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lich ergänzend eine Strafe vorsieht und einem ungültigen Provinzgesetz, das
schwerpunktmäßig als Strafrecht anzusehen ist.459
II. Legislative Sonderwege der Provinzen
1. Opting out im Rahmen des amending-Verfahrens
Jede Nation muss über die Macht verfügen, seine Verfassung zu ändern oder zu erweitern. In einem Einheitsstaat liegt diese Gewalt unproblematisch bei dessen dazu
berufenem Organ. In einem bundesstaatlichen Gefüge kommt die zusätzliche Staatsebene der Glieder hinzu, die gegebenenfalls auch an dem Verfassungsänderungsprozess zu beteiligen ist. So verhält es sich auch in Kanada. Der kanadische Constitution Act, 1982 kennt insgesamt fünf Verfahren zur Verfassungsergänzung (amending
procedures), die jeweils unterschiedliche Grade der Beteiligung der Provinzen vorschreiben. Das allgemeine Verfahren ist in Abschnitt 38(1) verankert und kommt
immer dann zum Zuge, wenn kein spezielleres der Abschnitte 41, 43, 44 und 45 anwendbar ist.460
38(1). An amendment to the Constitution of Canada may be made by proclamation issued by
the Governor General under the Great Seal of Canada where so authorized by
(a) resolutions of the Senate and House of Commons; and
(b) resolutions of the legislative assemblies of at least two-thirds of the provinces that have, in
the aggregate, according to the then latest general census, at least fifty per cent of the population of all the provinces.
38(2). An amendment made under subsection (1) that derogates from the legislative powers,
the proprietary rights or any other rights or privileges of the legislature or government of a
province shall require a resolution supported by a majority of the members of each of the Senate, the House of Commons and the legislative assemblies required under subsection (1).
38(3). An amendment referred to in subsection (2) shall not have effect in a province the legislative assembly of which has expressed its dissent thereto by resolution supported by a majority of its members prior to the issue of the proclamation to which the amendment relates unless
that legislative assembly, subsequently, by resolution supported by a majority of its members,
revokes its dissent and authorizes the amendment.
38(4). A resolution of dissent made for the purposes of subsection (3) may be revoked at any
time before or after the issue of the proclamation to which it relates.”
Ein amendment benötigt gemäß Abschnitt 38(1) die Zustimmung beider Kammern des nationalen Parlaments (a) und von zwei Drittel der kanadischen Provinzen,
459 Funston/Meehan, Canada’s constitutional law, S. 89; Für eine Übersicht bezüglich der hierzu
entwickelten Unterscheidungskriterien, siehe Hogg, Constitutional law, S. 516.
460 Abschnitt 45 ermächtigt die Provinzen exklusiv zur Durchführung des amending-Verfahrens
bezüglich ihrer eigenen Verfassungen und ist damit kein Verfahren in Bezug auf die kanadische Bundesverfassung. Zur Novellierung letzterer stehen damit vier Verfahren zur Verfügung.
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die zugleich auch mindestens die Hälfte der gesamtkanadischen Bevölkerung stellen
müssen (b).461 Aus dem Umstand, dass die Gliedstaaten in das Verfahren eingebunden sind, lässt sich jedoch kein Vetorecht in Bezug auf die Verfassungsänderung ableiten.462 Eine einzelne Provinz kann ein amendment im Sinne von Abschnitt 38(1)
also nicht verhindern. Allerdings gibt Abschnitt 38(3) den Provinzen die Möglichkeit, aus dem Einflussbereich des von ihnen nicht befürworteten Verfassungszusatzes auszuscheren, falls dieser ihre bestehenden Gesetzgebungsbefugnisse, Eigentumsrechte oder jedwede andere Befugnisse ihrer Legislativen oder Regierung beschneidet. Dieses Ausscheren wird als opting out463 bezeichnet. Damit ist der einzelnen Provinz zwar nicht die Möglichkeit gegeben, einen Zusatz zur Bundesverfassung zu blockieren, der vom Bund und anderen Provinzen gewollt ist. Sie kann sich
aber seinen Auswirkungen entziehen. Der Zusatz zur Verfassung tritt im Falle eines
opting out durch eine Provinz wie gewöhnlich in Kraft, er entfaltet aber in der ausscherenden Provinz keine Wirkung. Durch das opting out im amending-Verfahren
ist den Provinzen also die Möglichkeit gegeben, die Geltung von Bundesverfassungsrecht für ihren Herrschaftsbereich auszuschließen. Maximal drei Provinzen
können das opting out zugleich gebrauchen, da ansonsten bereits das von der Verfassung vorgesehene Quorum in Abschnitt 38(1b) nicht erfüllt wäre.464 Um von der
opting-out-Regelung des Abschnittes 38(3) erfolgreich Gebrauch machen zu können, muss die betreffende Provinz innerhalb der dafür vorgesehenen Frist einen Ablehnungsbeschluss fassen (resolution of dissent). Wird der Verfassungszusatz dann
nach Ablauf der Frist verkündet, tritt er in sämtlichen Provinzen in Kraft, die ihre
Ablehnung nicht durch einen Ablehnungsbeschluss kundgetan haben.465 Dies bedeutet gleichzeitig, dass auch ein Gliedstaat, der das amendment zwar nicht unterstützt,
jedoch keinen ausdrücklichen Ablehnungsbeschluss fasst, ab Fristablauf ebenfalls
unter dem Regime der novellierten Bundesverfassung steht.
