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II. Drei Quellen der Rechtsunsicherheit
Die durch Art. 72 Abs. 3 GG ermöglichte parallele Rechtssetzung durch Bund und
Länder in speziellen Sachbereichen öffnet Befürchtungen die Türe, es werde durch
die neuen Abweichungsoptionen zu einer unüberschaubaren Zerspreißelung der
Normenlandschaft kommen. Tatsächlich könnte es im Gefolge der Beanspruchung
des Art. 72 Abs. 3 GG zu insgesamt drei Erscheinungen von Ungewissheit in Bezug
auf die Anwendbarkeit von Recht kommen. Zunächst könnte Ungewissheit darüber
entstehen, welche territoriale Tragweite Bundesrecht in den Sachbereichen der Nrn.
28 bis 33 des Art. 74 Abs. 1 GG hat. Sollten in einem Land oder mehreren Ländern
abweichende Regelungen nach Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG in Kraft getreten sein, so verdrängen diese die Bundesnorm innerhalb ihres Einflussbereiches. Anders als noch
vor dem 01. September 2006 kann im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung
also nicht mehr vorbehaltlos die territorial uneingeschränkte Geltung eines Bundesgesetzes angenommen werden. Die Abweichungsgesetzgebung macht es vielmehr
möglich, dass Bundesrecht nur in einigen der deutschen Bundesländer anwendbar
ist, in anderen jedoch nicht. Auf abweichende Landesregelungen kann jedoch in den
entsprechenden Sammlungen der Gesetze des Bundes hingewiesen werden, so dass
der Rechtsanwender in der Praxis relativ schnell Klarheit darüber wird erlangen
können, in welchem Gliedstaat Bundesrecht uneingeschränkt anwendbar ist und in
welchem nicht.636
Eine weitere Quelle für Unsicherheiten könnte das partielle Bundesrecht bilden.637 Dieses kann dann entstehen, wenn ein Land durch seine Abweichungsoption
nicht das gesamte Bundesgesetz zum selben Regelungssachverhalt ablöst, sondern
nur einen Teil davon. Die Bereiche des Bundesgesetzes, von denen nicht abgewichen wurde, bleiben dann weiterhin anwendbar, während die übrigen von den Landesregelungen überlagert werden. Innerhalb eines Regelungskomplexes kann dann
Bundesrecht und Landesrecht eng nebeneinander stehen. Diese Konstellation könnte
durchaus schwieriger zu überschauen sein, als der eben beschriebene „Flickenteppich differenter Rechtslagen“638. Der Normunterworfene muss in den Fällen partiellen Bundesrechts also sowohl Bundes- als auch Landesrecht im Blick haben und
sich Klarheit über die Reihenfolge der jeweiligen Normerlasse verschaffen. Um damit verbundene Ungewissheiten zu vermeiden, sollten die Gesetzgeber auf Seiten
des Bundes und der Länder auf eine gewisse Normhygiene achten.
Eine dritte Quelle der Rechtsunsicherheit könnte in der Frequenz des Wechsels
zwischen der Anwendbarkeit von Bundes- und Landesnorm bestehen. Während der
Zeit des Zusammenkommens der Kommission zur Modernisierung der bundesstaat-
636 Bund und Länder wollen voraussichtlich das abweichende Landesrecht systematisch im
Rahmen des Dokumentationssystem „juris“ dokumentieren, um eine gesteigerte Klarheit für
den Rechtsanwender zu ermöglichen, welches Recht im konkreten Fall anzuwenden ist, BT-
Drs. 16/813, BR-Drs. 178/06, 462/06.
637 Siehe dazu die Ausführungen unter Kapitel 2, C. III. 3.
638 Vor diesem warnte F. Kirchhof i.R.d. Bundesstaatskommission, siehe Zur Sache 1/2005,
Kom-Drs. 0011, S. 6.
