrem Finanzierungsbeitrag sind. Dies ist bereits der Fall, wenn Teile der Bevölkerung keinen Zugang zu dem System haben (bspw. in eine Sozialversicherung nicht aufgenommen werden). Sie haben nicht die Möglichkeit, die Unsicherheit gegen ein sicheres Einkommen
zu tauschen und dadurch einen höheren Nutzen zu erzielen (vgl. Abschnitt 2.2). Anders
93 Vgl. Gillion et al. (2000, 402 f.).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nur die Hälfte aller Menschen weltweit ist gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Ernteausfall abgesichert. Dies gilt v.a. für Beschäftigte im informellen Sektor. Lange wurde übersehen, dass hierin nicht nur ein soziales sondern auch ein ökonomisches Problem besteht, da Menschen ohne soziale Sicherheit besonders vorsichtig handeln und zum Beispiel Investitionen in Bildung und Produktionskapital meiden. Sie scheuen die hiermit verbundenen zusätzlichen Risiken und haben Angst, dass ihnen das investierte Geld bei Zahlungsschwierigkeiten nicht kurzfristig zur Verfügung steht.
Das vorliegende Buch gibt Einblick in die Funktionsweise moderner und traditioneller Systeme der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern und zeigt auf, warum viele von ihnen für informell Beschäftigte ungeeignet sind. Es diskutiert, welche Strategien sich eignen, um die soziale Sicherheit im informellen Sektor zu verbessern und geht insbesondere auf das Potenzial von Kleinstversicherungen ein. Diese zeichnen sich durch niedrige Beitragssätze, flexible Zahlungsmodalitäten und begrenzte Leistungen aus und sind somit ganz an die Möglichkeiten und Bedarfe von Beziehern niedriger Einkommen angepasst, ohne auf Subventionen angewiesen zu sein.