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tere Norm durch den Verfassungsgerichtshof aufgehoben werden sollte. Eine bloße
Suspension trete dagegen ein, wenn die neue Norm die alte nur in Teilen überlagert.
Für diesen Bereich stellt die erstere eine lex specialis gegenüber der letzteren dar
und geht ihr im überlagerten Bereich in der Anwendung vor.575 Aufleben kann das
frühere Gesetz nach Wegfall des späteren dann von selbst, da es sich dann nur um
einen Anwendungsvorrang, nicht aber um eine Derogation handelt. Teilweise wird
sich aber auch für eine tatsächliche Derogationswirkung nur der neueren Bundesnormen gegenüber den älteren Landesnormen ausgesprochen, während die Landesnorm der älteren Bundesnorm immer lediglich im Sinne eines lex specialis vorgehe.576 Uneinigkeit herrscht allerdings wieder darüber, ob eine Derogation nur bei
sich widersprechendem577 oder auch bei inhaltsgleichem578 Recht erfolgen soll. Der
Verfassungsgerichtshof hat sich hierbei der Meinung angeschlossen, dass eine Derogation der älteren Norm nur im Falle eines tatsächlichen Normwiderspruchs eintrete.579 Es finden sich hierzu auch vermittelnde Ansichten, die entweder ein Interpretationsbedürfnis im Falle einer Kollision sehen580 oder die einen Normwiderspruch bereits in der Tatsache des Erlasses einer gleichlautenden Regelung durch die
andere Regelungsebene erblicken.581
V. Zusammenfassung und Bewertung
Obwohl die Österreichische Verfassung keine ausdrückliche Anordnung einer konkurrierenden Gesetzgebung kennt, so finden sich doch einige Beispiele, die einer
tatsächlich konkurrierenden Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern äußerst nahe kommen. Die herausstechenden Beispiele sind hier die Annexzuständigkeiten der
Länder nach Art. 15 Abs. 9 B-VG und die Bedarfsgesetzgebung nach Art. 11 Abs. 2
B-VG. Hier lässt sich beobachten, dass in Ermangelung positiver Kollisionsregeln
die Gedanken des einfachen Kollisionsrechts, die ursprünglich für Kollisionen innerhalb ein und derselben Regelungsebene erdacht wurden, auf Normkonflikte angewandt werden, die zwischen Normen unterschiedlicher Regelungsebenen beste-
575 Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 266.
576 So die auf Adamovich zurückgehende Sicht, siehe Adamovich, Die Prüfung von Gesetzen, S.
313.
577 Wielinger, Das Verordnungsrecht der Gemeinden, S. 94, 97; Rill, ÖstZ 1972, S. 204; Haller,
Die Prüfung von Gesetzen, S. 201; Walter/Mayer, Bundesverfassungsrecht, S. 496; Moritz,
ZfV 1994, 154; Leuprecht, ÖJZ 1960, S. 618; Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, S. 91 f.;
Werner, JBl 1952, 360.
578 Antoniolli, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 87; Öhlinger, Der völkerrechtliche Vertrag im
staatlichen Recht, 291 f., 342 f.; Schäfer, JBl 1968, 69; Zierl, Sachwalterschaft und Verwaltung, S. 53.
