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Darüber hinaus ist ein Kompromiss zwischen Umverteilung und Leistungsgerechtigkeit schon alleine deswegen von Bedeutung, weil zwischen dem Allokations- und dem
Verteilungsziel von Systemen der sozialen Sicherung ein Spannungsverhältnis bestehen
kann. Je stärker sie umverteilen und damit vom Äquivalenzprinzip abweichen, umso
eher ist mit Wohlfahrtsverlusten zu rechnen, die auf Anpassungsreaktionen der Wirtschaftssubjekte auf den Güter- und Faktormärkten zurückgehen. Umgekehrt kann eine
Sozialpolitik, die ausschließlich von Effizienzkriterien geleitet wird, soziale Ungleichheiten u. U. sogar noch verschärfen.79
Umverteilung zugunsten ärmerer Haushalte kann nur durch Steuern oder Beiträge finanziert werden, die die Wohlhabenden netto belasten. Bemisst sich die Höhe dieser
Steuern oder Beiträge bspw. nach dem Erwerbseinkommen, so mindern sie bei besser
verdienenden Arbeitnehmern den Anreiz, auf Freizeit zu verzichten, um ein bestimmtes
Erwerbseinkommen zu erzielen, und schaffen zusätzliche Anreize zur Steuerhinterziehung, zur Schwarzarbeit und zur Informalisierung von Erwerbsverhältnissen. Werden
die Steuern oder Beiträge vom Kapitaleinkommen abgezogen, so senken sie die Nettoverzinsung von Finanz- und Sachkapital, erhöhen den relativen Preis von zukünftigem
Konsum (im Verhältnis zum Preis von Konsum in der Gegenwart) und führen dazu,
dass die Wirtschaftssubjekte weniger sparen und investieren oder aber ihr Kapital ins
Ausland bringen. Werden sie schließlich auf den Konsum von Luxusgütern erhoben, so
verteuern sie diese im Verhältnis zu anderen Gütern. Somit beeinflusst Umverteilung
immer irgendwelche relativen Preise und führt dadurch zu Substitutionseffekten und
letztlich zu Wohlfahrtsverlusten.
Zu Anpassungsreaktionen kommt es aber auch bei den Begünstigten der Umverteilung: Sozialhilfen z. B. reduzieren den Anreiz zur Aufnahme von Erwerbstätigkeiten,
prozentuale Lohnzuschüsse stärken ihn. Eine Subventionierung von Guthabenzinsen
beeinflusst das Spar- und Investitionsverhalten, während eine Subventionierung von
Sollzinsen die Nachfrage nach Krediten erhöht. Lebensmittelsubventionen schließlich
beeinflussen die relativen Preise von Konsumgütern und somit die Konsumgewohnheiten der Nettoempfänger. Abbildung 7 stellt dies graphisch am Beispiel einer Besteuerung und Subventionierung von Erwerbseinkommen im oberen bzw. unteren Einkommensbereich dar.80
Stabilität von Politik und Gesellschaft
Das dritte übergeordnete Ziel von Systemen der sozialen Sicherung ist, die Kohäsion
der Gesellschaft zu stärken und die politische Ordnung zu stabilisieren. Indem sie Haushalte und Individuen gegen Risiken absichern, Einkommen verstetigen, einkommensschwache Gruppen unterstützen und zur Aufnahme ökonomischer Aktivitäten ermutigen, fördern sie Wohlergehen und Wachstum. Dadurch sinkt die Hemmschwelle für
eine gewaltsame Austragung von Verteilungskonflikten, und die Bereitschaft der Gesellschaftsmitglieder zu kooperativem und solidarischem Verhalten steigt. Gleichzeitig
tragen sie zu einer organischeren Gesellschaft bei, indem sie allzu krasse Verteilungsgefälle abbauen und soziale Gerechtigkeit durchsetzen.81
79 Vgl. Lampert (1994, 132); Norton / Conway / Foster (2001, 24); Sangmeister (2000).
80 Vgl. World Bank (1994, 134); Naqib (1985).
81 Vgl. Holzmann (2001, 5 f.).
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Abbildung 7: Effizienzverluste durch Umverteilung am Beispiel einer Besteuerung höherer
Einkommen sowie einer Subventionierung kleinerer Einkommen
a) Wirkungen der Steuer im oberen Einkommensbereich
b) Wirkungen der Subvention im unteren Einkommensbereich
Anmerkung:
Die Abbildung zeigt,
dass die Steuer auf höhere Einkommen einen
Keil zwischen den Bruttolohn wBr und den Nettolohn wN treibt: Somit
sinkt der Nettolohn des
Erwerbstätigen von w
auf wN’ und lässt das
effektive Arbeitsangebot
von l auf l‘ zurückgehen.
Die Minderung der Konsumentenrente und der
Produzentenrente wird
teilweise durch das
Steueraufkommen kompensiert, es verbleibt
aber ein Netto-Wohlfahrtsverlust
(excess burden / dead
weight loss), der durch
das Harberger-Dreieck
symbolisiert wird.