Um sicher zu stellen, dass die Ablehnung einer Verfassungsergänzung keine finanziellen Nachteile für eine Provinz mit sich bringt, sieht Abschnitt 40 des Constitution Act, 1982 eine Pflicht des Bundes vor, angemessene Kompensationszahlun-
461 Die zwei Voraussetzungen haben dem Quorum auch den Namen seven-fifty-formula eingebracht.
462 Auf einfachgesetzlicher Ebene ist ein Veto in Bezug auf Verfassungsänderungen dennoch
durch das regional-veto-Statut vorgesehen (S.C. 1996, c. 1 „An Act respecting constitutional
amendments“). Dieses wurde vom kanadischen Parlament als Reaktion auf die Abspaltungsbestrebungen Québecs im Jahre 1995 erlassen. Siehe hierzu Hogg, Constitutional law, S. 84
ff.
463 (to) opt out (eng.) = ausscheren, austreten.
464 Bei einer Gesamtheit von zur Zeit zehn kanadischen Provinzen, hätte die Verfassungsänderung bei vier ausscherenden Provinzen nicht mehr die Unterstützung von zwei Drittel der
Gliedstaaten.
465 Ein Ablehnungsbeschluss kann sowohl vor, als auch nach Ablauf der Frist zurück genommen
werden (Abschnitt 38(4) des Constitution Act, 1982). Der Verfassungszusatz entfaltet in der
betreffenden Provinz sodann die selbe Wirkung wie in den übrigen Provinzen, die keinen Ablehnungsbeschluss gefasst hatten. Hingegen ist nach Verkündung ein Ablehnungsbeschluss
folgenlos. Siehe Hogg, Constitutional law, S. 80.
134
gen an die ausscherenden Provinzen zu entrichten. Diese Pflicht wird jedoch nur
dann ausgelöst, wenn das amendment Gesetzgebungskompetenzen der Provinzen in
Bezug auf die Bereiche Bildung und Kultur auf den Bund überträgt:
40. Where an amendment is made under subsection 38(1) that transfers provincial legislative
powers relating to education or other cultural matters from provincial legislatures to Parliament, Canada shall provide reasonable compensation to any province to which the amendment
does not apply.
Diese verfassungsrechtlich vorgesehene Kompensation soll gewährleisten, dass
sich die Provinzen nicht durch finanzielle Erwägungen dazu genötigt fühlen, die Gesetzgebung in den Bereichen der Bildung und Kultur aufzugeben.466 Ein Zusatz zur
Verfassung, der beispielsweise die Gesetzgebung über die Ausbildung an den Universitäten auf den Bund übertragen wollte (und dabei das notwendige Quorum des
Abschnittes 38(1) erfüllt), wäre ohne die Kompensationsregelung des Abschnittes
40 für die argwöhnenden Provinzen nur schwer abzulehnen. Denn das opting out
bedeutete gleichzeitig das Tragen erheblicher Kosten, nämlich die Unterhaltung der
Universitäten, wovon hingegen die zustimmenden Provinzen durch die Novellierung
der Bundesverfassung befreit wären.467 Das Recht der Provinzen zum opting out
nach Abschnitt 38(3) und die flankierende Kompensationspflicht des Bundes, stellen
in ihrem Zusammenspiel eine Schranke für die Kompetenz-Kompetenz des Bundes,
im Bereich der Hausgüter der kanadischen Provinzen (Bildung und Kultur) dar. Die
Möglichkeit zum Gehen eigener Wege wird hierdurch zwar nicht eröffnet, schließlich ist es den Provinzen nicht möglich, die kanadische Bundesverfassung in ihrem
Sinne zu erweitern. Es ist den Gliedstaaten aber ein Instrument gegeben, sich stark
unitarisierenden Tendenzen im Bundesstaat zu entziehen.468 Diesem schrankengebenden Instrument ist jedoch wiederum durch Abschnitt 42(2) des Constitution Act,
1982 eine Schranke gegeben. Dieser schließt das opting out in Bezug auf bestimmte
Neuregelungen staatsorganisatorischer Natur aus. Den Verfassungsnovellen die sich
mit Materien im Sinne des Abschnittes 42(1) befassen, (z.B.: das Prinzip der proportionalen Vertretung der Provinzen im Oberhaus, die Wahl der Senatoren oder die
Schaffung neuer Provinzen) kann sich eine Provinz also nicht entziehen. Abschnitt
42(2) wurde diesbezüglich auch als gewichtige Relativierung der opting-out-Rechte
der Provinzen (vor allem Québecs) bezeichnet. Die Einschränkungen ließen den
minderen Schutz gegenüber einem Vetorecht über ein amendment deutlich werden.469 Diese Äußerungen sind, soweit sie den Vergleich zu sperrenden Einspruchsrechten ziehen, korrekt. Im System der verfassungsrechtlich verankerten Ausscheroptionen machen sie aber insoweit Sinn und schränken die einzelne Provinz nicht
466 Die Kompensation für die Bereiche Bildung und Kultur ist ein Zugeständnis an Québec, wegen ihrer besonderen Wichtigkeit für die Provinz, siege Hogg, Constitutional law, S. 81.
