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nahmen der Prävention und Abfederung von Risiken den Charakter von meritorischen
Gütern75 an, da sie letztlich auch für das Gemeinwesen Einsparungen ermöglichen.
Soziale Gerechtigkeit
Das zweite übergeordnete Ziel von sozialen Sicherungssystemen besteht darin, soziale
Gerechtigkeit in der Gesellschaft durchzusetzen. Hierzu tragen sie auf zweierlei Weise
bei:
Einerseits verbessern sie die Chancengleichheit (equity of opportunity), wenn sie gezielt den Zugang von benachteiligten Bevölkerungsgruppen zu wichtigen Instrumenten
des Risiko-Managements erleichtern. Dadurch verhindern sie, dass die Ergebnisse der
Marktprozesse für verschiedene Teilnehmer schon alleine aufgrund unterschiedlicher
Ausgangspositionen zu sehr divergieren. Soziale Sicherungssysteme beeinflussen also
bereits die primäre Einkommensverteilung, i. e. das Verteilungsergebnis unmittelbar
nach Abschluss der Marktprozesse.76
Andererseits können sie auch unmittelbar für ein höheres Maß an Verteilungsgleichheit (equity of outcome) sorgen, wenn sie erst nach Abschluss der Marktprozesse ansetzen und deren Ergebnisse sozusagen nachträglich korrigieren. Soziale Sicherungssysteme tragen dazu bei, dass die sog. sekundäre Einkommensverteilung egalitärer ist als die
primäre, wenn sie an ärmere Haushalte und Individuen Leistungen auszahlen, die deren
Beiträge übersteigen, und entsprechend umgekehrt wohlhabende Haushalte netto belasten.
Bis zu einem gewissen Grad wird Umverteilung zu Gunsten der Ärmeren auch von
den Wohlhabenden akzeptiert. Zum einen aus altruistischen Motiven: Den meisten
Menschen dürfte das Wohlergehen der anderen nicht völlig gleichgültig sein. Man
könnte auch sagen, dass der Nutzen der Mitglieder einer Gesellschaft interdependent ist,
d. h. dass der Nutzen des einen ein (wenn auch verhältnismäßig schwaches) Argument
in der Nutzenfunktion des anderen ist – und umgekehrt.77 Zum anderen wird Umverteilung (wie z. B. im Rahmen der Sozialhilfe) auch deswegen akzeptiert, weil niemand mit
letzter Sicherheit ausschließen kann, dass er selber im nächsten Jahr materiell verarmt.
Auch durch geeignete Maßnahmen der Risiko-Prävention und Risiko-Abfederung kann
sich niemand im vollen Umfang gegen alle nur erdenklichen Risiken absichern.78
Allerdings ist soziale Gerechtigkeit nicht gleichbedeutend mit einem möglichst hohen
Maß an Umverteilung. Soziale Gerechtigkeit besteht in einer Entscheidung zwischen zwei
Extrema bzw. einem Kompromiss zwischen ihnen: vollständiger Verteilungsgleichheit auf
der einen und bedingungsloser Leistungsgerechtigkeit auf der anderen Seite (d. h. der exakten Äquivalenz von Aufwand und Ertrag). Wie genau ein solcher Ausgleich auszusehen hat
und ob er mehr in die eine oder andere Richtung tendiert, hängt immer auch von den soziokulturellen Werten und Normen der jeweiligen Gesellschaft ab. Allgemeingültige, wissenschaftlich fundierte Wertmaßstäbe gibt es nicht.
75 Meritorische Güter (z. B. Ausgaben für Kultur) nehmen eine Mittelstellung zwischen öffentlichen
und privaten Gütern ein, da sie zurechenbar sind und ihren Eigentümern einen privaten Nutzen
erbringen, gleichzeitig aber auch positive externe Effekte für die Allgemeinheit haben. Es gilt, diese positiven externen Effekte durch entsprechende Anreize für die Eigentümer der Güter zu internalisieren.
76 Vgl. Holzmann / Jørgensen (2000, 20 f.); Shepherd / Marcus / Barrientos (2004, 21).
77 Vgl. Atkinson (1987, 793 f. und 800 f.); Norton / Conway / Foster (2001, 25).
78 Vgl. FES (1996, 20); Fritz-Aßmus (1993, 87); Norton / Conway / Foster (2001, 25); Plaschke
(1979, 33 ff.).
