29
tung.27 Für den Bereich der Daseinsvorsorge lässt sich mit Rupert Scholz
zusammenfassend feststellen: »Die Gemeindewirtschaft, die gemeindliche
Daseinsvorsorge und die Verwaltung der gemeindlichen öffentlichen Einrichtungen prägen seit jeher das Wesen der kommunalen Selbstverwaltung. Vor
allem bestimmen sie das Maß politisch aktueller Selbstverwaltungskompetenz; gerade im System einer sozialstaatlich verfassten Selbstverwaltung ist
ihr Mandat typusbestimmend für die kommunale Selbstverwaltung schlechthin. In diesem Sinne gehört die Gemeindewirtschaft und gehören die
gemeindlichen öffentlichen Einrichtungen zum funktionellen Kern der
gemeindlichen Selbstverwaltung, zählt die gemeindliche Wirtschaftsbetätigung zum unantastbaren Wesensgehalt der gemeindlichen Selbstverwaltung.«28
II. Kommunale Daseinsvorsorge unter Problemdruck
Der Sozialstaat und mit ihm die kommunale Daseinsvorsorge sind in neuerer
Zeit unter erheblichen Problemdruck geraten. Auf einer pragmatischen Ebene
sind es die Finanznot, die die Kommunen zu einer Überprüfung ihres Aufgabenbestandes zwingt (dazu Abschnitt 1.), und der Prozess der Europäisierung,
welcher der sozialstaatlich-kommunalen Daseinsvorsorge in ihren überkommenen Formen keine günstigen Entfaltungschancen bietet (dazu Abschnitt
2.). Auf einer grundsätzlicheren Ebene werden unter dem Schlagwort der Globalisierung Sozialstaat und kommunale Daseinsvorsorge prinzipiell in Frage
gestellt (dazu Abschnitt 3.).
1. Die Finanzlage der Kommunen
Die Finanzkrise der Kommunen ist seit Beginn der 90er Jahre ein die kommunale Daseinsvorsorge bedrängendes Problem.29 Steigende Ausgaben durch
Zuweisung neuer Aufgaben und sinkende Einnahmen führten nach einer kur-
27 Zur Instrumental-(Gemeinwohl-)funktion öffentlicher Unternehmen vgl. auch G. Püttner,
Die öffentlichen Unternehmen, 2. Aufl., 1985, S. 260 ff.; Th. Mann, JZ 2002, 810 ff.; H.-
G. Henneke, Der Landkreis 2003, 15, 17 ff.
28 R. Scholz, DÖV 1976, 441 ff., 442.
29 Soweit nicht anders vermerkt, sind die im folgenden Abschnitt genannten Zahlen den Ver-
öffentlichungen des Deutschen Städtetages und des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, insbesondere den jährlich erscheinenden Gemeindefinanzberichten entnommen (vgl.
unter: www.staedtetag.de und www.dstgb.de).
30
zen Erholung in den Jahren 1998-2000 seit 2001 zu einer dramatischen Situation, die vom Deutschen Städtetag als »ein Schritt vor dem Abgrund«
beschrieben wurde.30 Der Tiefpunkt der Entwicklung war im Jahre 2003
erreicht. Trotz Stagnation der Gesamtausgaben waren in diesem Jahr die Defizite in den kommunalen Haushalten auf 8,5 Milliarden Euro, die Kassenkredite um über 5 Milliarden auf insgesamt 16,25 Milliarden Euro angewachsen.
Die Höhe der Kassenkredite zeigt überdeutlich, in wie hohem Maße die Kommunen ihre laufenden Ausgaben nur mit immer neuen Schulden finanzieren
konnten. Konsequenz dieser äußerst prekären Finanzsituation war eine starke
Zurückhaltung bei den Investitionen. Sie lagen 2003 mit 21,4 Milliarden Euro
um 36 Prozent, bereinigt um die Beseitigung von Flutschäden sogar um 38%
unter dem Niveau von 1992.
Unmittelbare Ursachen für die kommunale Finanzmisere waren auf der Ausgabenseite die Notwendigkeit, die kommunalen Ausgaben vor allem aufgrund
der hohen Arbeitslosigkeit kontinuierlich zu erhöhen, auf der Einnahmenseite
der rasante Verfall der kommunalen Steuereinnahmen. Neben Einkommen-,
Körperschafts- und Umsatzsteuer war es besonders der Einbruch der Gewerbesteuer, der die Kommunen besonders hart traf. Als Gründe für diese krisenhafte Entwicklung wurden einmal der weltwirtschaftlich bedingte konjunkturelle Abschwung seit Ende 2000, dann aber vor allem auch strukturelle
Gründe verantwortlich gemacht: u. a. die inadäquate Aufteilung von Kosten
zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, die finanzielle Abhängigkeit vieler
Gemeinden von Unternehmen mit schrumpfenden Erträgen sowie die Möglichkeit der Konzerne, Erträge innerhalb eines Konzerns steuersparend zu verschieben; schließlich die Steuerpolitik der Bundesregierung, insbesondere das
Steuersenkungsgesetz vom Juli 2000.31
Seit dem Jahr 2004 hat sich die Finanzsituation der Kommunen deutlich verbessert. Vorrangig durch eine spürbare konjunkturelle Belebung und den
damit verbundenen stark angestiegenen Unternehmensgewinnen trug insbesondere die Gewerbesteuerentwicklung zu einer Verbesserung der kommunalen Einnahmensituation bei. So konnte das Gesamtdefizit 2004 auf 4,1 Milliarden Euro und 2005 auf 3,7 Milliarden Euro gesenkt werden.32 Im Jahr 2006
war das Finanzierungssaldo erstmals seit dem Jahr 2000 positiv; die Einnahmen der Gesamtheit der Kommunen lagen um 1,75 Milliarden Euro über den
