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Abbildung 2: Nutzen einer sicheren und Erwartungsnutzen einer riskanten Handlungsoption
Unterstellt man eine solche Nutzenfunktion, so liegt der Erwartungswert des Nutzens
von mehreren möglichen Ergebnissen stets unter dem Nutzen des Erwartungswertes der
Ergebnisse selbst. Abbildung 2 veranschaulicht dies am Beispiel der Alternative von
einer Handlungsoption mit sicherem Ergebnis und einer risikobehafteten Option, bei der
sich zwei Ergebnisse jeweils mit einer Wahrscheinlichkeiten von 50 % einstellen können. Auf der Abszisse sind die verfügbaren Einkommen y1 und y2 nach Eintritt des Risikos bei schlechtem und bei gutem Ausgang abgetragen, auf der Ordinate hingegen die
Nutzen u(y1) bzw. u(y2), den die Einkommen y1 und y2 jeweils stiften. Ebenso wird dem
Erwartungswert Ey der beiden möglichen Ergebnisse ein Nutzenwert u(Ey) zugeordnet.
Er liegt deutlich über dem Nutzenerwartungswert Eu(y) der beiden Ergebnisse. Dieser
Nutzenerwartungswert Eu(y) ist hingegen gerade so hoch wie der Nutzen u(y‘), den das
Ergebnis y‘ der sicheren Alternative stiften würde, obwohl y’ deutlich niedriger liegt als
der Erwartungswert Ey der beiden möglichen Ergebnisse der risikobehafteten Alternative.
2.3 Management von Risiken
Haushalte und Individuen können in unterschiedlicher Weise mit Risiken umgehen. Die
Maßnahmen, die sie dabei ergreifen, werden Instrumente der Risiko-Politik bzw. des
Risiko-Managements genannt. Sie lassen sich drei grundlegenden strategischen Ansätzen zuordnen:
— der Risiko-Prävention bzw. Risiko-Meidung (risk prevention),
— der Risiko-Abfederung (risk mitigation) und
— der Risiko-Bewältigung (risk coping).24
24 Vgl. Bohle (2001, 120); Holzmann / Jørgensen (2000, 17); Zweifel / Eisen (2000, 47–49).
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Maßnahmen der ersten beiden strategischen Ansätze werden ex ante, also vor dem
möglichen Eintritt eines Risikos ergriffen. Der Unterschied besteht darin, dass die Risiko-Prävention ätiologisch wirkt (auf die Ursachen von Risiken abzielt), während die
Risiko-Abfederung palliativ (schadensbezogen) ist. Maßnahmen der Risiko-Prävention
sollen die Wahrscheinlichkeit des Risikoeintritts verringern, Maßnahmen der Risiko-
Abfederung hingegen das mögliche relative Ausmaß des Schadens.
Demgegenüber zählen zur Risiko-Bewältigung alle Maßnahmen, die erst ex post ergriffen werden, i. e. wenn das Risiko bereits eingetreten ist. Sie dienen dazu, das Ausmaß der unmittelbaren Auswirkungen eines negativen Ereignisses nachträglich zu begrenzen und sekundäre Schäden zu vermeiden bzw. für einen begrenzten Ausgleich für
die Schäden zu sorgen. Übersicht 4 in Abschnitt 3.4.3 bietet einen Überblick, welche
Systeme der sozialen Sicherung diesen drei strategischen Ansätzen jeweils zuzuordnen
sind.
Im Folgenden werden die drei grundlegenden Ansätze genauer vorgestellt. Dabei
wird auch die Frage diskutiert, unter welchen Umständen jeder dieser Ansätze den jeweils anderen überlegen ist. Es wird sich herausstellen, dass es sich in hohem Maße um
Substitute handelt, deren Vorteilhaftigkeit v. a. von den Kosten der einzelnen Instrumente abhängt.
Risiko-Prävention
Der Risiko-Prävention dienen
— Vorsichtsmaßnahmen (i. e. die Einhaltung von Hygiene, die Vermeidung einer
Ansteckung, die Verwendung ungefährlicher Werkstoffe und Materialien, die
Einhaltung von Sicherheitsmaßnahmen am Arbeitsplatz),
— der Verzicht auf risikobehaftete Handlungen wie z. B. gefährliche Erwerbstätigkeiten (Perlenfischerei, Bergbau, Herstellung schädlicher Chemikalien) oder Extremsportarten,
— Schutzmaßnahmen (z. B. Impfungen, Diebstahlsicherungen, der Bau von Deichen, Staudämmen, Sturmschutzvorrichtungen).25
Maßnahmen der Risiko-Prävention sind in vielen Fällen der Risiko-Abfederung und
der Risiko-Bewältigung überlegen, da sie verhindern, dass das Risiko überhaupt erst
eintritt. Dies muss aber nicht so sein. Beim Vergleich verschiedener Instrumente des
Risiko-Managements kommt es nicht nur auf ihre Wirksamkeit (ihre Effektivität), sondern auf ihre Effizienz (also das Verhältnis von Kosten und Nutzen) an.26 Eine präventive Maßnahme empfiehlt sich somit nur dann, wenn der Nutzenverlust, der auf die mit
ihrem Einsatz verbundenen Kosten zurückgeht, kleiner ist als der Erwartungsnutzengewinn, den sie durch die Verminderung der Risikoeintrittswahrscheinlichkeit erzielen.