Umgekehrt steigt im
unteren Einkommensbereich der Nettolohn von
w auf wN’ und lässt das
Arbeitsangebot von l auf
l‘ steigen.
Von der Subventionsausgabe profitieren z. T.
die Arbeitnehmer (in
Form einer höheren Produzentenrente) und z. T.
die Arbeitgeber (in Form
einer höheren Konsumentenrente), ein Teil
geht aber auch verloren;
dieser Verlust (excess
burden/ dead weight
loss) wird in der unteren
Abbildung wieder durch
ein Harberger-Dreieck
dargestellt.
Quelle: eigener Entwurf
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Allokations- und Verteilungsziel können somit auch als Instrumente zur Erreichung des
Stabilitätszieles interpretiert werden. Möglicherweise ist dieses dritte Ziel überhaupt das
vorrangige Motiv, das Regierungen zu einem sozialpolitischen Engagement bewegt. So
gründete Bismarck in Deutschland die erste Sozialversicherung der Welt, um den sozialen Frieden zu erhalten, die Gesellschaft zu stabilisieren und soziale Unruhen abzuwenden. Zudem wollte er die Arbeiterschaft in das kapitalistische Wirtschaftssystem integrieren, um die sozialdemokratische Opposition zu schwächen. Ebenso verfolgte William
Beveridge nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Neuaufbau eines Sozialsystems im
vereinigten Königreich nicht zuletzt das Ziel, den inneren Zusammenhalt der britischen
Gesellschaft zu stärken.82
3.3 Bewertungskriterien
Natürlich sollten Systeme der sozialen Sicherung danach bewertet werden, wie effektiv sie
sind, i. e. inwieweit sie Haushalte und Individuen beim Risiko-Management unterstützen
und damit zur allokativen Effizienz, zur sozialen Gerechtigkeit und zur Stabilität beitragen.
Daneben kommt es aber auch darauf an, dass die Systeme selbst effizient und sozial gerecht
sind. Übersicht 2 schlüsselt diese drei Kriterien auf und ordnet ihnen Parameter zu.
3.3.1 Effektivität
Im vorangegangenen Abschnitt wurden die Sicherstellung der allokativen Effizienz, die
Durchsetzung von sozialer Gerechtigkeit und die Stabilisierung von Gesellschaft und
Politik als übergeordnete Ziele der sozialen Sicherung identifiziert. Jedoch lässt sich nur
schwer ausmachen, inwieweit sie diese drei doch relativ abstrakten Ziele tatsächlich
erreicht – v. a. weil der Einfluss anderer Faktoren nicht analytisch eliminiert werden
kann und weil die Ziele selbst nicht gemessen werden können.
Unter der Effektivität von sozialen Sicherungssystemen wird daher in dieser Arbeit
verstanden, inwieweit sie ihre unmittelbaren Ziele erreichen, i. e.
— die Verletzbarkeit von Haushalten und Individuen durch die für sie jeweils relevanten und signifikanten Risiken vermindern und dadurch dazu beitragen, ihr
Einkommen zu verstetigen und die Gefahr einer signifikanten Verschlechterung
des Lebensstandards zu bannen,
— das zur Existenzsicherung erforderliche Konsumniveau für alle sicherstellen und
— die Bereitschaft einkommensschwacher Haushalten und Individuen zu risikobehafteten ökonomischen Aktivitäten stärken.83
82 Vgl. Kurz (1999, 16–18).
83 Vgl. Coudouel et al. (2002, 170 f.).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nur die Hälfte aller Menschen weltweit ist gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Ernteausfall abgesichert. Dies gilt v.a. für Beschäftigte im informellen Sektor. Lange wurde übersehen, dass hierin nicht nur ein soziales sondern auch ein ökonomisches Problem besteht, da Menschen ohne soziale Sicherheit besonders vorsichtig handeln und zum Beispiel Investitionen in Bildung und Produktionskapital meiden. Sie scheuen die hiermit verbundenen zusätzlichen Risiken und haben Angst, dass ihnen das investierte Geld bei Zahlungsschwierigkeiten nicht kurzfristig zur Verfügung steht.
Das vorliegende Buch gibt Einblick in die Funktionsweise moderner und traditioneller Systeme der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern und zeigt auf, warum viele von ihnen für informell Beschäftigte ungeeignet sind. Es diskutiert, welche Strategien sich eignen, um die soziale Sicherheit im informellen Sektor zu verbessern und geht insbesondere auf das Potenzial von Kleinstversicherungen ein. Diese zeichnen sich durch niedrige Beitragssätze, flexible Zahlungsmodalitäten und begrenzte Leistungen aus und sind somit ganz an die Möglichkeiten und Bedarfe von Beziehern niedriger Einkommen angepasst, ohne auf Subventionen angewiesen zu sein.