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D) Gesellschaftsrechtliche Schranken der Machtbefugnisse des
Testamentsvollstreckers
I. Kernbereichslehre
1. Allgemeine Grundsätze
Im Gesellschaftsrecht ist unabhängig von der Gesellschaftsform allgemein anerkannt, dass es Rechte gibt, die dem Gesellschafter nicht ohne seinen Willen entzogen werden dürfen (Kernbereichslehre).262 In der höchstrichterlichen Rechtsprechung fand die Kernbereichslehre erstmalig Beachtung in der Entscheidung des
BGH vom 14. Mai. 1965.263 Danach kann das Stimmrecht eines Kommanditisten
durch den Gesellschaftsvertrag nur insoweit ausgeschlossen werden, als es sich nicht
um Gesellschaftsbeschlüsse handelt, die in die Rechtsstellung des Kommanditisten
als solche eingreifen. In zwei weiteren Urteilen aus dem Jahr 1984,264 die jeweils
eine in eine schwere wirtschaftliche Krise geratene Publikumspersonengesellschaft
betrafen, stellte der BGH fest, dass „…vertragsändernde Mehrheitsentscheidungen
nicht zulässig sind, soweit sie in die Rechtsstellung der Gesellschafter – in ihre
rechtliche und vermögensmäßige Position in der Gesellschaft – eingreifen.“265 Den
Gesellschaftern stehe insoweit ein unverfügbarer Kernbereich von Rechten zu. Gesellschafterbeschlüsse, „…die in unentziehbare Rechte (in den Kernbereich der
gesellschaftsrechtlichen Position) eines Gesellschafters eingreifen“ sind grundsätzlich zustimmungsbedürftig.266
Schutzgut der Kernbereichslehre ist die (vertragliche) Selbstbestimmung des einzelnen Gesellschafters, die ihm in Form eines „Mindestschutzes wirtschaftlicher
Entscheidungsfreiheit“ gewährleistet bleiben soll.267 Welche Rechte vor diesem
Hintergrund zum Kernbereich zählen, ist trotz Versuchen zur Aufstellung verschiedener Kataloge268 noch nicht abschließend geklärt.269 Hinzu kommt, dass es von der
jeweiligen Gesellschaftsstruktur abhängt, welche Rechte dem Kernbereich zuzuord-
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262 Grigas, BWNotZ 2/02, 25, 31; Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, S. 360 ff.
263 BGHZ 20, 363, 369
264 BGH NJW 1985, 972; BGH NJW 1985, 974
265 BGH NJW 972, 973
266 BGH NJW 1985, 974
267 Westermann, Vertragsfreiheit und Typengesetzlichkeit, S. 431
268 Siehe hierzu Hennerkes/Binz, BB 1983, 713, 716; Löffler, NJW 1989, 2656 ff.; Lockowandt,
Stimmrechtsbeschränkungen, S. 168 ff.
269 Muscheler, Haftungsanordnung und Testamentsvollstreckung, S. 505
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nen sind und welche nicht.270 Allgemein finden sich Aussagen dahingehend, dem
Kernbereich der Mitgliedschaft seien grundsätzlich diejenigen Positionen zuzuordnen, die für den Gesellschaftsanteil bestimmend sind und ihm sein Gepräge geben.271 Von anderen wird der Kernbereich der Mitgliedschaftsrechte eines Personengesellschafters angesehen als „…die Summe unverzichtbarer Mitgliedschaftsrechte.“272 Der Kernbereich der Mitgliedschaft fasse diejenigen Kompetenzfelder
zusammen, „…für die dem Personengesellschafter ein uneingeschränktes Zustimmungsrecht zusteht.“273 Im Recht der GmbH zieht Priester als Maßstab zur Bestimmung der dem Kernbereich zugehörigen Mitgliedschaftsrechte das Kriterium des
Zustimmungserfordernisses betroffener Gesellschafter zu einem entsprechenden
Satzungsänderungsbeschluss heran, welches in Fällen wie der Einführung neuer
Leistungspflichten oder Abweichungen vom Gleichbehandlungsgrundsatz zu der
gesetzlich erforderlichen Stimmenmehrheit (§ 53 Abs. 2 S. 1 GmbHG) hinzukommen muss.274
Auch die Aktie verkörpert nicht nur eine Beteiligung am Vermögen der Gesellschaft, sondern zugleich ein Mitgliedschaftsrecht in der Gesellschaft, das einen
Kernbereich hat.275 Dies ergibt sich bereits aus dem in § 180 Abs. 1 AktG enthaltenen Rechtsgedanken, dass keinem Aktionär ohne seine Zustimmung zusätzliche
Belastungen auferlegt werden können.276 Darüber hinaus folgt für die AG wie auch
für die GmbH die Anerkennung eines der Mehrheitsmacht der Mitgesellschafter
unzugänglichen Kernbereichs der Mitgliedschaftsrechte aus der Notwendigkeit, die
Möglichkeit der Gesellschaftermehrheit, auf Rechtspositionen der Minderheitsgesellschafter einzuwirken, zu begrenzen.277
2. Kernbereichslehre und Testamentsvollstreckung
a) Diskussionsgrundlagen
Unterliegt die Aktie der Verwaltungsvollstreckung, unterliegt die Beteiligung der
umfassenden Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Testamentsvollstreckers.
Für den Fall angeordneter Verwaltungsvollstreckung am Unternehmensanteil ist
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270 Mecke, BB 1988, 2258, 2264; Ulmer, NJW 1990, 73, 80; Weidlich, ZEV 1994, 205, 208
271 Ulmer, NJW 1990, 73, 80; vgl. auch Klein, DStR 1992, 326, 328; Löffler, NJW 89, 2656,
2657 ff; Quack, BB 89, 2271, 2273
272 Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, S. 362
273 Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, S. 362
274 Priester, FS Stimpel (1985), S. 463, 482
275 Sudhoff/Scherer, Unternehmensnachfolge, 5. Aufl., § 9 Rn 57; für den GmbH-Anteil Priester,
FS Stimpel (1985), S. 463, 481; Sudhoff/Jäger, GmbH & Co. KG, 6. Aufl., § 34 Rn 37
276 Löffler, NJW 1989, 2656, 2658
277 Baumbach/Hueck/Hueck/Fastrich, GmbHG, 18. Aufl., § 14 Rn 13
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References
Zusammenfassung
Das Werk untersucht die Zulässigkeit der Testamentsvollstreckung an Aktien sowie die Machtbefugnisse des Testamentsvollstreckers für den praktisch bedeutsamen Fall, dass seiner Verwaltung Aktien unterstellt sind. Besondere Bedeutung kommt dabei der Frage zu, inwieweit der Testamentsvollstrecker ohne Zustimmung des Erben tätig werden und beispielsweise an der Gründung einer AG, an deren Umwandlung in eine GmbH oder an einem Börsengang einer nicht konzernierten AG mitwirken kann. Abschließend widmet sich die Autorin der Frage, inwieweit die Ämter „Testamentsvollstrecker“ und „Vorstandsmitglied einer AG“, deren Aktien der Verwaltung durch den Testamentsvollstrecker unterstellt sind, miteinander vereinbar sind.