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Allokations- und Verteilungsziel können somit auch als Instrumente zur Erreichung des
Stabilitätszieles interpretiert werden. Möglicherweise ist dieses dritte Ziel überhaupt das
vorrangige Motiv, das Regierungen zu einem sozialpolitischen Engagement bewegt. So
gründete Bismarck in Deutschland die erste Sozialversicherung der Welt, um den sozialen Frieden zu erhalten, die Gesellschaft zu stabilisieren und soziale Unruhen abzuwenden. Zudem wollte er die Arbeiterschaft in das kapitalistische Wirtschaftssystem integrieren, um die sozialdemokratische Opposition zu schwächen. Ebenso verfolgte William
Beveridge nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Neuaufbau eines Sozialsystems im
vereinigten Königreich nicht zuletzt das Ziel, den inneren Zusammenhalt der britischen
Gesellschaft zu stärken.82
3.3 Bewertungskriterien
Natürlich sollten Systeme der sozialen Sicherung danach bewertet werden, wie effektiv sie
sind, i. e. inwieweit sie Haushalte und Individuen beim Risiko-Management unterstützen
und damit zur allokativen Effizienz, zur sozialen Gerechtigkeit und zur Stabilität beitragen.
Daneben kommt es aber auch darauf an, dass die Systeme selbst effizient und sozial gerecht
sind. Übersicht 2 schlüsselt diese drei Kriterien auf und ordnet ihnen Parameter zu.
3.3.1 Effektivität
Im vorangegangenen Abschnitt wurden die Sicherstellung der allokativen Effizienz, die
Durchsetzung von sozialer Gerechtigkeit und die Stabilisierung von Gesellschaft und
Politik als übergeordnete Ziele der sozialen Sicherung identifiziert. Jedoch lässt sich nur
schwer ausmachen, inwieweit sie diese drei doch relativ abstrakten Ziele tatsächlich
erreicht – v. a. weil der Einfluss anderer Faktoren nicht analytisch eliminiert werden
kann und weil die Ziele selbst nicht gemessen werden können.
Unter der Effektivität von sozialen Sicherungssystemen wird daher in dieser Arbeit
verstanden, inwieweit sie ihre unmittelbaren Ziele erreichen, i. e.
— die Verletzbarkeit von Haushalten und Individuen durch die für sie jeweils relevanten und signifikanten Risiken vermindern und dadurch dazu beitragen, ihr
Einkommen zu verstetigen und die Gefahr einer signifikanten Verschlechterung
des Lebensstandards zu bannen,
— das zur Existenzsicherung erforderliche Konsumniveau für alle sicherstellen und
— die Bereitschaft einkommensschwacher Haushalten und Individuen zu risikobehafteten ökonomischen Aktivitäten stärken.83
82 Vgl. Kurz (1999, 16–18).
83 Vgl. Coudouel et al. (2002, 170 f.).
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Übersicht 2: Kriterien und Parameter zur Bewertung von Systemen der sozialen Sicherung
Kriterien Auswahl möglicher Parameter
Effektivität:
Minderung der
Risiko-
Verletzbarkeit
(Verstetigung der
Einkommensentwicklung)
– Umfang des Sicherungsschutzes:
Welche Risiken werden abgedeckt? In welchem Umfang?
– Bedarfsorientierung des Sicherungsschutzes:
Sind die relevanten und signifikanten Risiken abgedeckt?
Sind die abgedeckten Risiken für die Zielgruppe relevant und signifikant?
Wünscht die Zielgruppe Absicherung gegen diese oder andere Risiken?
– Zahl der Haushalte, deren Lebensstandard sich nach Eintritt eines Risikos
deutlich verschlechtert
– Anteil der volkswirtschaftlichen Ausgaben für Maßnahmen der Risiko-
Prävention bzw. der Risiko-Abfederung am Volkseinkommen
Sicherung des
Existenzminimums
– Zahl der absolut Armen und Intensität ihrer Einkommensarmut
– Anteil der absolut Armen, die finanzielle Unterstützung (z. B. Sozialhilfe)
beziehen
Steigerung der
Risikobereitschaft
– Investitionsausgaben von einkommensschwachen Haushalten
in einkommensgenerierende Tätigkeiten
– Ausgaben einkommensschwacher Haushalte für Bildung und Gesundheit
Effizienz:
a) Interne Effizienz (Kosteneffizienz)
Zielgruppengenauigkeit (targeting efficiency)
– error of inclusion: Anteil von Angehörigen der Zielgruppe, die vorgesehene
Leistungen nicht empfangen
– Größe des error of exclusion: Anteil der Leistungsempfänger, die eigentlich
nicht der Zielgruppe angehören
Transfereffizienz
(transfer efficiency)
– Kosten pro Einheit output (z. B. pro ausgezahlter Einheit Sozialhilfe)
– systemische cost / benefit-ratio: Verhältnis der gesamten Kosten eines Programms bzw. Systems zum Volumen der Leistungen, die an Angehörige
der Zielgruppe ausgezahlt werden
(Kombination des error of exclusion und der transfer efficiency)
Wirkungseffizienz – primäre Wirkungen:
Schützen die Leistungen vor den relevanten und signifikanten Risiken?