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lichen Ordnung und auch während des anschließenden Gesetzgebungsverfahrens
wurde verständlicherweise die Befürchtung geäußert, den Kollisionen zwischen
Bundes- und Landesrecht mittels einer an das lex-posterior-Rechtssprichwort angelehnten Regel zu begegnen, schaffe eine „Ping Pong Gesetzgebung“.639 Sinnvolle
und vor allem nachhaltige Abweichungsgesetze der Länder seien nicht möglich,
wenn der Bund durch schlichte Novellierung seiner Ausgangsregelung das Landesrecht wieder aushebeln könne. Das Meinungsbild nach der Föderalismusnovelle
2006 ist diesbezüglich gespalten.640 Die Ausgestaltung, die Art. 72 Abs. 3 GG durch
den verfassungsändernden Gesetzgeber erfahren hat, sollte jedoch die meisten Zweifel an der zweckbestimmten Nutzbarkeit der Abweichungsgesetzgebung zerstreuen
können. Die durch Satz 2 angeordnete Karenzzeit für neues Bundesrecht gibt den
Ländern Spielraum, um über neuerliche, eigene Konzepte nachzudenken und diese
umzusetzen, so dass eine Zeit des Wechsels der Gesetzesprovenienzen auch vermeidbar ist. Hierdurch – das muss trotz der Einordnung der Abweichungsgesetzgebung als real konkurrierende Kompetenzart festgestellt werden – sind die Länder im
Bereich des Art. 72 Abs. 3 GG flexibler als der Bund.641 Dies kann jedoch auch als
konsequente Beachtung und Weiterentwicklung des Gedankens der Art. 30, 70 GG
angesehen werden, nach dem die Gesetzgebung grundsätzlich Sache der Länder ist.
Die Angst vor einem die deutsche Normenlandschaft ins Chaos stützenden Hin und
Her der Normgebung scheint schließlich auch deshalb übertrieben, weil die Abweichungsgesetzgebung auf ganze zwei Politikfelder begrenzt bleibt. Lediglich der
Umweltschutz und die Bildung haben Eingang in Art. 72 Abs. 3 GG gefunden und
selbst das nur in eng abgesteckten Teilbereichen.
Inwiefern diese drei642 potentiellen Quellen der Rechtsunsicherheit tatsächlich
Bedeutung in der deutschen Verfassungspraxis erlangen werden, kann zwar nicht
gänzlich prognostiziert werden, von einer schweren Einwirkung auf das Gebot der
Rechtssicherheit wird aber nicht auszugehen sein. Diese Vermutung legen letztlich
auch Vergleiche mit anderen bundesstaatlichen Systemen nahe, die ebenfalls optingout-Regelungen für die Gliedstaaten vorsehen. Beispielsweise hat die Betrachtung
des kanadischen Modells gezeigt, dass die Möglichkeit der Provinzen zum Aussche-
639 Unter den Medienberichten siehe statt vieler FAZ v. 18.05.2006 „Ping-Pong-Gesetzgebung“.;
Vorholz, Die Zeit Nr. 6/2006, S. 30. Kritisch äußerte sich in diese Richtung auch der Bundespräsident a.D. Herzog, Kölner Stadtanzeiger v. 23.06.2006, S. 10. Siehe auch Nierhaus/Rademacher, LKV 2006, 385 (390).
640 Die Gefahr des „Ping Pongs“ sehen beispielsweise Nierhaus/Rademacher, LKV 2006, 385
(390); Knopp, NVwZ 2006, 1216 (1217). Dagegen Ipsen, NJW 2006, 2801 (2804); Oeter, in:
Starck, Föderalismusreform, Rn. 33; Decker, Mehr Asymmetrie im deutschen Föderalismus?,
in: Jahrbuch des Föderalismus 2007, S. 205 (S. 219 f.).
641 Oeter, in: Starck, Föderalismusreform, Rn. 33.
642 Der Umstand, dass es durch die Abweichungsgesetzgebung zu unterschiedlichen Rechtslagen
der Bundesländer untereinander kommen kann, bildet keine vierte Fallgruppe. Denn unterschiedliches Recht in von einander getrennten Rechtskreisen (hier das jeweilige Landesrecht
innerhalb der diversen Bundesländer) stürzt den Rechtsunterworfenen nicht in eine Ungewissheit darüber, welches Recht auf ihn anwendbar ist. Eben dies ist jedoch in den beschriebenen drei Konstellationen der Fall.
