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Kapitel 5: Zusammenfassung und Thesen
In das Staatsorganisationsrecht ist Bewegung gekommen. Vor dem Jahre 2006
konnte jede einzelne Gesetzgebungsbefugnis ausschließlich einer einzigen Regelungsebene zugeordnet werden. Die konkurrierende Gesetzgebung bildete da keine
Ausnahme, wofür die Kollisionsvermeidungsnorm des Art. 72 Abs. 1 Hs. 2 GG verantwortlich war. Bund und Länder konnten sich zwar gesetzgeberisch prinzipiell innerhalb desselben Kompetenztitels bewegen, dies jedoch niemals zur selben Zeit.
Entschloss sich der Bund zu regeln, so war die Befugnis der Länder zur Gesetzgebung im entsprechenden Umfang verloren. Die Abweichungsgesetzgebung zeichnet
in diesem Zusammenhang tatsächlich das Bild einer konkurrierenden Gesetzgebung,
indem der Wirkungsbereich eben dieser Kollisionsvermeidungsnorm zurückgenommen wurde. Das Ergebnis ist echte Konkurrenz.822 Dies gilt um so mehr, als bei
der Verfahrensausgestaltung der Abweichungsgesetzgebung in 72 Abs. 3 GG auf ein
Bundesveto gegenüber der Länderabweichung verzichtet wurde. Dabei waren nahezu alle vorher diskutierten Abweichungsmodelle mit einem solchen Bundeseinspruch versehen.823 Stattdessen wurde mit Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG eine Regelung
eingeführt, die den Interessenausgleich zwischen Bundes- und Landesgesetzgeber
durch einen neutral alternierenden Anwendungsvorrang nach dem lex-posterior-
Prinzip bewerkstelligt. Was die Anforderungen in Bezug auf die Wahrnehmung der
Regelungsbefugnis angeht, gibt Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG also weder dem Bund noch
den Ländern einen unmittelbaren Vorteil. Überlebt hat der Gedanke der „Bundesintervention“ jedoch in der Regelung der formellen Abweichungsoption der Länder,
denn hier kann der Bund die Abweichung nach Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG in Ausnahmefällen von vornherein ausschließen.
Obwohl Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG durch das Abstellen auf das Kriterium der Zeit
gegenüber anderen Kollisionsnormen des Grundgesetzes die als Maßstab die Ebenenhierarchie nehmen, „aus der Art schlägt“, stellt er – und das ist eine erste These
dieser Arbeit – keinen Fremdkörper im System des bundesstaatlichen Gefüges dar.
Die lex-posterior-Systematik wird auch in Österreich für das Verhältnis zwischen
Bundes- und Landesgesetzgeber angewendet. Dort entspringt diese dem Dogma der
Parität, also der Annahme, dass beide bundesstaatlichen Ebenen als gleichrangig anzusehen sind. In Deutschland besteht mit Art. 31 GG zwar ein Indiz für eine Überordnung des Bundes gegenüber den Ländern. Dass sich die Kollisionsnorm des Art.
72 Abs. 3 S. 3 GG mit diesem dabei nicht reibt, wurde jedoch dargelegt. Beide
Normen haben den Charakter einer Kollisionsbereinigungsnorm, wobei die Anord-
822 Zumindest außerhalb der abweichungsfesten Sektoren in Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG.
823 Das Modell der Abgeordneten Stünker und Röttgen i.R.d. Bundesstaatskommission bildete
beispielsweise eine Ausnahme und sah kein solches Bundesveto vor, siehe oben Kapitel 2, B.
XI. 2.
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nung des Anwendungsvorranges des späteren Gesetzes als Spezialvorschrift gegenüber der allgemeinen Kollisionsnorm des Art. 31 GG fungiert. Damit ist der
Grundgedanke der Kollisionsentscheidung auch erstmals für den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung verfassungsrechtlich angeordnet. Die verfassungsrechtliche Verankerung eines Vorranges der späteren Norm befriedigt dabei selbst die
Annahme, dass ein an die lex-posterior-Regel angelehnter Grundsatz nur dann im
Mehrebenengefüge gelten könne, wenn dieser positivrechtlich normiert sei.