– sekundäre Wirkungen:
Inwieweit verringern die Leistungen Einkommensschwankungen?
Inwieweit bekämpfen sie Einkommensarmut?
Inwieweit beeinflussen die Leistungen das Verhalten der Empfänger?
– Kosten pro Einheit outcome (z. B. Ausgaben pro geschaffenem Arbeitsplatz)
b) Externe Effizienz
Beitragsäquivalenz – individuelle benefit / cost-ratio: Verhältnis erwarteter empfangener Leistungen zu gezahlten Beiträgen / Steuern für jedes Mitglied
(interne Verzinsung von Beiträgen / Einzahlungen)
Subsidiarität – Funktionelle Subsidiarität:
Wie stark werden privatwirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Systeme
der sozialen Sicherung durch staatliche verdrängt?
– Territoriale Subsidiarität:
Werden sozialpolitische Maßnahmen und Entscheidungen auf der kommu-
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nalen Ebene, der Provinzebene oder der nationalen Ebene getroffen?
– Administrative Subsidiarität:
Wie autonom sind öffentliche Träger von sozialen Sicherungssystemen?
Wie stark werden die Betroffenen an wichtigen sozialpolitischen Entscheidungen beteiligt?
c) Nachhaltigkeit der Effizienz
Finanzielle
Nachhaltigkeit
(Finanzierbarkeit)
– Veränderungen bzw. zu erwartende Veränderungen der Überschüsse bzw.
Verluste
– Vergleich der generational accounts der einzelnen Generationen
(entsprechen generationenspezifischen benefit / cost-ratios)
institutionelle
Nachhaltigkeit
(Bestandssicherheit)
– Stabilität der Trägerinstitution
– Vertrauen der Zielgruppe in Trägerinstitution
Erwartungssicherheit – Konstanz und Prognostizierbarkeit der Konditionen von Leistungsansprüchen
– Anpassung der Leistung an inflationsbedingte nominale Wertverluste
Rechtssicherheit – Grundlage des Leistungsanspruchs
– Kontroll- und Einklagemöglichkeiten der Leistungsberechtigten
Soziale Gerechtigkeit:
a) Verteilungsgerechtigkeit
Verteilungseffekte – Vergleich der individuellen benefit / cost-ratios für alle Mitglieder eines
Systems: keine Nettobelastung der ärmeren Mitglieder
– Finanzierbarkeit der Beiträge für ärmere Mitglieder
(Anteil der jeweiligen Finanzierungsbeiträge von ärmeren und wohlhabenderen Mitgliedern an deren Einkommen)
– Subventionierung von Systemen aus indirekten / direkten Steuermitteln
b) Chancengleichheit
explizite Zugangsbeschränkungen
– gesetzlicher Deckungsgrad / Reichweite
– Unterschiedslosigkeit des Deckungsgrades und der Reichweite nach Geschlecht, Region, Stadt / Land, Einkommen, Beruf, Erwerbsverhältnis,
Ethnie, Sprache, Religion etc.; insbesondere Anteil der materiell Armen
und Marginalisierten an den Zugangsberechtigten / Mitgliedern
implizite Zugangsbeschränkungen
– Gestaltung von Antragsformularen
– regionale Präsenz der Trägerinstitution
– Einfachheit und Schnelligkeit von Prozeduren
– sonstige indirekte oder ungewollte Zugangsprobleme
c) Nachhaltigkeit der sozialen Gerechtigkeit
intergenerative
Verteilungsgerechtigkeit
– Unterschiedslosigkeit der generational accounts
Quelle: eigener Entwurf
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3.3.2 Effizienz
Ein hoher Zielerreichungsgrad besagt wenig über die Funktionsfähigkeit eines Instrumentes, solange er nicht ins Verhältnis zu anderen Größen gesetzt wird.84 Daher kommt es fast
noch mehr auf die Effizienz von sozialen Sicherungssystemen an, i. e. auf das Verhältnis
von Kosten und Leistungen bzw. Wirkungen. Zudem können sie nur bedingt zur allokativen Effizienz beitragen, wenn sie selbst unter einer sehr niedrigen Kosteneffizienz leiden.