467 Bezüglich solcher Verfassungsänderungen die nicht die Bereiche Bildung und Kultur betreffen kann freilich auch vom opting out Gebrauch gemacht werden. Eine Entschädigung i.S.v.
Abschnitt 40 des Constitution Act, 1982 ist dann aber nicht vorgesehen, Hogg, Constitutional
law, S. 81.
468 Zum Begriff der Unitarisierung, siehe die Ausführungen unter Kapitel 4, G. I.
469 Hogg, Constitutional law of Canada, S. 84.
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unangemessen ein, als sie sämtlich Materien betreffen, die niemals eine einzelne
Provinz, sondern immer die Glieder als Gesamtheit betreffen und daher vereinzelte
Sonderlösungen unpraktikabel oder undurchführbar erscheinen lassen.
2. Opting out in mischfinanzierten Gesetzgebungsprogrammen
Eine wichtige Erscheinung innerhalb der Gesetzgebung, bei der sowohl die Provinzen, als auch (faktisch) der Bund beteiligt sind, stellen die federal-provincial shared
cost programmes dar. Dies sind gemeinsame Unternehmungen von Bund und Provinzen zur Erfüllung von Aufgaben, die innerhalb des gesetzgeberischen Kompetenzbereiches der Provinzen liegen, wobei deren Kostendeckung durch Bund und
Gliedstaaten gemeinsam erfolgt.470 Hierbei werden den teilnehmenden Provinzen
durch den Bund monetäre Zuschüsse in Form direkter Geldzahlungen oder der Einräumung von weitergehenden Besteuerungsmöglichkeiten gewährt. Im Gegenzug
willigen die Provinzen ein, die so finanzierten Programme nach den Vorstellungen
des Bundes auszugestalten. Bei solchen Finanzhilfen des Bundes für kostspielige
Programme der Provinzen handelt es sich also um bedingte Zuschüsse (conditional
grants).471 Positiv ausgedrückt, sollen durch solche Bundeszuschüsse vertikale Ungleichgewichte der Finanzkraft zwischen Bund und Provinzen ausgeglichen werden,
die dazu führen, dass die Provinzen die ihnen obliegenden Aufgaben nicht adäquat
erfüllen können.472 Solche Transferzahlungen des Bundes spielen, trotz der überaus
großen Steuerautonomie der Provinzen, mit nahezu einem Viertel aller Einnahmen
der Gliedstaaten eine gewichtige Rolle.473 Für die Provinzen liegt in der Bezuschussung durch den Bund an sich auch noch keine Gefahr hinsichtlich einer Einbuße an
Eigenstaatlichkeit in der Gesetzgebung. So können die Zuschüsse vorbehaltlos erfolgen. Der Bund kann seine Leistungen aber auch an Bedingungen knüpfen, die
dann beispielsweise in Bundesgesetzen niedergelegt sind.474 Über diesen monetären
Umweg der Mischfinanzierung kann der Bund ein informelles Mitspracherecht im
Rahmen des konstitutiven Gesetzgebungsprozesses erlangen, welches im Ergebnis
eine erhebliche Einflussnahme auf die Gesetzgebung der teilnehmenden Provinzen
haben kann. Der Bund kauft sich auf diese Weise in kompetenzfremde Materien ein
– ein Mechanismus der in der kanadischen Fachliteratur zuweilen als trojanisches
470 Hogg, Constitutional law of Canada, S. 165.
471 Smith, in: Bakvis/Skogstad, Canadian Federalism, S. 39 (S. 52 f.); zum Komplex der conditional grants, siehe Hogg, Constitutional Law, S. 165 ff.
472 Zum Begriff der vertical imbalance, siehe Watts, Comparing federal systems, S: 46.
473 Schneider, APuZ 50/2006, 31 (33); zum Steuersystem siehe Hogg, Constitutional Law, S.
155 ff.
474 Prominente Beispiele sind der Canada Health Act und der Canada Assistance Plan, siehe
Funston/Meehan, Canada’s constitutional law, S. 92. Solche zweckgebundenen Bundeszuweisungen gibt es seit 1912, Report of the Royal Commission on Dominion-Provincial Relations, Book I, S. 257.
