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15 Abs. 9 B-VG ergeben.536 Auch hinsichtlich der der früheren deutschen Rahmengesetzgebung ähnelnden Grundsatzgesetzgebung lassen sich Parallelen entdecken.
Ein Sonderfall in der allgemeinen Kompetenzverteilung ist die paktierte Gesetzgebung, nach der eine Regelung übereinstimmender Gesetzgebungsakte des Bundes
und der Länder bedarf. Die hierunter fallenden Materien sind Grenzänderungen nach
Art. 3 Abs. 2 B-VG und die Übertragung straßenpolizeilicher Aufgaben an Bundespolizeidirektionen nach Art. 15 Abs. 4 B-VG.537 Zeichnen sich hinsichtlich der Gesetzgebungsbefugnisse zwischen Bund und Ländern Konflikte ab, so ist zu deren
Lösung generell der Verfassungsgerichtshof berufen.538 Er hat dann gem. Art. 138
Abs. 2 B-VG darüber zu entscheiden, welcher Regelungsebene die Gesetzgebungsbefugnis zuzusprechen ist, was dementsprechend den Ausschluss der anderen zur
Folge hat.539 Soll die Norm an sich einer Kontrolle unterworfen werden, so richtet
sich dies nach dem Verfahren gem. Art. 140 Abs. 1 B-VG. Dies geht mit dem allgemeinen Verständnis von Art. 15 Abs. 1 B-VG konform, in dessen Generalklausel
zu Gunsten der Länder eine Anordnung der Exklusivität der gesetzgerberischen
Sphären von Bund und Land gesehen wird.540 Dem Spruch des Verfassungsgerichtshofes kommt dabei die Wirkung einer authentischen Interpretation des Bundesverfassungsrechts zu und hat damit Verfassungscharakter.541 Er kann dementsprechend
nur vom Verfassungsgesetzgeber abgeändert werden. Die Bindungswirkung erfasst
damit sogar den Verfassungsgerichtshof selbst.542
II. Konkurrierende Zuständigkeiten und Normenkollisionen
Die tatsächliche Möglichkeit, dass sich Bundes- und Landesrecht in Österreich innerhalb desselben Regelungsgegenstandes begegnen können ist nicht von der Hand
zu weisen. Ein erstes Beispiel hierfür bietet die Bedarfsgesetzgebung des Bundes
nach Art. 10 Abs. 1 Nr. 15 B-VG, die sich auf wirtschaftslenkende und versorgungs-
536 Adamovich/Funk, Österreichisches Verfassungsrecht, S. 162; für eine Übersicht der „Querschnittsmaterien“ siehe Funk, Einführung in das österreichische Verfassungsrecht, Rn. 157 ff.
Terminologisch will Funk eine tatsächlich konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit nur in
den Fällen des Art. 11 Abs. 2 B-VG und des Art. 15 Abs. 9 B-VG anerkennen, Funk, Das
System der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, S. 39 f.
537 Berka, Lehrbuch Verfassungsrecht, Rn. 424; Adamovich/Funk/Holzinger, Österreichisches
Staatsrecht, Rn. 19.024, 19.084.; Walter/Mayer, Bundesverfassungsrecht, Rn. 272.
538 Zur Entstehungsgeschichte der Eigenschaft des österreichischen Verfassungsgerichtshofes als
Schiedsrichter in Konflikten zwischen der Bundesgesetzgebung und der Gesetzgebung der
Länder, eingehend Öhlinger, in: Der Rechtsstaat vor neuen Herausforderungen, S. 581 (S.
587 ff.).
539 Die zu klärende Rechtsfrage beschränkt sich darauf, wer zum Erlass einer Norm kompetent
ist. Die Verfassungsmäßigkeit einer Norm wird nicht untersucht, siehe Öhlinger, Verfassungsrecht, Rn. 998.
540 Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 128; Mayer, Kurzkommentar, Art. 15 I.
541 VfSlg. 3055/1956; 4027/1961; 4446/1963.
542 Öhlinger, Verfassungsrecht, Rn. 998.