579 VfSlg 5810/1968, 5120/1965, 4049/1961, 3714/1960, 1979/1950.
580 Koja, Das Verfassungsrecht der österreichischen Bundesländer, S. 35, 62.
581 Schima, ÖJZ 1961, 563 (Fn. 52).
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hen.582 Für die Frage nach der Kollisionsauflösung in diesen Feldern tatsächlich
konkurrierender Zuständigkeiten ist dementsprechend die grundsätzliche Anwendung des lex-posterior-Satzes als Mechanismus der Kollisionsbereinigung nahezu
unbestritten. Für den sich aufdrängenden Vergleich zur deutschen Abweichungsgesetzgebung kann hierbei, unabhängig von einer endgültigen Qualifikation der Wirkungsweise als Derogation oder Suspension, allein durch den Umstand der Anwendung der lex-posterior-Regel auf Normen unterschiedlicher Regelungsebenen ein
nahezu kongruentes Bild gezeichnet werden. In beiden Fällen sind Bund und Länder
nicht gehindert, ein Sachgebiet mit Regelungen zu bedenken, das zuvor schon von
der anderen Regelungsebene normiert wurde. Ebenfalls in beiden Fällen soll nur das
jeweils später erlassene Gesetz für den Rechtsanwender von Bedeutung sein. Insoweit bestehen Parallelen zum deutschen Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG, der ebenfalls Kollisionen zwischen Normen unterschiedlicher Regelungsstufen nach dem zeitlichen
Kriterium auflöst.
Das Fehlen von quasi „vor die Klammer gezogenen“, positivrechtlich in der Verfassung verankerten Kollisionsregelungen, die sowohl das Finden der vorzugehenden Norm bewerkstelligen, als auch die Klarstellung leisten, was mit der unterlegenen Norm geschieht, hat jedenfalls nicht zur Rechtssicherheit beigetragen. Dies belegt die Herausbildung vielerlei Streitstände zu unterschiedlichen Abgrenzungsproblematiken bezüglich der Kompetenzordnung. Beispielhaft war hier zum einen das
Problem, welche Wirkung ein neues Grundsatzgesetz auf zuvor ergangene, inhaltlich widersprechende Landesgesetze haben soll.583 Zum anderen war und ist man
auch hinsichtlich der Wirkung des Erlasses eines Bedarfsgesetzes auf widersprechende Bundes- oder Landesgesetze nicht absolut einhelliger Meinung.584 Als letztes
Beispiel kann die Unsicherheit um die Wechselwirkungsrelationen zwischen Bundes- und Landesrecht im Rahmen des lex Starzynski und der daraus resultierende
bunte Meinungsstrauß herhalten. Dieser Fülle an Indizien für das tatsächliche Vorliegen konkurrierender Zuständigkeiten und deren begeleitenden Kollisionslösungstheorien wollten auch Kräfte innerhalb des Österreich-Konvents Rechnung tragen,
der im Juni 2003 eingerichtet wurde und innerhalb von anderthalb Jahren einen neuen Verfassungstext schaffen sollte.585 Die Gründe für seine Einrichtung lagen unter
anderem in der Reformbedürftigkeit der österreichischen Bundesstaatlichkeit im
582 Dies wurde schon früh von Antoniolli gerügt. Allerdings ging es ihm hier nicht um die Anwendung des einfachen Kollisionsrechts an sich. Er bestand vielmehr darauf, dass – anders
als Identität des Normsetzers, wo sich seiner Meinung nach das Außerkraftsetzen des späteren
Gesetzes von selbst versteht, weil die Derogation auch ohne positivrechtliche Anordnung
durch das einfache Kollisionsrecht bewirkt wird – zwischen Bundes- und Landesgesetzen eine „Derogation nur kraft positiv-rechtlicher Anordnung möglich“ ist, siehe Antoniolli, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 83.
583 Diese Thematik ist mittlerweile durch das B-VG teilweise geregelt; siehe hierzu Mayer, in:
Mayer/Rill, Neuerungen im Verfassungsrecht, S. 9 (S. 17 f.).
584 Siehe hierzu Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 91 ff.
585 Dazu Eberhard, JRP 2003, 123 ff; zur Vorbildwirkung für Deutschland Albers, ZG 2005, 182
(183).