136
Pferd475 bezeichnet wird und dessen Folgen in Deutschland auch unter dem Stichwort des „goldenen Zügels“476 bekannt geworden sind.477
Das so gewonnene Mitspracherecht ist jedoch nicht schrankenlos ausgestaltet. So
ist es dem Bundesgesetzgeber nicht möglich, hierdurch ein regulatives Schema in
einem bestimmten Bereich provinzieller Gesetzgebung einzuführen. Auch kann er
keine Steuern für provinzielle Zwecke erheben. Letztlich darf der Bund auch keine
Strafen über eine Provinz verhängen, die zwar die Bundeszuschüsse bereits erhalten,
die damit verknüpften Forderungen jedoch nicht erfüllt hat.478 Das einzige Druckmittel ist somit das Zurückbehalten der Bundesmittel für den Fall der Nichtbeachtung der verhandelten Vorgaben durch die Provinz. Dies ist einleuchtend, wenn man
sich nochmals vor Augen führt, dass es sich hierbei um Sachgebiete handelt, bei denen die Gesetzgebungskompetenz bei den Provinzen liegt. Es wird also klar, dass
die federal spending power des Bundes kein souverän einsetzbares Instrumentarium
ist, sondern im Vorfeld seines Gebrauchs ein Mindestmaß an Zusammenarbeit zwischen Bund und Provinzen erfordert. Dennoch wurde es ab Mitte des 20. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt vieler gesetzgeberischer Aktivitäten im Bereich der provinziellen Gesetzgebungskompetenzen.479
Diese Möglichkeit zu Transferzahlungen des Bundes firmiert unter der Bezeichnung der federal spending power.480 Diese Doktrin wird in der geschriebenen Verfassung Kanadas nicht ausdrücklich erwähnt, wird aber aus dem Kontext einzelner
Bestimmungen hergeleitet: Abschnitt 106 des Constitution Act, 1867 bestimmt, dass
das Bundesparlament Zahlungen aus dem Staatshaushalt (consolidated revenue
fund) bewilligen kann. Auch Abschnitt 36(2) des Constitution Act, 1982, der den
Bund zur Leistung von Ausgleichszahlungen an die Provinzen ermächtigt, um diesen ein ausreichendes Budget zur Finanzierung öffentlicher Dienste zu ermöglichen,
wird als Legitimationsstütze für die federal spending power angesehen.481 Letztlich
stellen nach verbreiteter Auffassung auch die Steuererhebungs-Befugnisse des Bundes nach Abschnitt 91(3) Constitution Act, 1867 und die Verfügungsrechte über
Staatseigentum nach Abschnitt 91(1A) Constitution Act, 1867 Grundlagen der federal spending power dar, da es dem Bund sowohl erlaubt sein müsse, Geld das er