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sichernde Maßnahmen aus Anlass oder in Folge eines Krieges bezieht. Der Bund
kann hier Regelungen treffen, die nach der allgemeinen Kompetenzverteilung in die
Gesetzgebungszuständigkeit der Länder fallen.543 Solange der Bund diese Befugnis
in Anspruch nimmt, werden die entsprechenden Landesnormen auf diesem Gebiet
durch die Bundesnorm verdrängt. Dies erfolgt allerdings im Sinne eines Überschattungs- beziehungsweise Suspendierungsprinzips,544 nicht im Sinne einer Derogation,
wie etwa nach dem deutschen Art. 31 GG. Mithin leben Landesgesetze nach dem
Ende der Geltungsdauer der Bundesgesetze wieder auf. Art. 10 Abs. 1 Nr. 15 B-VG
trägt damit die Züge einer Art von Vorranggesetzgebung.
Ebenfalls im Bereich der Bedarfgesetzgebung, namentlich in Art. 11 Abs. 2 B-
VG, findet sich ein weiteres Beispiel für die Möglichkeit von Normenkollisionen
von Bundes- und Landesrecht. Hier ist eine Bedarfkompetenz des Bundes zur Regelung des Verwaltungsverfahrens normiert. Die Kompetenz bezüglich des Verfahrensrechts folgt nach dem Adhäsionsprinzip grundsätzlich der Kompetenz in der jeweiligen materiellen Sachkompetenz. Diese Adhäsionswirkung wird durch die Inanspruchnahme der Bedarfskompetenz des Bundes aus Art. 11 Abs. 2 B-VG durchbrochen.545 Ähnlich dem deutschen Modell des formellen Abweichungsrechts in Art.
84 Abs. 1 S. 2 GG kann ein solches Bedarfsgesetz nun aber wiederum durch abweichende Verfahrensnormen eines Landes durchbrochen werden, Art. 11 Abs. 2 B-VG
a.E.. Es wird also dem Landesgesetzgeber die Möglichkeit eröffnet, auf dem Gebiet
des Verwaltungsverfahrensrechts von Bundesrecht abweichende Normen zu erlassen, die im entsprechenden Einflussbereich der Bundesnorm vorgehen. Insofern ist
mit der Änderung des Art. 11 Abs. 2 B-VG im Jahre 1974 doch eine geschriebene
konkurrierende Gesetzgebungskompetenz geschaffen worden,546 wenngleich sich
gegen diese begriffliche Einordnung auch vereinzelter Widerstand regt: Von einer
konkurrierenden Kompetenz könne deshalb nicht die Rede sein, weil der Landesgesetzgeber bezüglich Art. 11 Abs. 2 B-VG der Restriktion der Erforderlichkeit unter-
543 Nach allgemeiner Auffassung, erfolgten die entsprechenden Bundesmaßnahmen in der Nachkriegszeit des 2. Weltkrieges bis 1955 auf Grund dieser Befugnis.
544 Adamovich/Funk, Österreichisches Verfassungsrecht, S. 164; Weber/Mayer, Bundesverfassungsrecht, Rn. 261. Deren Spannungsverhältnis zur exklusiven Zuteilung der Kompetenzen,
wird von den Gegnern der Überschattungstheorie stark bemängelt, siehe dazu Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 105 (m.w.N.).
545 Die Einschätzung, ob ein solcher Bedarf vorliegt, obliegt dem Bundesgesetzgeber, siehe
Mayer, Kurzkommentar, Art. 11. II.2. Diese Einschätzung ist jedoch justitiabel, siehe Öhlinger, ZaöRV 1977, 399 (419). Insoweit ähnelt die Qualität der Einschätzungsprärogative hier
eher der deutschen Erforderlichkeitsklausel in Art. 72 Abs. 2 GG in ihrer grundsätzlichen
Ausgestaltung seit 1994, als der deutschen Bedürfnisklausel in der alten Fassung des Art. 72
Abs. 2 GG vor 1994.
546 So auch Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 93. Die Novelle sah sich diesbezüglich in
der zeitgenössischen Literatur dem Vorwurf des Systembruchs ausgesetzt, siehe bspw.
Mayer, in: Mayer/Rill, Neuerungen im Verfassungsrecht, S. 9 (S. 14). Auch in der jüngeren
Literatur wurde die Skepsis bezüglich der Systemverträglichkeit des Art. 11 Abs. 2 B-VG erneuert. Die Norm sei von unklarer Weite und laufe dem Gedanken der Vereinheitlichung des
Verfahrensrechts zuwider, siehe Walter/Mayer, Bundesverfassungsrecht, Rn. 262.
