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2. Bindung des Testamentsvollstreckers an die gesellschafterliche
Treuepflicht
Wie dargelegt, kommt der Treuepflicht im Zusammenhang mit der Stimmrechtsaus-
übung eines Kapitalgesellschafters im Wesentlichen eine Schrankenfunktion zu.
Allerdings wächst die Pflichtenstellung des Gesellschafters mit zunehmender Einflussnahme auf die Gesellschaft aufgrund von Mehrheitsmacht und damit auch die
aus der Treuepflicht resultierende Zweckförderungspflicht. Da die Treuepflicht der
Aktionäre ihren Ursprung unmittelbar im Gesellschaftsrecht hat und damit unmittelbar aus der Mitgliedschaft in einem Verband resultiert,358 stellt sich bei angeordneter
Testamentsvollstreckung an Aktien die Frage, ob auch der Testamentsvollstrecker
einer selbstständigen Bindung durch die Treuepflicht unterliegt und damit für die
Dauer der Testamentsvollstreckung anstelle des Gesellschaftererben unmittelbarer
Adressat der gesellschafterlichen Treuepflicht ist.
Daraus, dass die Treuepflicht unmittelbar aus der Mitgliedschaft resultiert, da sie
ihr als solche unmittelbar innewohnt, könnte man folgern, der Testamentsvollstrecker als Nichtgesellschafter sei nicht an die Treuepflicht gebunden, ähnlich wie er
ein höchstpersönliches Recht bzw. eine höchstpersönliche Pflicht des Gesellschaftererben nicht ausüben bzw. wahrnehmen kann. Adressat der Treuepflicht wäre
damit allein der Gesellschaftererbe.
Von Muscheler wird eine Bindung des Verwaltungsvollstreckers an die gesellschafterliche Treuepflicht generell abgelehnt. Alleiniger Adressat der Treuepflicht
sei der Erbe im Zusammenhang mit seiner Gesellschafterstellung. Infolge dessen sei
ein der Treuepflicht zuwider laufendes Verhalten des Testamentsvollstreckers dem
Erben über § 278 BGB zuzurechnen.359 Auch Buschmann sieht den Gesellschaftererben als einzigen und alleinigen unmittelbaren Adressaten der Treuepflicht an.360
Die Einhaltung der Treuepflicht sei mittelbar durch die Verantwortlichkeit des Testamentsvollstreckers gegenüber den Gesellschaftererben entsprechend dem Erblasserwillen gewährleistet. Im Ergebnis allerdings müsse sich der Testamentsvollstrecker an die gesellschafterliche Treuepflicht gebunden sehen, da ein entsprechender
Verstoß hiergegen zugleich ein Verstoß gegen seine Pflicht zur ordnungsgemäßen
Verwaltung sei und somit eine Haftung nach § 2219 BGB nach sich ziehe.
Der BGH hat entschieden, dass – soweit das Rechtsverhältnis der Gesellschafter
untereinander betroffen ist – Treuepflichten nur unter den Gesellschaftern bestehen.361 Ihre Verletzung könne daher auch nur für die Gesellschafter zu rechtlichen
Konsequenzen führen. Einen Stimmrechtsbevollmächtigten treffe daher keine eigen-
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358 Philippi, Testamentsvollstreckung, S. 114; Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., S. 588 ff.
359 Muscheler, Haftungsanordnung und Testamentsvollstreckung, S. 527 ff., welcher Probleme
der passiven Prozessführungsbefugnis durch eine von der h.M. abweichende Interpretation des
§ 2213 Abs. 1 BGB umgeht.
360 Buschmann, Testamentsvollstreckung im Gesellschaftsrecht, S. 131, 132
361 BGH NJW 1995, 1739
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ständige gesellschafterliche Treuepflicht. Allerdings dürfe er das Stimmrecht nur
unter denselben aus der Treuepflicht folgenden Einschränkungen ausüben wie der
die Vollmacht erteilende Aktionär.