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Allgemeinen und der zersplitterten Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern im Besonderen. Ein Vorschlag, der großen Anklang gefunden hat, ging dahin, die strikte an der Versteinerungstheorie586 orientierte Verteilung exklusiver Gesetzgebungskompetenzen weitgehend zugunsten eines Typus der
konkurrierenden Gesetzgebung zu ersetzen und diese damit positiv in der Verfassung zu verankern.587 Im Januar 2005 wurde unter anderem dieser Vorschlag im Abschlussbericht des Konvents vorgelegt; eine entsprechende Einigung konnte allerdings nicht erzielt werden.588
D. Gesamtbetrachtung und Vergleich der Systeme
Die vorangegangenen Darstellungen der österreichischen und der kanadischen Verhältnisse dienen im Rahmen einer vergleichenden Schlussbetrachtung unterschiedlichen Zwecken. Während die Möglichkeiten der kanadischen Gliedstaaten, sich
durch das opting out oder die override power gegenüber der Bundesgesetzgebung zu
behaupten, einen Vergleich mit der deutschen Abweichungsgesetzgebung hinsichtlich der grundsätzlichen Mechanismen der Sonderwege und deren Verortung im
System der Kompetenzordnung nahe legen, lassen sich für den deutschen Art. 72
Abs. 3 S. 3 GG Parallelen zu der Diskussion in Österreich um eine Kollisionsregelung nach dem Prinzip des lex posterior Grundsatzes ziehen.
Mit dem Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG wurde eine Kollisionsnorm in das deutsche
Grundgesetz eingefügt, die sich nicht am Rang des kollidierenden Rechts, sondern
allein am formalen Kriterium der Zeit orientiert. Eine solche positivrechtliche
Anordnung eines dem lex posterior Grundsatz ähnlichen Kollisionsbereinigungsvorgangs ist, soweit ersichtlich, bisher ohne Beispiel. Allerdings zeigen im österreichischen Verfassungsrecht sowohl die Bedarfsgesetzgebung nach Art. 11 Abs. 2 B-
VG, als auch die Annexzuständigkeiten der Länder nach Art. 15 Abs. 9 B-VG unter
Zugrundelegung der (nahezu einhelligen) Annahme, dass hier kollidierendes Recht
nach dem lex posterior Grundsatz zu behandeln ist, deutliche Ähnlichkeiten zur materiellen und formellen Abweichungsgesetzgebung unter dem deutschen Grundgesetz. Hier wie dort, besteht die Möglichkeit für die Gliedstaaten, Bundesrecht durch
eigenes Gliedstaatenrecht abzulösen, während der Bund nicht gehindert ist, seinerseits die Landesnormen wiederum zu überregeln. Bundes- und Landesrecht können
sich also wechselseitig durch ihre jeweilige neuerliche Verabschiedung ablösen. Im
österreichischen Verfassungsrecht ist dieser Mechanismus jedoch lediglich eine in
die Verfassung interpretierte Spielart, während er mit dem Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG
586 Hiernach sollen Verfassungsnormen – also auch die Kompetenzzuweisungen – stets in dem
Sinne verstanden werden, den sie zum Zeitpunkt ihres In-Kraft-Tretens hatten.
587 Öhlinger, Bundesstaatlichkeit in der Europäischen Union, in: Grote/Härtel, Die Ordnung der
Freiheit, S. 857 (S. 867).
588 Zu den divergierenden Haltungen im Konvent hierzu siehe Wiederin, in: Merten, Die Zukunft
des Föderalismus in Deutschland und Europa, S.87 (S. 107 f.).
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References
Zusammenfassung
Seit der 2006 in Kraft getretenen „Föderalismusreform I“ ist es den Ländern im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung möglich, Regelungen zu erlassen, die Bundesgesetzen widersprechen. Neben den Fragen die durch diese Neuerungen aufgeworfen werden, analysiert der Autor die Möglichkeiten und Grenzen des Modells sowie mit einem Blick ins Ausland ähnliche Konzepte. Er gelangt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der bundesdeutschen Kompetenzsystematik durch die erhöhte Bewegungsfreiheit der Länder, Elemente eines lernenden Föderalismus hinzugefügt werden und leistet hiermit einen Beitrag zu der Diskussion um das Abweichungsmodell, die sich bisher noch auf keinen reichhaltigen Erfahrungsschatz beziehen kann.