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worfen sei und deshalb eine inhaltlich gleichartige Kompetenz nicht vorliege.547 Der
vergleichende Hinweis auf den deutschen Art. 72 Abs. 2 GG zeigt die Schwäche des
Arguments auf. Auch hier ist, zumindest für einige Materien, eine Gesetzgebungsebene der Restriktion der Erforderlichkeit (dieses Mal der Bund) unterworfen. Der
Qualifikation als konkurrierende Kompetenz tut dies allerdings keinen Abbruch, da
es auf die schlichte Möglichkeit ankommen muss, dass sich in einem bestimmten
Sachgebiet jeweils in Übereinstimmung mit der Kompetenzordnung ergangenes
Bundes- und Landesrecht gegenüberstehen können. Die Option für die Länder nach
Art. 11 Abs. 2 B-VG ist also mit der Einschränkung versehen, dass abweichende
Landesregelungen in einem materiellen Gesetz nur dann zulässig sind, „wenn sie zur
Regelung des Gegenstandes erforderlich sind“. Die Beurteilung, ob eine solche
Unerlässlichkeit besteht, obliegt dem Landesgesetzgeber, der sich mit dem Gedanken einer abweichenden Regelung trägt; gleichwohl ist dieses Erfordernis durch den
Verfassungsgerichtshof überprüfbar.548 Gemäß dem Zweck der Bedarfsgesetzgebung nach Art. 11 Abs. 2 B-VG, für ein einheitliches Verfahrensrecht zu sorgen549
und dem Gedanken folgend, dass die hiervon abweichenden Vorschriften deshalb
Ausnahmecharakter haben, weil sie im Zusammenhang spezieller Fallgestaltungen
ergehen sollen,550 wird der Mechanismus der Verdrängung des Bedarfsgesetzes
durch Landesrecht wohl hauptsächlich im Sinne eines bloßen Anwendungsvorranges
und nicht einer derogativen Wirkung verstanden.551 Bestehende Landesregelungen
sollen hingegen nach herrschender Auffassung in der österreichischen Literatur und
Rechtsprechung durch das Bedarfsgesetz im Sinne einer Derogation außer Kraft gesetzt werden.552 Vereinzelt wird aber auch hier ein bloßer Anwendungsvorrang angenommen.553
Ein weiteres Beispiel für die Möglichkeit tatsächlich konkurrierender Gesetzgebung von Bund und Ländern findet sich in der Zuständigkeit der Länder nach Art.
15 Abs. 9 B-VG, die nach ihrem Initiator auch gerne als lex Starzynski bezeichnet
wird. Hiernach haben die Länder im Bereich ihrer Gesetzgebung die Befugnis, die
zur Regelung des Gegenstandes erforderlichen Bestimmungen auch auf den Gebieten des Straf- und Zivilrechts zu treffen, die eigentlich gem. Art. 10 Abs. 1 Nr. 6
BV-G in Gesetzgebung und Vollziehung dem Bund zugewiesen sind. Die Möglichkeit der Länder, in einer gesetzgeberischen Domäne des Bundes selbst regelnd tätig
zu werden, hat dann auch in der Literatur zur Herausbildung der weitgehend vertretenen Meinung geführt, dass die akzessorische Länderzuständigkeit mit der allge-
547 So Moritz, JBl 1989, 72 (77), der hierin eine Kompetenz zur Schaffung von leges speciales
sieht.
548 So deutet der VfGH in nahezu st. Rspr. „erforderlich“ als „unerlässlich“, siehe dazu Mayer,
in: Mayer/Rill, Neuerungen im Verfassungsrecht, S. 9 (S. 13) (m.w.N.).
549 Mayer, in: Mayer/Rill, Neuerungen im Verfassungsrecht, S. 9 (S. 11 f.)
550 Öhlinger, Verfassungsrecht, Rn. 252
551 So wohl auch Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 94.
552 Siehe statt vieler Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 91 (m.w.N.).
553 So Ermacora, Österreichische Verfassungslehre, S. 278 f., der Bedarfsgesetzgebung schlicht
mit „verdrängender Gesetzgebung“ gleichsetzt.