Im Ergebnis lässt sich auch unter Zugrundelegung der Argumentation des BGH
zur Adressatenstellung eines Bevollmächtigten die Bindung des Testamentsvollstreckers an die gesellschafterliche Treuepflicht nicht verneinen. Den Testamentsvollstrecker nicht als Adressaten der aus den von ihm verwalteten Mitgliedschaftsrechten resultierenden Treuepflicht sowohl den Mitgesellschaftern als auch der Gesellschaft gegenüber anzusehen, wäre verfehlt. Mit einem „lediglich“ Stimmrechtsbevollmächtigten ist der Testamentsvollstrecker nicht vergleichbar. Vielmehr ist der
Testamentsvollstrecker für die Dauer der Ausübung seines Amtes und nicht nur für
„den Moment einer Bevollmächtigung“ unter Ausschluss der Mitwirkung des Erben
einzig und allein dem Erblasserwillen verpflichtet. Damit steht er in Aufgabe und
Funktion einem Gesellschafter sehr nahe. Beschränkte man sich darauf, das Handeln
des Testamentsvollstreckers dem Aktionärserben als alleinigen Adressaten der
Treuepflicht lediglich zuzurechnen, bliebe für Gesellschaft und Mitgesellschafter
zumindest der Umstand unbefriedigend, dass Rechtsausübung und Treuepflicht in
Bezug auf die vererbten Unternehmensanteile auseinanderfielen und ein Vorgehen
gegen den Testamentsvollstrecker wegen eines Verstoßes gegen die gesellschafterliche Treuepflicht nicht in Betracht käme.362 Den Beteiligten wären aufgrund angeordneter Testamentsvollstreckung Rechte genommen, die ihnen ohne Testamentsvollstreckung an den Anteilen zustünden.363 Die Notwendigkeit, den Testamentsvollstrecker in das durch die Treuepflicht konkretisierte Schrankensystem
einzubinden, ergibt sich daher bereits daraus, dass der Testamentsvollstrecker im
Rahmen der Verwaltungsvollstreckung grundsätzlich sämtliche Mitgliedschaftsrechte unter Ausschluss des Gesellschaftererben wahrnimmt und damit in unmittelbarer
Beziehung zur Gesellschaft und den Gesellschaftern steht. Verneinte man die Bindung des Testamentsvollstreckers an die gesellschafterliche Treuepflicht, läge diese
für die Dauer der Testamentsvollstreckung brach, da die Wahrnehmung der Mitgliedschaftsrechte für diese Zeit ausschließlich dem Testamentsvollstrecker obliegt,
der gerade nicht Gesellschafter ist. Die Testamentsvollstreckung an Aktien kann
jedoch nicht der Gesellschaft sowie den übrigen Mitgesellschaftern zum Nachteil
gereichen. Dies muss erst recht vor dem Hintergrund gelten, dass die übrigen Gesellschafter die Anordnung einer Testamentsvollstreckung grundsätzlich nicht verhindern können. Da der Testamentsvollstrecker für die Dauer der Verwaltung die
Mitgliedschaftsrechte für den Erben wahrnimmt und die entsprechenden Treuepflichten mit der Mitgliedschaft untrennbar verbunden sind, sind diese auch vom
Testamentsvollstrecker zu beachten.364
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362 Ulmer NJW 1990, 73, 81
363 Ulmer, NJW 1990, 73, 81
364 Dörrie, Testamentsvollstreckung, S. 105, der eine selbstständige Treuebindung des Testamentsvollstreckers ebenfalls damit begründet, dass der Testamentsvollstrecker hinsichtlich der
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Besonders deutlich wird dies vor dem Hintergrund der pflichtbegründenden Wirkung der Treuepflicht: tragender Rechtsgrund für die Treuepflicht ist letztlich die
Notwendigkeit einer Kontrolle der dem Mitaktionär eingeräumten unmittelbaren und
mittelbaren Einwirkungsbefugnisse und Einwirkungsmöglichkeiten.365 Die Treuepflicht dient nicht nur dem Schutz der Minderheit vor der Mehrheit, sondern auch
dem Schutz der Mehrheit vor der Minderheit.366 Die Treuepflicht ist, weil das Fördergebot als aktive Seite der Treuepflicht die positive Stimmpflicht begründen kann,
nicht nur als Stimmrechtsschranke anzusehen, sondern kann auch pflichtbegründend
sein.367 Die Treuepflicht gebietet einem Gesellschafter beispielsweise die Zustimmung zur Anpassung des Gesellschaftsvertrags an veränderte Verhältnisse, wenn
diese Änderung zur Erhaltung des Geschaffenen dringend geboten (objektives Element) und den Gesellschaftern unter Berücksichtigung ihrer eigenen schützenswerten Belangen zumutbar ist (subjektives Element).368 Zwar verpflichtet die Treuebindung keinen Gesellschafter zur Erhaltung des Unternehmens um jeden Preis. Jedoch
darf der Einzelne auch nicht eine sinnvolle, von der Mehrheit angestrebte Sanierung
eigennützig verhindern.369 Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass ein Ruhen
der gesellschafterlichen Treuepflichten während der Dauer der Verwaltungsvollstreckung mit unternehmerischen Grundsätzen nicht zu vereinbaren ist.
