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Bemerkenswert ist, dass die Varianz (und damit auch der Erwartungswert) des Schadens
tendenziell umso höher liegt, je unsicherer auch der Eintritt (bzw. der Eintrittszeitpunkt)
eines Risikos ist. Brown und Churchill (1999, 6) haben den Versuch unternommen,
Gruppen von Risiken in einem Diagramm zu verorten, an dessen Achsen der Grad der
Unsicherheit über den Eintritt und der Erwartungsschaden von Risiken abgetragen sind
(vgl. Abbildung 1). Bei der Betrachtung der Graphik fällt auf, dass sich die meisten Risiken in eine Diagonalen einordnen, die von sehr wahrscheinlichen (i. e. häufigen) Ereignissen mit begrenzten Folgen zu sehr unwahrscheinlichen (i. e. eher seltenen) Ereignissen mit schweren Folgen verläuft.20
2.2 Bedeutung von Risiken
Die Bedeutung eines Risikos für eine beliebige Person hängt von eben diesen beiden
Größen ab: der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts und dem Ausmaß des Folgeschadens.
Beide Größen sind nicht determiniert, sondern stochastische Verteilungen über die Zeit
bzw. über mögliche Schadensausprägungen. Jedoch wächst die Bedeutung eines Risikos
für die meisten Personen nicht linear mit diesen beiden Größen, sondern überproportional, weil die Mehrheit der Menschen risikoavers sind.
In vielen Fällen lassen sich die Schäden, die beim Eintritt von Risiken entstehen,
nicht oder nur schwer messen und somit erst recht nicht vergleichen. Dies liegt v. a.
daran, dass es sich oft um immaterielle Schäden handelt, die man nicht monetär bewerten kann: Vergleichsweise leicht lässt sich der Gegenwert eines Totalschadens bei Au-
20 Vgl. hierzu auch World Bank (2000a, 138–140); Zweifel / Eisen (2000, 39–40).
Abbildung 1: Grad der Unsicherheit und relativer Schaden von Risiken
Quelle: Entwurf nach Brown / Churchill (1999, 6)
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tos oder eines dürrebedingten Ernteausfalls berechnen. Schon schwieriger erscheint die
Bewertung von gesundheitlichen Schäden und wie hoch soll man erst den Preis eines
Menschenlebens ansetzen? Selbst wenn sich immaterielle Schäden in Geldeinheiten ausdrücken ließen, würde man hierfür einen objektiven Maßstab brauchen. Jedoch werden
zahlreiche Schäden von verschiedenen Personen höchst unterschiedlich eingeschätzt.
Hierbei ist insbesondere an den Verlust von Erb- oder Sammlerstücken zu denken.21
Erst recht kann der durch den Eintritt eines Risikos verursachte Schaden nicht ex ante, sondern nur ex post bestimmt werden. Ex ante lassen sich nur Wahrscheinlichkeiten
berechnen, zumal Unsicherheit über das Schadensausmaß (und/oder den Eintrittszeitpunkt) konstituierend für Risiken ist. Jeder möglichen Schadensausprägung xi wird dabei eine Wahrscheinlichkeit )p(xi zwischen 0 und 1 zugeordnet, wobei 1 für ein sicheres
Ergebnis und 0 für ein unmögliches Ergebnis stehen. Für viele Zwecke reicht es allerdings aus, den Erwartungswert und die Varianz eines Risikos zu kennen.
Ähnliches gilt für den Eintrittszeitpunkt von Risiken. Auch hierüber besteht Unsicherheit: Das Risiko kann jederzeit eintreten, wobei sich die Wahrscheinlichkeit des
Eintritts im Zeitverlauf verändern kann. So nimmt bspw. das Risiko von Herzkrankheiten im Alter zu. Demnach muss jedem Zeitpunkt ti eine spezifische Eintrittswahrscheinlichkeit p(ti) zugeordnet werden.
Allerdings kann man weder aus dem Erwartungswert und der Varianz des möglichen
Schadens, noch aus dem erwarteten Eintrittszeitpunkt des Risikos direkt auf dessen Bedeutung für eine bestimmte Person schließen. Zum einen wirkt sich ein bestimmter absoluter Schaden auf unterschiedliche Personen auch ungleich aus, je nachdem, über
welches Einkommen bzw. Vermögen sie verfügen. Bspw. kann ein Reicher Kosten in
einer bestimmten Höhe für eine medizinische Behandlung viel leichter verkraften als
eine Person mit niedrigem Einkommen.