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meinen Bundeszuständigkeit für das Straf- und Zivilrecht konkurriere.554 Eine im
Vordringen befindliche Ansicht nimmt diesbezüglich dagegen an, dass der Grundsatz der Trennung der Gesetzgebungssphären aus Art. 15 Abs. 1 B-VG auch hier
gewahrt sei.555 Ein Überregeln von auf Grundlage von Art. 15 Abs. 9 B-VG ergangenem Landesrecht sei dem Bund nämlich gar nicht möglich. Was der Landesgesetzgeber hierdurch einmal mit eigenen Normen bedacht habe, könne der Bund in
diesem territorialen Geltungsbereich nicht mehr einem Bundesgesetz unterwerfen.
Hierzu habe er keine Kompetenz mehr. Der Landesgesetzgeber hingegen sei befugt,
von Bundesgesetzen abzuweichen und deren Geltungsbereich so zu reduzieren.556 In
Ermangelung einer konkreten Anordnung der Geltungsrechtsfolgen in der Verfassung gehen die Meinungen hinsichtlich des Mechanismus der Kollisionslösung für
den Fall, dass „frisches“ Recht (sei es von Bund oder Ländern erlassen) bereits bestehendem Recht widerspricht, besonders weit auseinander.557 Zum einen wird die
Ansicht geäußert, dass der Bund im Sinne einer echten Zuständigkeitskonkurrenz
Straf- und Zivilrechtsnormen auch auf Gebieten erlassen dürfe, die zuvor von den
Ländern durch ihre Kompetenz nach dem lex Starzynski abgedeckt wurden. Der
Bund habe hier auch die Möglichkeit, die Landesnormen nicht nur zu verdrängen,
sondern diese auch zu derogieren.558 Neueres Landesrecht nach Art. 15 Abs. 9 B-VG
stelle gegenüber älterem Bundesrecht hingegen als lex specialis dar.559 Eine höhere
Durchsetzungskraft will hier dem Landesrecht eine andere Meinung zugestehen, die
davon ausgeht, dass „jedenfalls Landesrecht“ das Bundesrecht zu derogieren vermöge.560
III. Die Anwendung des lex-posterior-Grundsatzes
Die vorangegangenen Ausführungen haben Regelungsfelder aufgezeigt, innerhalb
derer jeweils in Übereinstimmung mit der Kompetenzordnung ergangene Bundesund Landesnormen aufeinander treffen können. In den Fällen der Bedarfsgesetzgebung nach Art. 11 Abs. 2 B-VG und der Annexkompetenz nach Art. 15 Abs. 9 B-
VG konkurrieren die beiden Regelungsebenen sogar faktisch um die Gesetzgebung,
obwohl die österreichische Verfassung keine ausdrückliche konkurrierenden Kompetenzen kennt. Wenn in einem solchen Bereich mehrere Normen zum selben Regelungsgegenstand aufeinander treffen, so werden Mechanismen nötig, die ein Nebe-
554 Jabloner, DRdA 1982, 288 (293); Thienel, DRdA 1994, (222) 223; Adamovich/Funk, Österreichisches Verfassungsrecht, S. 177; Funk, Das System der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, S. 39; Moritz, JBl 1989, 72 (77); schon früh: Merkl, ZöR 2 (1921), 336 (348).
555 Öhlinger, ÖZW 1988, 33 (38); Moritz, JBl 1989, 72 (77 f.).
556 Moritz, JBl 1989, 72 (80).
557 Ein Überblick findet sich bei Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 128 f.
558 Rill, ÖZW 1974, 97 (109).
559 Rill, ÖZW 1974, 97 (110).
560 Schaden, Außerstreitverfahren und Kompetenzverteilung, in: Kralik/Rechberger, Vorschläge
zur Reform des Außerstreitverfahren, S. 7 (S. 37).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit der 2006 in Kraft getretenen „Föderalismusreform I“ ist es den Ländern im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung möglich, Regelungen zu erlassen, die Bundesgesetzen widersprechen. Neben den Fragen die durch diese Neuerungen aufgeworfen werden, analysiert der Autor die Möglichkeiten und Grenzen des Modells sowie mit einem Blick ins Ausland ähnliche Konzepte. Er gelangt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der bundesdeutschen Kompetenzsystematik durch die erhöhte Bewegungsfreiheit der Länder, Elemente eines lernenden Föderalismus hinzugefügt werden und leistet hiermit einen Beitrag zu der Diskussion um das Abweichungsmodell, die sich bisher noch auf keinen reichhaltigen Erfahrungsschatz beziehen kann.