Ausgaben (allerdings sind 1 Milliarde davon auf die Einnahmen der Stadt
Dresden aus dem Wohnungsverkauf zurückzuführen). Gleichzeitig ist der jah-
30 Deutscher Städtetag, Pressedienst 26.12.2001.
31 So N. Wohlfahrt / W. Zühlke, Ende der kommunalen Selbstverwaltung, 2005, S. 33.
32 Der Bundesminister für Finanzen beziffert die Finanzierungssalden der Kommunen (ohne
Stadtstaaten) mit 8,4 Milliarden Euro in 2003, 3,8 in 2004 und 2,3 in 2005; s. Monatsbericht
des BMF – Dezember 2006, S. 77 ff.
31
relange Rückgang der kommunalen Investitionen gestoppt, mit einem Plus
von 1,3% allerdings auf niedrigem Niveau. Die Sachinvestitionen betrugen
2006 18,85 Milliarden Euro; sie lagen damit immer noch deutlich unter dem
Niveau des Jahres 2000 mit 24,7 Milliarden Euro.
Dass trotz dieser positiven Entwicklung noch nicht von einem Ende der kommunalen Finanzkrise gesprochen werden kann, hat zwei Gründe. Alarmierend
hoch sind nach wie vor die Kassenkredite, die im Jahr 2006 auf 27,6 Milliarden Euro angestiegen sind; gefährlich niedrig sind – angesichts eines gewaltigen Investitionsstaus – die jährlichen Investitionen. Das Deutsche Institut für
Urbanistik (Difu) hat in einer Schätzung für die Jahre 2000 bis 2009 einen
kommunalen Investitionsbedarf von etwa 686 Milliarden Euro ermittelt. Der
höchste Investitionsbedarf besteht danach mit 26% des Gesamtbedarfs im
Verkehrsbereich (ÖPNV, Straßen), es folgen die soziale Infrastruktur mit
19% sowie Wasser und Umweltschutz mit 18%.33
Solange viele Kommunen ihre laufenden Verpflichtungen nur mit neuen
Schulden erfüllen und keine ausreichenden Erhaltungs- und Zukunftsinvestitionen machen können, liegt es nahe, den Aufgabenbestand zu reduzieren. Als
häufige Konsolidierungsmaßnahmen zur Verringerung der Ausgaben und zur
Verbesserung der Einnahmen werden genannt:
• Schließung öffentlicher Einrichtungen, z. B. von Stadtteilbibliotheken,
Schwimmbädern, Schulen, soziokulturellen Projekten;
• Ausgabenkürzungen durch generelle Deckelung des Finanzbedarfs der
Fachbereiche der Verwaltung;
• Abbau freiwilliger Leistungen und Zuschüsse für freie Träger in den Sek toren Kultur (z. B. bei soziokulturellen Zentren), Sport (z. B. Streichung
der Vereinsförderung), Soziales (z. B. Kürzungen bei der Jugendarbeit
oder Suchtberatung);
• Personalabbau in der Verwaltung;
• Aufnahme von kurzfristigen Kassenkrediten zur Finanzierung laufender
Ausgaben, z. B. der Personalkosten oder der Sozialhilfe;
• Verkauf von Grundstücken und Beteiligungen;
• Erhöhung kommunaler Gebühren und Steuern
• und schließlich – worauf genauer zurückzukommen ist – durch Auslagerung öffentlicher Aufgaben und Dienste und durch Privatisierung (vgl.
Abschnitt III.).34
33 M. Reidenbach u. a., Der kommunale Investitionsbedarf in Deutschland. Eine Schätzung für
die Jahre 2000 bis 2009, 2002; vgl. auch M. Reidenbach, Die Sachinvestitionen der Kommunen und ihrer Unternehmen – eine Bestandsaufnahme, 2006.
34 Die vorstehende Aufzählung nach N. Wohlfahrt / W. Zühlke, Ende der kommunalen Selbstverwaltung (Fußn. 31), S. 34.
32
2. Europäisierung
Einen deutlichen Druck auf die Kommunen zur Privatisierung ihrer öffentlichen Unternehmen übt das europäische Gemeinschaftsrecht aus.35 Das
Gemeinschaftsrecht überlässt es zwar den Mitgliedstaaten, die Rechtsform
ihrer Leistungsorganisationen zu bestimmen (Art. 295 EGV), und schreibt die
Privatisierung öffentlicher Unternehmen nicht ausdrücklich vor. Dennoch
fördert es indirekt die Privatisierung und zwar in sehr effektiver Weise, weil
es im Beihilferecht öffentliche Unternehmen wie private Unternehmen behandelt und keine hinreichende Rücksicht auf deren Gemeinwohlfunktion
nimmt.36 Ob durch den Reformvertrag von Lissabon37 hier eine Änderung zu
erwarten ist, wird uns im Abschnitt IV. 4. ausführlich beschäftigen. Hier soll
zunächst das (noch) geltende EG-Recht dargestellt werden.