durch Steuern einnehme auch wieder auszugeben, als auch über sein Eigentum zu
verfügen.482 Demgegenüber wurde kritisch geäußert, dass die spending power des
Bundes auf seine eigenen Kompetenzfelder beschränkt sein müsse, da auch seine
Besteuerungsmöglichkeiten aus dem erwähnten Abschnitt 91(3) auf seine eigenen
475 Smith, in: Bakvis/Skogstad, Canadian Federalism, S. 39 (S. 52).
476 Häberle, ZöR 2007, 39 (45); siehe hierzu die Ausführungen unter Kapitel 4, G. II.
477 Siehe zur spending power des Bundes, Bothe, Kompetenzstruktur, S. 176 ff. (m.w.N.)
478 Smiley, Canada in question: Federalism in the Eighties, S. 24 f.
479 Smith, in: Bakvis/Skogstad, Canadian Federalism, S. 39 (S. 52).
480 Kritisch zu diesem Vorgang Telford, Publius 33/1 (2003), 23 (31 f.).
481 Siehe Funston/Meehan, Canada’s constitutional law, S. 91 f.
482 Hogg, Constitutional law, S. 171.
137
Zuständigkeitsbereiche begrenzt seien.483 Die Kritik ist dabei geprägt von dem Verständnis einer fiskalen Selbstverantwortung, wonach jede Staatsebene ihre Ausgaben mit eigenen Steuermitteln decken solle. Die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit dieser Bundesbezuschussung an sich wurde zwar nie an den Supreme Court herangetragen,484 dieser ließ jedoch in mehreren Entscheidungen erkennen, dass er in
der Vorenthaltung vormals versprochener Zuschüsse durch den Bund keinen regulativen Charakter in Bezug auf das zu bezuschussende Normprogramm einer Provinz
sieht.485 Dies legt die Auffassung nahe, dass wegen eines fehlenden rechtssetzenden
Charakters der Bezuschussung diese in Übereinstimmung mit den Entscheidungen
der Verfassung zur Kompetenzverteilung steht. Die spending power des Bundes ist
dementsprechend auch in der Literatur weitgehend anerkannt.486
Diese Praxis empfand vor allem die Provinz Québec487 von Anfang an als einen
unangemessenen Übergriff in exklusive Sphären provinzieller Gesetzgebung. In den
Fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts lehnte Québec beispielsweise bedingte Bundeszuwendungen für den Bau des Trans-Kanada Highway, für die Finanzierung der
Universitäten und für die Bereiche der Krankenversicherung, der beruflichen Weiterbildung sowie des Forstwesens ab. Im Jahre 1959 wurde die Höhe der von Québec abgelehnten Bundeszuweisungen auf über $ 82 Mio. geschätzt, während es nur $
46 Mio. annahm. Zu dieser Zeit erhielt eine ausscherende Provinz keine Kompensationsleistungen, was zur Folge hatte, dass eine Ablehnung der Bundeszuweisungen
in der betreffenden Provinz wie eine Besteuerung ohne den daraus folgenden Vorteil
für die Staatskasse wirkte. Denn die im Einflussbereich der ausscherenden Provinz
lebenden Einwohner mussten zwar die Bundessteuer zahlen, die zur Finanzierung
der shared cost programmes in den übrigen Bundesstaaten verwendet wurde, hatten
selbst aber keinen Nutzen davon.488 Québec strebte daher neue Arrangements bezüglich der Nichtteilnahme an shared cost programmes an, die diese Nachteile abfedern
sollten. Auf Drängen Québecs wurde 1965 der Established Programmes Act erlas-
483 Trudeau, Federalism and the French Canadians, S. 79; Tremblay Report (Report of the Royal
Commission of Inquiry on Constitutional Problems), Québec, 1956, S. 217 ff; kritisch aus
heutiger Sicht auch Telford, Publius 33/1 (2003), 23 (24 ff.).
484 Smith, in: Bakvis/Skogstad, Canadian Federalism, S. 39 (S. 53).
485 SCC 1991, Reference re Canada Assistance Plan, 2 S.C.R., 525 (567); SCC 1990, Finlay v.
Canada (Minister of Finance), 2 F.C. 790; siehe dazu Funston/Meehan, Canada’s constitutional law, S. 91 (m.w.N.); Hogg, Constitutional law, S. 173 f. (m.w.N.).
486 Siehe Smith, in: Bakvis/Skogstad, Canadian Federalism, S. 39 (S. 53); Funston/Meehan, Canada’s constitutional law, S. 92; Hogg, Constitutional law, S. 171; Bothe, Kompetenzstruktur,
S. 178 (m.w.N.).
487 Québec ist die flächenmäßig größte Provinz Kanadas, in der mehr als ein Viertel (6,5 Mio.)
der kanadischen Gesamtbevölkerung lebt (25 Mio.), vgl. Hogg, Constitutional law, S. 78.
Québec nimmt eine Sonderstellung innerhalb der kanadischen Provinzen ein. So basiert beispielsweise in neun von zehn Provinzen das Zivilrecht auf dem Common Law des angloamerikanischen Rechtskreises. Allein in Québec ist das Zivilrecht an den Code Civil angelehnt und ist insoweit eher mit der romanischen Gruppe des kontinental-europäischen
Rechtskreises verwandt; siehe Handschug, Einführung in das kanadische Recht, Rn. 23 f.,
Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 80.
488 Hogg, Constitutional law, S. 165.
138
sen, der den Provinzen das Ausscheren (opting out) von bestimmten, bereits laufenden Programmen ermöglichte, ohne dadurch einen finanziellen Nachteil zu erleiden.489 Gegenstand dieser Vereinbarung waren beispielsweise Regelungen zur
Krankenversicherung, zur öffentlichen Gesundheit oder zu Unterstützungsleistungen
für Kranke und Behinderte. Eine weitergehende Diskussionsanregung machte im
Jahre 1969 der damalige kanadische Premierminister Pierre Elliott Trudeau. Er
schlug vor, dass zukünftige shared cost programmes nur dann umgesetzt werden
dürften, wenn zuvor ein breiter intraföderaler Konsens über den Bedarf des Programms festgestellt wurde. Außerdem dürfe die Entscheidung einer Provinz, sich
nicht daran zu beteiligen, nicht zu ihrem finanziellen Nachteil gereichen.490 Der
Vorschlag ging also insoweit über die Abkommen des Established Programmes Act
hinaus, als er indirekt eine Kompensationsleistung im Falle des opting out für sämtliche shared cost programmes vorsehen wollte.
