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3. Börsengang und Testamentsvollstreckung
a) Verstoß gegen das Verbot unentgeltlicher Verfügungen gemäß
§ 2205 S. 3 BGB
Besteht vor dem Hintergrund der oben dargelegten Grundsätze oder für den Fall,
dass der Vorstand die Entscheidung der Hauptversammlung auf Basis des § 119
Abs. 2 AktG verlangt, das Erfordernis eines Hauptversammlungsbeschlusses bezüglich der Durchführung eines IPO, ist zunächst festzuhalten, dass hieraus nicht
zugleich das Erfordernis der Zustimmung des Gesellschaftererben zur Mitwirkung
des Testamentsvollstreckers an der Beschlussfassung resultiert. Ungeschriebene
Hauptversammlungszuständigkeiten dienen dem Individualschutz der Aktionäre vor
Eingriffen in ihre Mitgliedschaftsrechte und die darin verkörperten Vermögensinteressen bei übermäßiger Inanspruchnahme der grundsätzlich gegebenen Vorstandsbefugnisse,526 nicht aber dem Schutz des Erben vor Handlungen des Testamentsvollstreckers.
Stimmt der Testamentsvollstrecker einem IPO zu, ist dies keine unentgeltliche
Verfügung im Sinne des § 2205 S. 3 BGB. Es fehlt bereits am Merkmal der Verfügung. Sämtliche der dem Unternehmensanteil innewohnenden Verwaltungs- und
Vermögensrechte des Erbenaktionärs bleiben durch das IPO unangetastet.527 Die
Börsennotierung ist kein rechtliches Wesensmerkmal der AG. Ebenso wie die Mitgliedschaftsrechte eines jeden Gesellschafters beim IPO unverändert fortbestehen,
bleibt der gesellschaftsrechtliche Rahmen unverändert.528 Darüber hinaus wird weder der aktuelle bzw. zukünftige Wert der Gesellschaft als solcher, noch der Wert
des Gesellschaftsanteils des einzelnen Aktionärs durch den Börsengang beeinträchtigt bzw. geschmälert.529
b) Übertragbarkeit der Grundsätze betreffend einen Umwandlungsvorgang
Auch lässt sich ein Zustimmungserfordernis des Gesellschaftererben betreffend die
Mitwirkung des Testamentsvollstreckers an einem IPO nicht aus den Grundsätzen,
die für eine formwechselnde Umwandlung gelten, herleiten. Nach Lutter ist der
Börsengang in seinen Auswirkungen wenn auch nicht de jure, so doch de facto mit
der Umwandlung einer GmbH in eine AG verwandt.530 Dem ist mit Wirth/Arnold
entgegen zu halten, dass ein reguläres Delisting – und damit als actus contrarius
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526 Hüffer AktG, 8. Aufl., § 119 Rn 18
527 Martinius/Schiffer, DB 1999, 2458, 2461
528 LG München I ZIP 1999, 2017, 2019
529 LG München I ZIP 1999, 2017, 2019
530 Lutter, FS Zöllner, S. 363, 378
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auch ein IPO – nicht mit einer formwechselnden Umwandlung gleichgesetzt werden
kann, weil es eine Maßnahme auf niedriger Eingriffsschwelle ist.531
Selbst wenn man einen Vergleich zwischen einem Umwandlungsvorgang und einem IPO ziehen wollte, bedürfte es der Zustimmung des Gesellschaftererben für ein
IPO grundsätzlich nicht. Der Testamentsvollstrecker kann sich ohne Zustimmung
des Erben an einer Umwandlung einer GmbH in eine AG beteiligen, wenn dadurch
keine weitergehenden Verpflichtungen, als sie für den Erben vorher bestanden haben, begründet werden.532
c) Übertragbarkeit der Grundsätze betreffend einen Gründungsvorgang
Auch wenn man für die Beantwortung der Frage, ob der Testamentsvollstrecker für
die Mitwirkung am Börsengang der Gesellschaft der Zustimmung des Gesellschaftererben bedarf, die Grundsätze der Beteiligung des Testamentsvollstreckers an einer
Gesellschaftsgründung heranzieht, kommt man nicht zu einem Erfordernis der Zustimmung des Gesellschaftererben. Bei der Gesellschaftsgründung gilt zwar, dass
wegen der strengen persönlichen Haftung der Gründer gemäß § 46 AktG der Testamentsvollstrecker nicht berechtigt ist, sich ohne Zustimmung des Erben an der
Gründung einer Aktiengesellschaft zu beteiligen.533 Bei der Gesellschaftsgründung
entsteht das Mitgliedschaftsrecht mit sämtlichen ihm innewohnenden Rechten und
Pflichten jedoch neu. Mit dem Gang an die Börse geht aber keine inhaltliche Veränderung des Gesellschaftsanteils einher. Der Börsengang ist mit dem viel weiter gehenden Schritt einer Gründungsbeteiligung nicht vergleichbar.