Eine zweite These dieser Arbeit lautet: Die Abweichungsgesetzgebung fügt dem
deutschen Bundesstaat ein Element des lernenden Föderalismus hinzu. Die sich
entwickelnden Asymmetrien zwischen Bund und Ländern können eine Schnittfläche
durch mögliche Konzepte bieten, aus denen Erfahrungen für die zukünftige Behandlung der jeweiligen Thematik gewonnen werden können. Die besondere Kapazität
der Abweichungsgesetzgebung liegt dabei in der potentiell ungehemmten Geschwindigkeit der Erfahrungssammlung: Mehrere Modelle von Bund und Ländern
können zeitgleich erprobt werden. Bei einer Adaption bewährter Modelle durch die
Länder muss keine Freigabeentscheidung des Bundes für die betreffende Materie
abgewartet werden.824 Eine schnellere Sammlung von Erfahrungswerten ermöglicht
auch ein schnelleres und besseres Lernen des bundesstaatlichen Systems. Der Befürchtung, dass die Möglichkeiten des Art. 72 Abs. 3 GG nicht nur für den Wettbewerb um bessere Modelle genutzt werden könnten, sondern für gemeinschaftsschädliche Wettläufe nach unten, sei hier am Beispiel des Umweltrechts entgegengetreten.
So ist hier auf Grund der Spielraumeinengung durch europarechtliche Vorgaben und
abweichungsfeste Sektoren ein länderseitiges Umweltdumping nicht zu befürchten.825 Die entgegengesetzte Richtung, hin zu einer substantiellen Verschärfung der
Umweltvorschriften, wird aber aller Voraussicht nach ebenfalls nicht eingeschlagen
werden. Diese Marschrichtung dürfte vor allem auch durch das Interesse der Wirtschaft an bundesweit einheitlichen Standards gehemmt werden.826
Eine dritte These dieser Arbeit lautet: Trotz der Möglichkeit der Länder zum Abweichen von Bundesrecht ist eine daraus resultierende Rechtszersplitterung nicht zu
befürchten. Zwar wird durch Art. 72 Abs. 3 GG sogar partielles Bundesrecht möglich, der befürchtete Flickenteppich divergierender Rechtslagen ist für den deutschen
Bundesstaat jedoch kaum zu erwarten. Wahrscheinlicher ist der Wettbewerb von
höchstens drei oder vier Ländern und des Bundes um bessere Konzepte. Die Karenzzeit für Bundesnormen gibt den Ländern dabei den zeitlichen Spielraum, um
über mögliche Gegenkonzepte nachzudenken, wodurch die Angst vor der „Ping
Pong“-Gesetzgebung überzogen erscheint. Dass auch die generelle Möglichkeit der
824 Wie etwa beim Beispiel des Art. 72 Abs. 4 GG.
825 Diese Befürchtung äußerte aber der Sachverständigenrat für Umweltfragen, Rechtsausschuss-
Protokoll 15 vom 18.05.2006, S. 181 (S. 196); gegen diese Haltung damals die Stellungnahme von Kloepfer, aaO, S. 151 (S. 152), mit dem Hinweis darauf, dass sich die Länder in letzter Zeit um den Umweltschutz verdient gemacht hätten.
826 So auch Klein/Schneider, DVBl 2006, 1549 (1556). Für weitere Prognosen der Verwendung
der Abweichungsoption im Umweltbereich, siehe auch Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249
(254).
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Gliedstaaten zu Sonderwegen gegenüber dem Bund an sich keineswegs eine Garantie für einen Rückfall in die Kleinstaaterei bedeutet, zeigt das Beispiel Kanadas.