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Darüber hinaus ist ein Kompromiss zwischen Umverteilung und Leistungsgerechtigkeit schon alleine deswegen von Bedeutung, weil zwischen dem Allokations- und dem
Verteilungsziel von Systemen der sozialen Sicherung ein Spannungsverhältnis bestehen
kann. Je stärker sie umverteilen und damit vom Äquivalenzprinzip abweichen, umso
eher ist mit Wohlfahrtsverlusten zu rechnen, die auf Anpassungsreaktionen der Wirtschaftssubjekte auf den Güter- und Faktormärkten zurückgehen. Umgekehrt kann eine
Sozialpolitik, die ausschließlich von Effizienzkriterien geleitet wird, soziale Ungleichheiten u. U. sogar noch verschärfen.79
Umverteilung zugunsten ärmerer Haushalte kann nur durch Steuern oder Beiträge finanziert werden, die die Wohlhabenden netto belasten. Bemisst sich die Höhe dieser
Steuern oder Beiträge bspw. nach dem Erwerbseinkommen, so mindern sie bei besser
verdienenden Arbeitnehmern den Anreiz, auf Freizeit zu verzichten, um ein bestimmtes
Erwerbseinkommen zu erzielen, und schaffen zusätzliche Anreize zur Steuerhinterziehung, zur Schwarzarbeit und zur Informalisierung von Erwerbsverhältnissen. Werden
die Steuern oder Beiträge vom Kapitaleinkommen abgezogen, so senken sie die Nettoverzinsung von Finanz- und Sachkapital, erhöhen den relativen Preis von zukünftigem
Konsum (im Verhältnis zum Preis von Konsum in der Gegenwart) und führen dazu,
dass die Wirtschaftssubjekte weniger sparen und investieren oder aber ihr Kapital ins
Ausland bringen. Werden sie schließlich auf den Konsum von Luxusgütern erhoben, so
verteuern sie diese im Verhältnis zu anderen Gütern. Somit beeinflusst Umverteilung
immer irgendwelche relativen Preise und führt dadurch zu Substitutionseffekten und
letztlich zu Wohlfahrtsverlusten.
Zu Anpassungsreaktionen kommt es aber auch bei den Begünstigten der Umverteilung: Sozialhilfen z. B. reduzieren den Anreiz zur Aufnahme von Erwerbstätigkeiten,
prozentuale Lohnzuschüsse stärken ihn. Eine Subventionierung von Guthabenzinsen
beeinflusst das Spar- und Investitionsverhalten, während eine Subventionierung von
Sollzinsen die Nachfrage nach Krediten erhöht. Lebensmittelsubventionen schließlich
beeinflussen die relativen Preise von Konsumgütern und somit die Konsumgewohnheiten der Nettoempfänger. Abbildung 7 stellt dies graphisch am Beispiel einer Besteuerung und Subventionierung von Erwerbseinkommen im oberen bzw. unteren Einkommensbereich dar.80
Stabilität von Politik und Gesellschaft
Das dritte übergeordnete Ziel von Systemen der sozialen Sicherung ist, die Kohäsion
der Gesellschaft zu stärken und die politische Ordnung zu stabilisieren. Indem sie Haushalte und Individuen gegen Risiken absichern, Einkommen verstetigen, einkommensschwache Gruppen unterstützen und zur Aufnahme ökonomischer Aktivitäten ermutigen, fördern sie Wohlergehen und Wachstum. Dadurch sinkt die Hemmschwelle für
eine gewaltsame Austragung von Verteilungskonflikten, und die Bereitschaft der Gesellschaftsmitglieder zu kooperativem und solidarischem Verhalten steigt. Gleichzeitig
tragen sie zu einer organischeren Gesellschaft bei, indem sie allzu krasse Verteilungsgefälle abbauen und soziale Gerechtigkeit durchsetzen.81
79 Vgl. Lampert (1994, 132); Norton / Conway / Foster (2001, 24); Sangmeister (2000).
80 Vgl. World Bank (1994, 134); Naqib (1985).
81 Vgl. Holzmann (2001, 5 f.).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nur die Hälfte aller Menschen weltweit ist gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Ernteausfall abgesichert. Dies gilt v.a. für Beschäftigte im informellen Sektor. Lange wurde übersehen, dass hierin nicht nur ein soziales sondern auch ein ökonomisches Problem besteht, da Menschen ohne soziale Sicherheit besonders vorsichtig handeln und zum Beispiel Investitionen in Bildung und Produktionskapital meiden. Sie scheuen die hiermit verbundenen zusätzlichen Risiken und haben Angst, dass ihnen das investierte Geld bei Zahlungsschwierigkeiten nicht kurzfristig zur Verfügung steht.
Das vorliegende Buch gibt Einblick in die Funktionsweise moderner und traditioneller Systeme der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern und zeigt auf, warum viele von ihnen für informell Beschäftigte ungeeignet sind. Es diskutiert, welche Strategien sich eignen, um die soziale Sicherheit im informellen Sektor zu verbessern und geht insbesondere auf das Potenzial von Kleinstversicherungen ein. Diese zeichnen sich durch niedrige Beitragssätze, flexible Zahlungsmodalitäten und begrenzte Leistungen aus und sind somit ganz an die Möglichkeiten und Bedarfe von Beziehern niedriger Einkommen angepasst, ohne auf Subventionen angewiesen zu sein.