Zum anderen wird dieselbe Unsicherheit oftmals selbst von Personen mit identischem Einkommen und Vermögen sehr unterschiedlich empfunden. Dies hat damit zu
tun, dass sie mehr oder weniger risikoavers sind. Tendenziell sind alle Menschen risikoavers, d. h. sie bevorzugen bei der Alternative zwischen einem sicheren Ergebnis und
einem unsicheren Ergebnis mit identischem Erwartungswert stets die Sicherheit. Übersteigt hingegen der Erwartungswert bei der Alternative mit unsicherem Ausgang das
Ergebnis der sicheren Alternative, so kann es geschehen, dass eine Person eher bereit
ist, das Risiko in Kauf zu nehmen als eine andere Person. Man sagt, dass die erste Person risikofreudiger, die zweite hingegen risikoaverser handelt. Risikoaversion bedeutet
demnach, „dass beim Vergleich von Handlungsalternativen mit ungewissem (stochastischem) Ausgang die Streuung bei gegebenem Mittelwert negativ bewertet wird, eine
größere Streuung folglich nur bei einem höheren Mittelwert akzeptiert wird.“22
Das Phänomen der Risikoaversion lässt sich damit erklären, dass für die meisten
Menschen der Nutzen einer marginalen Einkommenssteigerung bei einem kleinen Einkommen sehr hoch ist, während er mit wachsendem Einkommen immer kleiner wird.
Dies liegt daran, dass jeder zunächst seine grundlegenden Bedürfnisse befriedigen will,
erst später kommen auch die von der jeweiligen Kultur mit bestimmten höheren Bedürfnisse und schließlich Luxusbedürfnisse an die Reihe. Graphisch lässt sich dieser
Zusammenhang mit einer konkaven Nutzenfunktion23 darstellen, i. e. für 0)( @yu ,
0)(' @yu und 0)('' >yu .
21 Vgl. Zweifel / Eisen (2000, 36–39).
22 Zweifel / Eisen (2000, 42).
23 Vgl. Strassl (1987, 18).
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Abbildung 2: Nutzen einer sicheren und Erwartungsnutzen einer riskanten Handlungsoption
Unterstellt man eine solche Nutzenfunktion, so liegt der Erwartungswert des Nutzens
von mehreren möglichen Ergebnissen stets unter dem Nutzen des Erwartungswertes der
Ergebnisse selbst. Abbildung 2 veranschaulicht dies am Beispiel der Alternative von
einer Handlungsoption mit sicherem Ergebnis und einer risikobehafteten Option, bei der
sich zwei Ergebnisse jeweils mit einer Wahrscheinlichkeiten von 50 % einstellen können. Auf der Abszisse sind die verfügbaren Einkommen y1 und y2 nach Eintritt des Risikos bei schlechtem und bei gutem Ausgang abgetragen, auf der Ordinate hingegen die
Nutzen u(y1) bzw. u(y2), den die Einkommen y1 und y2 jeweils stiften. Ebenso wird dem
Erwartungswert Ey der beiden möglichen Ergebnisse ein Nutzenwert u(Ey) zugeordnet.
Er liegt deutlich über dem Nutzenerwartungswert Eu(y) der beiden Ergebnisse. Dieser
Nutzenerwartungswert Eu(y) ist hingegen gerade so hoch wie der Nutzen u(y‘), den das
Ergebnis y‘ der sicheren Alternative stiften würde, obwohl y’ deutlich niedriger liegt als
der Erwartungswert Ey der beiden möglichen Ergebnisse der risikobehafteten Alternative.
2.3 Management von Risiken
Haushalte und Individuen können in unterschiedlicher Weise mit Risiken umgehen. Die
Maßnahmen, die sie dabei ergreifen, werden Instrumente der Risiko-Politik bzw. des
Risiko-Managements genannt. Sie lassen sich drei grundlegenden strategischen Ansätzen zuordnen:
— der Risiko-Prävention bzw. Risiko-Meidung (risk prevention),
— der Risiko-Abfederung (risk mitigation) und
— der Risiko-Bewältigung (risk coping).24
24 Vgl. Bohle (2001, 120); Holzmann / Jørgensen (2000, 17); Zweifel / Eisen (2000, 47–49).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Nur die Hälfte aller Menschen weltweit ist gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Ernteausfall abgesichert. Dies gilt v.a. für Beschäftigte im informellen Sektor. Lange wurde übersehen, dass hierin nicht nur ein soziales sondern auch ein ökonomisches Problem besteht, da Menschen ohne soziale Sicherheit besonders vorsichtig handeln und zum Beispiel Investitionen in Bildung und Produktionskapital meiden. Sie scheuen die hiermit verbundenen zusätzlichen Risiken und haben Angst, dass ihnen das investierte Geld bei Zahlungsschwierigkeiten nicht kurzfristig zur Verfügung steht.
Das vorliegende Buch gibt Einblick in die Funktionsweise moderner und traditioneller Systeme der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern und zeigt auf, warum viele von ihnen für informell Beschäftigte ungeeignet sind. Es diskutiert, welche Strategien sich eignen, um die soziale Sicherheit im informellen Sektor zu verbessern und geht insbesondere auf das Potenzial von Kleinstversicherungen ein. Diese zeichnen sich durch niedrige Beitragssätze, flexible Zahlungsmodalitäten und begrenzte Leistungen aus und sind somit ganz an die Möglichkeiten und Bedarfe von Beziehern niedriger Einkommen angepasst, ohne auf Subventionen angewiesen zu sein.