Zu den konstitutiven Ordnungsprinzipien des EG-Rechts gehört der Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb (Art. 4 Abs. 1
EGV),38 dessen Schutz die Wettbewerbsregeln der Art. 81 ff. EGV dienen.
Die damit garantierten Marktfreiheiten (Waren-, Kapital- und Niederlassungsfreiheit) stehen in einem Spannungsverhältnis zu den in Art. 86 Abs. 2
EGV i. V. m. dem 1997 eingefügten Art. 16 EGV39 anerkannten »Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse« (das ist die europarechtliche Bezeichnung für »Daseinsvorsorge«)40– ein Spannungsverhältnis,
das sich kompetenzrechtlich in den Rollen der Kommission als Hüterin der
Wettbewerbsordnung und der nationalen Regierungen insbesondere Frankreichs und Deutschlands als Verteidiger der Daseinsvorsorge abbildet. Der
Sache nach geht es um die Tatsache, dass der Wettbewerb nicht immer das
35 Vgl. dazu T. Lämmerzahl, Die Beteiligung Privater an der Erledigung öffentlicher Aufgaben, 2007, S. 129 ff., 143, m. w. Nachw. Ein über den Themenkreis dieser Arbeit hinausreichender Überblick über die Privatisierungshebel des EG-Rechts bei R. Schmidt, Die Verwaltung 28 (2995), S. 281 ff., 291 ff.
36 Vgl. zum Folgenden insbes. S. Boysen / M. Neukirchen, Europäisches Beihilferecht und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge, 2007; A. Danner, Quersubventionierung öffentlicher
Unternehmen zur Finanzierung von Leistungen der Daseinsvorsorge, 2006; J. Essebier,
Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und Wettbewerb, 2005; C.
Jennert, Zum Verhältnis von europäischem Beihilferecht und mitgliedstaatlicher Daseinsvorsorge, 2005; T. Sandmann, Kommunale Unternehmen im Spannungsfeld von Daseinsvorsorge und europäischem Wettbewerbsrecht, 2005. – Zu den Ausführungen im Text vgl.
auch den aus dem Projektzusammenhang entstandenen Aufsatz A. Rinken / O. Kellmer, Die
Verwaltung 39 (2006), S. 1 ff.
37 Vgl. dazu die Angaben in Fußn. 213.
38 Der EGV wird zitiert in der Konsolidierten Fassung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Amtsbl. Nr. C 321E vom 29.12.2006.
39 Zu Art. 16 EGV vgl. ausführlich Abschnitt IV. 4.
40 Da der Begriff inzwischen auch in den Sprachgebrauch der EG-Kommission Eingang
gefunden hat (vgl. Fußn. 44), wird er im Text synonym zum Begriff »Dienstleistungen von
allgemeinem wirtschaftlichem Interesse« verwendet. Vgl. dazu auch M. Möstl, Renaissance
und Rekonstruktion des Daseinsvorsorgebegriffs unter dem Europarecht, in: M. Brenner / P.
M. Huber / M. Möstl (Hrsg.), Festschrift für P. Badura, 2004, S. 951 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Arbeit problematisiert die gegenwärtige Praxis einer materiellen und formellen Privatisierung weiter Bereiche der kommunalen Daseinsvorsorge. Im Ersten Teil wird als verfassungstheoretisches Problem der materiellen Privatisierung auf die Gefahr einer Erosion des Öffentlichen hingewiesen: auf die Tendenz zur Ausdünnung der demokratischen und sozialstaatlichen Legitimations- und Verantwortungsstrukturen. Im Zweiten Teil wird die These entwickelt, dass es sich bei der Wahl einer privatrechtlichen Organisationsform für öffentliches Handeln (formelle Privatisierung) nicht um eine rein rechtstechnische Frage, sondern um eine verfassungsrelevante Strukturentscheidung handelt, die einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf. Als eine flexible Handlungsform des öffentlichen Rechts und als geeignete Alternative zu privatrechtlichen Rechtsformen wird im Dritten Teil die Organisationsform des selbständigen Kommunalunternehmens vorgestellt. Die Leistungsfähigkeit dieser neuen öffentlich-rechtlichen Organisationsform wird sodann im Vierten Teil auf der Grundlage eines ausführlichen Rechtsformenvergleichs dargestellt und im Fünften Teil anhand einer rechtstatsächlichen Analyse der bayerischen Krankenhaus-Kommunalunternehmen konkretisiert. Von den rechtspolitischen Vorschlägen ist die Forderung nach einer Einführung einer direktiven Mitbestimmung im Kommunalunternehmen hervorzuheben.