Viele Haushalte und Individuen vernachlässigen die Risiko-Prävention. Sie ergreifen
vorbeugende Maßnahmen oftmals auch dann nicht, wenn diese nur geringe Kosten verursachen und zugleich große Wirkungen entfalten würden. Dies kann unterschiedliche
Ursachen27 haben:
25 Vgl. Coudouel et al. (2002, 170); Zweifel / Eisen (2000, 47 f.).
26 Vgl. Zweifel / Eisen (2000, 50–52).
27 Vgl. Blinder (1982, 65 f.); Lampert (1994, 138); Molitor (1987, 3–8); Queisser (1993b, 224).
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— Mangelhafte Information/Ignoranz: Die Betroffenen sind sich der Existenz bzw.
Gefahr von Risiken oder aber der möglichen präventiven Maßnahmen nicht bewusst.
— Myopie (Kurzsichtigkeit): Die Betroffenen kennen das Risiko und die möglichen
Präventionsmaßnahmen, beziehen dieses Wissen aber nicht in ihre Entscheidungen mit ein. Bei ihren Abwägungen berücksichtigen sie nur ihren gegenwärtigen
Nutzen, ignorieren aber die Zukunft und zukünftige Konsequenzen ihres gegenwärtigen Handelns.
— Hohe Zeitpräferenz (defective telescopic faculty): Die Betroffenen beziehen ihren Erwartungsnutzen in zukünftigen Perioden zwar in ihre Entscheidungsplanung ein, haben aber eine extrem hohe Präferenz für heutigen an Stelle von
morgigem Konsum, so dass für sie selbst sehr geringe Ausgaben in der Gegenwart schwerer wiegen als hohe Gewinne bzw. Einsparungen in der Zukunft.
— Geringes Einkommen: Die Betroffenen erzielen ein so niedriges Einkommen,
dass sie nur gerade eben oder noch nicht einmal ihre grundlegendsten Bedürfnisse befriedigen können. Sie können sich daher selbst die geringsten Zusatzausgaben nicht leisten, ohne ihr Überleben in der Gegenwart zu gefährden.
— Trittbrettfahrer-Verhalten: Die Betroffenen verlassen sich darauf, dass sie im
Falle des Risikoeintritts von Freunden, Nachbarn oder Verwandten unterstützt
werden oder aber Sozialhilfe vom Staat zugesprochen bekommen.
— Öffentliches Gut: Die präventive Maßnahme stellt ein öffentliches Gut dar, d. h.
sie kommt einer ganzen Gruppe von Haushalten zugute (wie z. B. der Bau eines
Dammes). Sie wird daher nur dann ergriffen, wenn sich die profitierenden Haushalte über die Aufteilung der Kosten einig werden. Nur wenige Haushalte dürften bereit sein, die erwartungsgemäß hohen Ausgaben auf sich zu nehmen, wenn
hiervon viele andere ebenfalls profitieren. Jeder wird darauf hoffen, dass ein anderer Haushalt den ersten Schritt tut.
Risiko-Abfederung
In den Bereich der Risiko-Abfederung fallen alle Maßnahmen der Risiko-
Diversifikation (risk diversification), der Risiko-Vorsorge (risk provision) und der Risiko-Überwälzung bzw. der Risiko-Teilung (risk pooling).28
Maßnahmen der Risiko-Diversifikation begrenzen die möglichen Auswirkungen eines Risikos, indem sie eine Vielzahl von kleinen Risiken an die Stelle eines großen Risikos setzen. Hierbei werden die verfügbaren Aktiva innerhalb des Vermögensportfolios so umgeschichtet, dass eine möglichst große Anzahl von untereinander unabhängigen Einkommensquellen entsteht. Wird nun eine Einkommensquelle bzw. ein
Einkommen vom Eintritt eines Risikos betroffen, so führt dies zwar zum Rückgang oder
gar Wegfall des Einkommens. Der Einfluss auf das Gesamteinkommen bleibt aber gering, da es neben dem betroffenen Einkommen noch mehrere andere Einkommen gibt.
28 Vgl. World Bank (2000a, 141–145).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nur die Hälfte aller Menschen weltweit ist gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Ernteausfall abgesichert. Dies gilt v.a. für Beschäftigte im informellen Sektor. Lange wurde übersehen, dass hierin nicht nur ein soziales sondern auch ein ökonomisches Problem besteht, da Menschen ohne soziale Sicherheit besonders vorsichtig handeln und zum Beispiel Investitionen in Bildung und Produktionskapital meiden. Sie scheuen die hiermit verbundenen zusätzlichen Risiken und haben Angst, dass ihnen das investierte Geld bei Zahlungsschwierigkeiten nicht kurzfristig zur Verfügung steht.
Das vorliegende Buch gibt Einblick in die Funktionsweise moderner und traditioneller Systeme der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern und zeigt auf, warum viele von ihnen für informell Beschäftigte ungeeignet sind. Es diskutiert, welche Strategien sich eignen, um die soziale Sicherheit im informellen Sektor zu verbessern und geht insbesondere auf das Potenzial von Kleinstversicherungen ein. Diese zeichnen sich durch niedrige Beitragssätze, flexible Zahlungsmodalitäten und begrenzte Leistungen aus und sind somit ganz an die Möglichkeiten und Bedarfe von Beziehern niedriger Einkommen angepasst, ohne auf Subventionen angewiesen zu sein.