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ren noch keine Furcht vor einer unüberschaubaren Zersplitterung der Rechtseinheit
rechtfertigt.643
D. Aspekte der Staatsorganisation
I. Bundesstaatlichkeit im Lichte der Staatsorganisation
1. Einheit in Vielfalt
Die offensichtlichsten Zielsetzungen einer föderalen Staatsstruktur sind im Bereich
der Staatsorganisation (in ihrem wörtlichen Sinne) zu finden. Die Staatlichkeit sowohl des Ganzen, als auch seiner Glieder, bringt eine Einteilung in Einheiten mit
sich. Diese Einteilung bewirkt eine ganze Reihe primärer Effekte, wie beispielsweise eine gesteigerte Übersichtlichkeit und mehr kulturelle und politische Vielfalt. Effekte, die sich auf das Verhältnis des Staates zu den seinem Machtbereich Unterworfenen positiv auswirken können. Diese sind dabei nicht nur Ziel, sondern gleichzeitig auch Mittel zur Erreichung weiterer Zielsetzungen der Ordnungsideen von Demokratie und Freiheit. Bereits Aristoteles warnte vor dem Schatten eines alles einebnenden Staates. Der Staat setze seiner Natur nach Vielheit voraus, um überhaupt
bestehen zu können. Ein Staat, der die pure Einheit darstelle, sei schon kein Staat
mehr.644 Auch wenn der Ausspruch in dieser Undifferenziertheit nicht stehen gelassen werden kann, so macht er doch deutlich, dass bei der Ausformung des Staates
das Individuum und sein Bedürfnis nach Beachtung und Partizipation nicht außer
Acht gelassen werden darf. In diesem Sinne kann der Bundesstaat als ein System
gelten, das die Vermittlung zwischen den beiden Grundtatsachen der menschlichen
Kultur sucht: Eigenart und Einheit, Selbstständigkeit und Gemeinschaft.645
Vom Modell des Bundesstaates sind die Erscheinungen des Staatenbundes und
des Einheitsstaates abzugrenzen.646 Beide Extreme stellen zumindest kein Ideal für
die Berührungspunkte zwischen Staat und Gesellschaft dar. Der Staatenbund läuft
Gefahr, den Blick für das Ganze zu verwischen. Er bemüht sich weniger um integrierende Momente, da er kein „Ganzes“ sieht, in das zu integrieren wäre. Dadurch,
dass das bundesstaatliche System ein gewisses Gewicht auf den Gesamtstaat legt,
grenzt er sich vom Staatenbund ab. Dies ist eine technische Notwendigkeit, um das
Gesamtvolk außenpolitisch, militärisch, finanziell und handelspolitisch überhaupt
handlungsfähig zu machen.647 Gleichzeitig belässt der Bundesstaat aber den Gliedern ein gewisses Maß an Autonomie und Verantwortlichkeit und hat somit das Po-
643 Diese Furcht hält auch für übertrieben: Schultze, in: APuZ 13-14/2005, 13 (19).
644 Aristoteles, Politik, 1261a.
645 Görner, Einheit durch Vielfalt, S. 59.
646 Siehe die begriffliche Einordnung bei Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR IV (1999), § 98,
Rn. 4.
647 Smend, Abhandlungen, S. 227.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit der 2006 in Kraft getretenen „Föderalismusreform I“ ist es den Ländern im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung möglich, Regelungen zu erlassen, die Bundesgesetzen widersprechen. Neben den Fragen die durch diese Neuerungen aufgeworfen werden, analysiert der Autor die Möglichkeiten und Grenzen des Modells sowie mit einem Blick ins Ausland ähnliche Konzepte. Er gelangt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der bundesdeutschen Kompetenzsystematik durch die erhöhte Bewegungsfreiheit der Länder, Elemente eines lernenden Föderalismus hinzugefügt werden und leistet hiermit einen Beitrag zu der Diskussion um das Abweichungsmodell, die sich bisher noch auf keinen reichhaltigen Erfahrungsschatz beziehen kann.