Unter der Effizienz von sozialen Sicherungssystemen soll in dieser Arbeit verstanden
werden, inwieweit sie (i) ihre Ziele mit möglichst geringem Aufwand erreichen (interne
bzw. Kosteneffizienz), (ii) hohe Kosten außerhalb der Systeme selbst in Form von Wohlfahrtsverlusten für die Volkswirtschaft so weit wie möglich vermeiden (externe Effizienz)
und (iii) ihre Wirkungen auch in Zukunft noch entfalten können bzw. nicht durch die Spielregeln oder Ausgaben in der Gegenwart ihre Funktionsfähigkeit in der Zukunft gefährden.
Interne Effizienz (Kosteneffizienz)
Die interne Effizienz von sozialen Sicherungssystemen kann definiert werden als das Verhältnis ihrer Kosten zu ihrem Zielerreichungsgrad. Sie kann in drei Schritten ermittelt werden:
Transfereffizienz: Im ersten Schritt werden die Kosten (das Finanzierungsvolumen) eines
Systems der sozialen Sicherung ins Verhältnis zu den von ihm ausgezahlten Leistungen
gesetzt. Dieses Input-Output-Verhältnis gibt an, wie groß die „Sickerverluste“ sind, die innerhalb des Systems auf Verwaltungsausgaben, Transaktionskosten, den Missbrauch von
Geldern und Korruption zurückgehen, und wird als „Transfereffizienz“ bezeichnet.85
Zielgruppengenauigkeit (targeting efficiency): Im zweiten Schritt misst man, inwieweit die ausgezahlten Leistungen eines Systems der sozialen Sicherung tatsächlich an
seine Zielgruppe fließen. Sie sollten alle Mitglieder der Zielgruppe erreichen („horizontale Effizienz“), nach Möglichkeit aber auch nur sie („vertikale Effizienz“). Somit können beim targeting zwei Fehler auftreten: Der error of exclusion tritt auf, wenn Angehörige der Zielgruppe keine Leistungen beziehen (sog. E-Ineffizienz), während error of
inclusion darin besteht, dass oftmals auch an Personen außerhalb der Zielgruppe Leistungen ausgezahlt werden (sog. F-Ineffizienz).86
Wirkungseffizienz: Im dritten Schritt wird ermittelt, inwieweit die an die Zielgruppe
ausgezahlten Leistungen (outputs) tatsächlich die erwünschten Ergebnisse (outcomes)
und Wirkungen (impacts) erreicht haben, i. e. ob die Höhe und Art der Leistungen adäquat sind, um die Ziele eines sozialen Sicherungssystems zu erreichen (Wirkungsanalyse). Dieser letzte Schritt ist der schwierigste, weil er eigentlich eine Befragung der Leistungsempfänger erfordert.
Externe Effizienz
Die externe Effizienz von sozialen Sicherungssystemen wird durch die volkswirtschaftlichen Kosten bestimmt, die sie außerhalb der Systeme selbst verursachen. Solche Wohlfahrtsverluste können auftreten, wenn die Beteiligung an einem System der sozialen Sicherung nicht freiwillig ist, die Mitglieder also zu einer bestimmten Strategie des Risiko-
Managements gezwungen werden, die ihren Präferenzen widerspricht, bzw. in einem Umfang hieran teilnehmen müssen, der über dem für sie nutzenoptimierenden Ausmaß liegt.
84 Vgl. Dixon (2000b, 51).
85 Vgl. Guhan (1995, 94); Shaban / Al-Botmeh (1995).
86 Vgl. Cornia / Stewart (1995); Guhan (1995, 94 und 105).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nur die Hälfte aller Menschen weltweit ist gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Ernteausfall abgesichert. Dies gilt v.a. für Beschäftigte im informellen Sektor. Lange wurde übersehen, dass hierin nicht nur ein soziales sondern auch ein ökonomisches Problem besteht, da Menschen ohne soziale Sicherheit besonders vorsichtig handeln und zum Beispiel Investitionen in Bildung und Produktionskapital meiden. Sie scheuen die hiermit verbundenen zusätzlichen Risiken und haben Angst, dass ihnen das investierte Geld bei Zahlungsschwierigkeiten nicht kurzfristig zur Verfügung steht.
Das vorliegende Buch gibt Einblick in die Funktionsweise moderner und traditioneller Systeme der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern und zeigt auf, warum viele von ihnen für informell Beschäftigte ungeeignet sind. Es diskutiert, welche Strategien sich eignen, um die soziale Sicherheit im informellen Sektor zu verbessern und geht insbesondere auf das Potenzial von Kleinstversicherungen ein. Diese zeichnen sich durch niedrige Beitragssätze, flexible Zahlungsmodalitäten und begrenzte Leistungen aus und sind somit ganz an die Möglichkeiten und Bedarfe von Beziehern niedriger Einkommen angepasst, ohne auf Subventionen angewiesen zu sein.