Wie das opting out schon von seinem Wortsinn her ein Ausscheren bezeichnet, so
geht also der Grundsatz des opting-out-Modells im Rahmen der federal provincial
shared cost programmes dahin, dass die Provinzen entscheiden können, ob sie an
einem gemeinsamen Programm teilnehmen oder nicht. Dies allein ist aber nicht die
Besonderheit des opting out, da die Möglichkeit, nicht daran teilzunehmen, bereits
aus dem Umstand folgt, dass die in Rede stehenden Materien allesamt exklusive Gesetzgebungszuständigkeiten der Provinzen betreffen. Den wahren Nutzen in Bezug
auf die Wahrung der Eigenstaatlichkeit können die Provinzen vielmehr aus der daraus folgenden Kompensationsleistung durch den Bund ziehen, die sich an dem Gegenwert bemisst, der ansonsten in dem betroffenen Programm verwendet worden
wäre. Die Zuweisungen erfolgen entweder in Form direkter Geldmittel oder in Form
erweiterter Möglichkeiten der ausscherenden Provinz zur Einnahme von Steuern
durch den teilweisen Rückzug des Bundes aus der Besteuerung (abatement).491 Der
Established Programmes Act sah dabei zum einen vor, dass die Provinz im Gegenzug ihre Ausgaben für das Modell offen legen musste, welches an Stelle des gemeinsamen Programms durchgeführt wurde, und zum anderen, dass sie an zur
Koordination der Ausgleichsleistungen eingerichteten Kommissionen teilnehmen
musste.492 Der Established Programmes Act wurde dabei nicht im Rahmen eines
amending-Verfahrens in die Verfassung aufgenommen und hatte daher lediglich den
489 Bothe, Kompetenzstruktur, S. 248.
490 Trudeau, Federal-Provincial Grants and the Spending Power of Parliament, S. 36. In der Gesamtschau der Entwicklung bzgl. der Handhabung der conditional grants, kann zwar gesagt
werden, dass der Vorschlag beachtet wurde, in die Form eines (Verfassungs-)Gesetzes wurde
er aber nie gegossen.
491 Hauptsächlich im Bereich der Einkommensteuer. Ontario Advisory Committee on Confederation, Background Papers and Reports, S. 313; Bothe, Kompetenzstruktur, S. 248 (m.w.N.).
Hogg weist darauf hin, dass eine direkte Zuweisung von Geld dem Bund eine erhöhte Kontrolle über die Einhaltung der Arrangements gibt, da dieses – im Gegensatz zu den Steuersenkungen – zurückgehalten werden kann. Dies stelle die einzig mögliche Sanktion i.S.d. Prinzips do ut des dar, Hogg, Constitutional law, S. 168.
492 Smiley, Constitutional Adaptation and Canadian Federalism since 1945 – Documents of the
Royal Commission on Bilingualism and Biculturalism, S. 73.
139
Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Diese zum Teil auch als interim arrangements bezeichneten Abkommen wurden bis heute nie in der Verfassung formalisiert.
Zwei dahingehende Versuche schlugen fehl: der Meech Lake Accord von 1987 und
der Charlottetown Accord von 1992 scheiterten beide am Widerstand Québecs, dem
die Zugeständnisse jeweils nicht weit genug gingen.493 Der Meech Lake Accord
schlug eine Erweiterung des Prinzips der Kompensationsleistungen für den Fall des
Gebrauchmachens von der opting out Regelung vor. Ein neu zu schaffender Abschnitt 106A494 des Constitution Act, 1867 sah eine finanzielle Kompensation des
Bundes an die ausscherende Provinz für sämtliche gegenwärtigen und zukünftigen
shared cost programmes vor.495 Die Leistung sollte allerdings davon abhängig sein,
dass die betreffende Provinz ein eigenes vergleichbares Programm ausführt.496 Der
ebenfalls gescheiterte Charlottetown Accord wollte bei gleicher Zielsetzung außerdem die Kompensationsleistungen im Falle eines Ausscherens im Rahmen des
amending-Verfahrens auf sämtliche Bereiche ausweiten (statt wie bisher nur für die
Bereiche Bildung und Kultur).
Von der Möglichkeit zum opting out machte von Anfang an (bis zum heutigen
Tag) nur die Provinz Québec Gebrauch. Anfang bis Mitte der sechziger Jahre, während der Regierungszeit Jean Lesages als Premierminister der Provinz Québec, wurde von dem Instrument rege Gebrauch gemacht. Québec zog sich damals aus 29 der
45 gemeinsamen Programme zurück und behielt annähernd die Hälfte der Einnahmen aus der Einkommensteuer, die eigentlich eine Bundessteuer ist.497 Die Einräumung dieser weiträumigen Rechte und deren alleinige Wahrnehmung durch Québec
wurden dementsprechend oft mit dem Hinweis kritisiert, der frankophonen Provinz
werde so einen Sonderstatus eingeräumt. Der Bundesgesetzgeber verteidigte die
Abkommen hingegen mit dem Argument, dies demonstriere die Fähigkeit des Bundes, auf die Bedürfnisse Québecs einzugehen.