Der Testamentsvollstrecker muss nur dann die Zustimmung des Erben zu einem
IPO einholen, wenn mit dem Beschluss der Hauptversammlung über den Gang an
die Börse eine Satzungsänderung einhergeht, infolge derer der Erbe als Aktionär
etwa durch Begründung neuer Nebenpflichten persönlich verpflichtet würde.
d) Verstoß gegen die Grundsätze ordnungsgemäßer Verwaltung
(§§ 2216 Abs. 1, 2206 Abs. 1 BGB)
In der Mitwirkung des Testamentsvollstreckers an einem ein IPO herbeiführenden
Hauptversammlungsbeschluss, der allein das „Ob“ des Börsengangs zum Gegen-
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531 Nach Wirth/Arnold, ZIP 2000, 111, 116 ist ein Delisting (und damit auch im Umkehrschluss
ein IPO) nicht mit einer Umwandlung gleichzusetzen sondern stellt eine Maßnahme auf
niedrigerer Eingriffsschwelle dar.
532 BayObLG, NJW 1976, 1692
533 Bengel/Reimann/Mayer, Testamentsvollstreckung, 3. Aufl., Kap. 5 Rn 244; Köln-
KommAktG/Kraft, § 2 Rn 29; Staudinger/Reimann, BGB, § 205 Rn 143; a.A. s.o. E. I.
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stand hat, liegt kein Verstoß gegen die Grundsätze ordnungsgemäßer Verwaltung.
Dennoch hat der Verwaltungsvollstrecker im Einzelfall die Grundsätze ordnungsgemäßen Verwalterhandelns zu beachten.
Mit dem Gang an die Börse geht lediglich einher, dass der Börsengang zur Anwendbarkeit des Kapitalmarktrechts führt. Dies dient jedoch gerade dem Schutz der
Gesellschafter und damit auch des Gesellschaftererben. Geht es um die Verwaltung
von Gesellschaftsanteilen einer Familiengesellschaft, muss der Testamentsvollstrecker im Rahmen seiner Ermessensausübung beachten, dass mit dem Gang an die
Börse die Unternehmensunabhängigkeit durch Streuung gewahrt werden kann. Mit
einer soliden Eigenkapitalbasis und einer breiten Streuung der Aktien beim Anlegerpublikum verringert sich das Risiko, angesichts der auf vielen Märkten anzutreffenden Konzentrationstendenzen die Unabhängigkeit des Unternehmens zugunsten
eines Finanzinvestors zu verlieren, woraus oft der Verlust des Familieneinflusses auf
das Unternehmen resultiert.534 Ein nicht zu unterschätzender Vorteil einer Börsennotierung ist die Möglichkeit der günstigen Eigenkapitalaufnahme über die Börse.535
Ob das dem Unternehmenszweck dient und somit sowohl für die Gesellschaft als
auch deren Aktionäre gut ist, kann und muss der Testamentsvollstrecker im Rahmen
ordnungsgemäßer Verwaltung entscheiden. Insofern hat er einen breiten Ermessensspielraum. Letztlich wird den Aktionären durch das IPO ein Markt eröffnet, auf dem
die Aktien mit vergleichsweise wenig Aufwand veräußerbar sind. Dient es allein den
Grundsätzen ordnungsgemäßer Verwaltung, die Aktien zu veräußern und erscheint
ein solches Vorgehen dem Testamentsvollstrecker nach Abwägung der im Einzelfall
bestehenden Vor- und Nachteile eines IPO allein über den neu hinzugewonnenen
Kapitalmarkt entsprechend gewinnbringend, muss der Testamentsvollstrecker dem
Börsengang zustimmen.
4. Delisting und Testamentsvollstreckung
Ebenso wie der Testamentsvollstrecker einer Zustimmung des Erben zur Mitwirkung an einem IPO nicht bedarf, ist eine Zustimmung des Erben zur Mitwirkung an
einem Delisting entbehrlich.
Der Testamentsvollstrecker verstößt grundsätzlich nicht gegen § 2205 S. 3 BGB,
wenn er die Einholung der Zustimmung des Erben betreffend seine das Delisting
befürwortende Stimmabgabe in der Hauptversammlung unterlässt, da das Merkmal
der „Verfügung“ nicht vorliegt. Die mitgliedschaftlichen Vermögensrechte richten
sich gegen die Gesellschaft und umfassen die Ansprüche auf Beteiligung am Gewinn und am Liquidationserlös.536 Ein Eingriff hierin erfolgt durch ein Delisting
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534 Blättchen, DStR 1997, 1547
535 Streit, ZIP 2003, 392
536 Wirth/Arnold, ZIP 2000, 111, 115
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Werk untersucht die Zulässigkeit der Testamentsvollstreckung an Aktien sowie die Machtbefugnisse des Testamentsvollstreckers für den praktisch bedeutsamen Fall, dass seiner Verwaltung Aktien unterstellt sind. Besondere Bedeutung kommt dabei der Frage zu, inwieweit der Testamentsvollstrecker ohne Zustimmung des Erben tätig werden und beispielsweise an der Gründung einer AG, an deren Umwandlung in eine GmbH oder an einem Börsengang einer nicht konzernierten AG mitwirken kann. Abschließend widmet sich die Autorin der Frage, inwieweit die Ämter „Testamentsvollstrecker“ und „Vorstandsmitglied einer AG“, deren Aktien der Verwaltung durch den Testamentsvollstrecker unterstellt sind, miteinander vereinbar sind.