Eine vierte These dieser Arbeit lautet: Die Abweichungsgesetzgebung unterstützt
den demokratischen Grundgedanken. Sie verlagert das Gewicht der hoheitlichen
Einflussmöglichkeiten durch einen partiellen Abbau des Exekutiv-Bundesstaates
wieder ein Stück hin zu den Parlamenten. Das mit dem Bundesstaatsprinzip funktional und in den Zielsetzungen verbundene Demokratieprinzip wird dadurch unterstützt. Dies macht sich auch in einer Akzentuierung der parlamentarischen Handlungsspielräume auf der Länderebene bemerkbar. Die unkonditionierte Möglichkeit
für die Länder gegenüber dem Bund eigene Konzepte zu verwirklichen, ohne Furcht
vor einer Vereinheitlichung von oben haben zu müssen, dämpft auch das Phänomen
der Koordinierung der Gliedstaaten untereinander nach dem Postulat der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse. Gesetzgeberische Entscheidungsprozesse müssen
nicht deshalb auf die „dritte Ebene“ verlagert werden, um die Fähigkeit zur einheitlichen Rechtssetzung durch die Länder demonstrieren zu können, denn das Damoklesschwert des Art. 72 Abs. 1 Hs. 2 GG hängt im Bereich des Art. 72 Abs. 3 GG
nicht über den Köpfen der Länder. Eine auf diese Weise motivierte Bevormundung
der Länderparlamente durch exekutivische Kommissionen und Gremien dürfte hier
kaum zu erwarten sein.
Eine fünfte These dieser Arbeit lautet: Die Abweichungsgesetzgebung hat Modellcharakter für eine Stärkung der Rolle der Länder gegenüber dem Bund. Die
Kombination der Umstände, dass einerseits Gesetzgebungsprozesse näher beim
Bürger ablaufen können und andererseits die Abweichungsoptionen eine Chance zur
aufmerksamkeitsanziehenden Profilierung gegenüber dem Bund ermöglichen, stärken die Rolle der Länder gegenüber der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Die Abweichungsgesetzgebung hat also die Kapazität, die Funktion der Länder als Integrationssubjekt für die Bürger gegenüber der Rolle als Integrationsobjekt827 innerhalb
des Bundesstaates hervorzuheben. Derselbe Modellcharakter kann für eine Dämpfung der unitarisierenden Entwicklung der bundesstaatlichen Kompetenzordnung
angenommen werden. Die Abweichungsgesetzgebung erstreckt sich allerdings auf
eine recht geringe Anzahl an Kompetenztiteln. Eine unmittelbar ihr entspringende
Rückführung der Unitarisierung des deutschen Bundesstaates ist nach ihrer konkreten Ausgestaltung also nicht zu erwarten. Die Klassifizierung als Modellcharakter
muss daher unterstrichen werden. Die Hoffnung, dass dieser durch das 52. ÄndG
zum Grundgesetz hinzugewonnene Spielraum nicht durch den fortschreitenden Prozess der europäischen Integration zur Makulatur wird, könnte durch das neue europäische Vertragswerk von Lissabon und dessen überarbeitetes Protokoll zum Subsidiaritätsprinzip gedeckt werden.
Eine zusammenfassende These kann also lauten: Die Abweichungsgesetzgebung
unterstützt die dem Bundesstaat zu Grunde liegenden Zielsetzungen.
827 Die Rolle der Länder als Integrationsobjekt findet etwa im Vertretensein durch den Bundesrat
auf der Ebene des Bundes Ausdruck, siehe Graf Vitzthum, in: VVDStRL 46 (1988), 7 (46 f.).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit der 2006 in Kraft getretenen „Föderalismusreform I“ ist es den Ländern im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung möglich, Regelungen zu erlassen, die Bundesgesetzen widersprechen. Neben den Fragen die durch diese Neuerungen aufgeworfen werden, analysiert der Autor die Möglichkeiten und Grenzen des Modells sowie mit einem Blick ins Ausland ähnliche Konzepte. Er gelangt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der bundesdeutschen Kompetenzsystematik durch die erhöhte Bewegungsfreiheit der Länder, Elemente eines lernenden Föderalismus hinzugefügt werden und leistet hiermit einen Beitrag zu der Diskussion um das Abweichungsmodell, die sich bisher noch auf keinen reichhaltigen Erfahrungsschatz beziehen kann.