Der Established Programmes Act war der Wegbereiter für daran anknüpfende
Regelungen durch das Established Programmes Financing im Jahre 1977 für den
Bereich der Staatsfinanzierung. Sämtliche shared-cost programmes waren dann von
1996 bis 2004 im Canada Health and Social Transfer (CHST) zusammengefasst,
der die alljährlichen Transferleistungen des Bundes an die Provinzen für die Berei-
493 Siehe dazu Hogg, Constitutional Law, S. 65 ff. Für einen Überblick über den Meech Lake
Accord mit historischer Perspektive, siehe Brown-John, in: Burgess, Canadian Federalism, S.
176 ff. Einblick in die Rollen der politischen Akteure bei Simeon/Robinson, State, Society,
Development, S. 319 ff.
494 „106A(1). The Government of Canada shall provide reasonable compensation to the government of a province that chooses not to participate in a national shared cost program that is
established by the Government of Canada after the coming force of this section in an area of
exclusive provincial jurisdiction, if the province carries on a program or initiative that is
compatible with the national objectives.”
495 Smith, in: Bakvis/Skogstad, Canadian Federalism, S. 39 (S. 53 f.).
496 Smith, in: Bakvis/Skogstad, Canadian Federalism, S. 39 (51).
497 Kempf/Reuter, in: Kanada, Wirtschaft, Gesellschaft, Politik in den Provinzen, S. 87 (S. 110);
Bothe, Kompetenzstruktur, S. 248.
140
che Gesundheitswesen, universitäre Ausbildung und Sozialleistungen umfasste.498
Seit dem 01. April 2004 ist der CHST in den Canada Health Transfer und den Canada Social Transfer aufgeteilt, in der Bemühung, eine erhöhte Transparenz und Zurechenbarkeit der Geldflüsse zu gewährleisten. Neben dem Namen hat sich gegenüber dem Established Programmes Act auch die Bemessungsbasis für die kompensatorischen Bundeszuweisungen verändert. Während dort der Bund die Hälfte der tatsächlich entstandenen Ausgaben übernahm, erfolgt seit dem CHST eine feste Zuweisung an die ausscherende Provinz, deren Umfang an einem vorab prognostizierten Aufwand bemessen wird.499 Die Kompensationsleistung erfolgt jedoch nach wie
vor in Form von direkten Geldzuweisungen oder von Besteuerungsfreiräumen für
die Provinzen. Eine Entspannung der Vorgaben für die Provinzen im Rahmen der
federal provincial shared cost programmes fand mit der Handhabung des CHST insofern statt, als nunmehr explizit die Teilhabe der Provinzen an der Festlegung landesweiter Zielvorgaben und Standards für die Durchführung der gemeinsamen Programme vorgesehen wurde.500 Dies bedeutete gleichzeitig die Ankündigung eines
Rückzuges des Bundes aus der exklusiven Vorgabe der für die Umsetzung der federal provincial shared cost programmes geltenden Umsetzungsrichtlinien.
Zunehmend verloren die opting-out-Regelungen an Bedeutung im Jahre 1999 mit
der Übereinkunft des Bundes mit sämtlichen Provinzen außer Québec im Social
Union Framework Agreement (SUFA).501 Dieses sah vor, dass in jedweder neuen
landesweiten Initiative, die sich mit Fragen der Gesundheit, Bildung oder des Sozialwesens befasst, jede Provinz ihren Anteil an den Bundeszuweisungen erhält. Dies
solle unabhängig von der Übernahme der vom Bund vorgeschlagenen Modellausgestaltung sein. Die einzig dahingehende Bedingung für den Erhalt der Zuweisungen ist hiernach die Zusage der Provinzen, bei der entsprechenden Regelung auf die
Verwirklichung zuvor ausgehandelter landesweiter Ziele und Standards hinzuarbeiten.502 Von Seiten des Bundes bedeutet dies eine mehr kooperative Handhabung des
Instruments der conditional grants gegenüber den ursprünglichen shared cost programmes. Die Entscheidung zum opting out aus gemeinsamen Programmen von
Bund und Provinzen hat seitdem praktisch nur noch für die Provinz Québec und
auch für diese nur noch in Bezug auf die Art und Weise der Bezuschussung Bedeutung.503
498 Der CHST konsolidierte im Jahre 1996 die beiden großen shared-cost Programme des Established Programs Financing und des Canada Assistance Plan. Der Umfang der Zuschüsse
bemaß sich dort noch nach den tatsächlich entstandenen Kosten und betrug 50 Prozent der
Ausgaben. Ein tabellarischer Überblick über den Umfang der Bundeszuschüsse durch den
CHST für das Jahr 1998 findet sich bei Maioni, in: Bakvis/Skogstad, Canadian Federalism, S.
87 (S. 93); siehe auch Broschek/Schultze, Föderalismus in Kanada, in: Jahrbuch des Föderalismus 2003, S. 333 (S. 361).