Im Ergebnis folgt für die Fälle der Testamentsvollstreckung am Gesellschaftsanteil die eigenständige Bindung des Testamentsvollstreckers an die gesellschafterliche Treuepflicht unmittelbar aus der Doppelzuständigkeit am Gesellschaftsanteil.370
Die Bindung des Testamentsvollstreckers an die gesellschafterliche Treuepflicht
ergibt sich aus der allgemeinen Verpflichtung, die Rechte des Erben zu wahren und
dem Willen des Erblassers zur Geltung zu verhelfen. Die Annahme einer eigenständigen Treuepflicht des Testamentsvollstreckers hat zur Folge, dass der Testamentsvollstrecker im Rahmen seines gesellschaftsrechtlichen Handelns im eigenen Pflichtenkreis tätig wird. Der Testamentsvollstrecker kann daher persönlich sowohl auf
Vornahme einer der Treuepflicht entsprechenden Stimmabgabe als auch auf Unterlassung treuwidrigen Handelns sowie bei schuldhafter Verletzung der Treuepflicht
auf Schadensersatz verklagt werden.371
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mitgliedschaftlichen Befugnisse kraft Amtes an die Stelle des Gesellschaftererben tritt und
damit für die Dauer seines Amtes die normalerweise dem Gesellschafter zustehenden Einwirkungsmöglichkeiten auf die Geschicke der Gesellschaft inne hat.
365 BGH NJW 1988, 1579; Lutter, ZHR 1989, 446, 455
366 BGH NJW 1995, 1739
367 Timm, WM 1991, 481, 483; Kort, ZIP 1990, 294, 297, der ebenfalls eine positive Stimmpflicht in Ausnahmefällen anerkennt.
368 BGHZ 98, 276; BGH NJW 1987, 952, 954; Timm, WM 1991, 481, 484
369 BGH NJW 1995, 1739; Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., S. 134; Timm, WM 1991, 481,
484 ff.
370 Lorz, Unternehmensrecht, S. 138; Ulmer, NJW 1990, 73, 81
371 Zutreffend Philippi, Testamentsvollstreckung, S. 121
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Werk untersucht die Zulässigkeit der Testamentsvollstreckung an Aktien sowie die Machtbefugnisse des Testamentsvollstreckers für den praktisch bedeutsamen Fall, dass seiner Verwaltung Aktien unterstellt sind. Besondere Bedeutung kommt dabei der Frage zu, inwieweit der Testamentsvollstrecker ohne Zustimmung des Erben tätig werden und beispielsweise an der Gründung einer AG, an deren Umwandlung in eine GmbH oder an einem Börsengang einer nicht konzernierten AG mitwirken kann. Abschließend widmet sich die Autorin der Frage, inwieweit die Ämter „Testamentsvollstrecker“ und „Vorstandsmitglied einer AG“, deren Aktien der Verwaltung durch den Testamentsvollstrecker unterstellt sind, miteinander vereinbar sind.