499 Hogg, Constitutional law, S. 177 unten.
500 Budget Implementation Act, 1995, S.C. 1995, c. 17.
501 Überblick bei Smith, in: Bakvis/Skogstad, Canadian Federalism, S. 39 (S. 50 ff.).
502 Hogg, Constitutional law, S. 167 f.
503 Hogg, Constitutional law, S. 169.
141
Aus Sicht der Provinzen sahen sich die opting-out-Arrangements stets dem Vorwurf ausgesetzt, wirkliche Neuerungen in der Gestaltung der gemeinsamen Programme zu hemmen. Ein ausscherender Gliedstaat sei bei laufenden Programmen dazu verpflichtet, diese ohne signifikante Änderungen fortzuführen beziehungsweise
vergleichbare Modelle bei neu geschaffenen Programmen einzuführen, wenn er
nicht die Bundeszuschüsse verlieren wolle. Angesichts des Eingehens des Bundes
auf die Wünsche der Provinzen (vor allem Québecs) nach gesteigerter Autonomie
im Bereich der gemeinsamen Programme und der damit verbundenen Erleichterung
zum Gehen eigener Wege, zeigte sich der Effekt des opting out außerdem nur noch
in einer Festigung der Ausführungsverantwortung bei den Provinzen.504 Eine alternative Handhabung des opting out, die sich diesen Vorwürfen nicht ausgesetzt sähe,
wäre die nach Art des Diskussionsvorschlages von Trudeau aus dem Jahre 1969.505
Er legte damals für zukünftige Programme eine Vorgehensweise nahe, nach der der
Bund eine echte opting out Möglichkeit in dem Sinne anbietet, als dass er den ausscherenden Provinzen die Kompensationszahlungen unabhängig davon gewährt, ob
diese seine Vorstellungen in vergleichbarer Weise umsetzen oder nicht. Die optingout-Provinzen hätten dann denselben Betrag an Bundesmitteln zur Verfügung, als
wenn sie regulär an dem Programm teilnähmen. Diesen könnten sie dann nach eigenem Gusto verwenden. Der offensichtliche Nachteil dieser Lösung liegt aber darin,
dass sie den Reiz für die Provinzen, an einem gemeinsamen Programm regulär teil
zu nehmen, eliminiert, wodurch gleichzeitig auch für den Bund wenig Veranlassung
bestünde, die Mittel überhaupt anzubieten.
3. Override power in der kanadischen Charter of Rights and Freedoms
Der Canada Act 1982 führte eine weitere Möglichkeit für die Provinzen ein, gegenüber bundesrechtlichen Vorgaben eigene Wege zu gehen. Der Schedule B des Canada Act 1982 hat auch den Namen Constitution Act, 1982 und enthält gleich eingangs die kanadische Charta der Rechte und Freiheiten (Charter of Rights and Freedoms). Sie gewährt fundamentale Rechte und Freiheiten, wie etwa die Religions-,
Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, sowie Wahl- und Gleichheitsrechte. Grundlegende Bürgerrechte waren bereits zuvor durch die kanadische Bill of Rights eingeräumt, die 1960 in Form einfachen Bundesrechts erlassen wurde. Diese verlor allerdings durch die Verfassungsreform von 1982 den Großteil ihrer Bedeutung, da die
meisten Rechte und Freiheiten, die vormals in der Bill of Rights enthalten waren,
nun von der Charta der Rechte und Freiheiten abgedeckt werden. Die Bill of Rights
war dabei auch nur auf Bundes-, nicht aber auf Provinzrecht anwendbar. Die Ausdehnung ihres Einflusses auf die Provinzen hätte eines Zusatzes zur Verfassung bedurft. Hoheitliches Handeln der Provinzen – auch deren Regelungen in den Feldern
konkurrierender Gesetzgebung –, das mit den in der Bill of Rights gewährten Rech-
504 Hogg, Constitutional law, S. 169.
505 Trudeau, Federal-Provincial Grants and the Spending Power of Parliament, S. 36.
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ten nicht im Einklang stand, war also nicht abgedeckt.506 Durch die Charta der Rechte und Freiheiten wurde ein nationaler Standard im Hinblick auf den Schutz der
Bürgerrechte eingeführt, der zwar dem nationalen Parlament keine zusätzlichen Befugnisse gegenüber den Provinzparlamenten gibt, jedoch beide Ebenen gleicherma-
ßen bindet und somit auf subtile Weise uniformierend wirkt. Abschnitt 33 der Charta regelt jedoch die Möglichkeit der gesetzgebenden Gewalt, in einem Gesetz ausdrücklich zu erklären, dass dieses abweichend von einer oder mehreren Bestimmungen der Charta gelten soll. Auf diese Weise können die Abschnitte 2 (Grundfreiheiten), 7 bis 14 (Freiheitsrechte) und 15 (Gleichheitsrechte) der Charta für das betreffende Gesetz außer Kraft gesetzt werden:
33(1). Parliament or the legislature of a province may expressly declare in an Act of Parliament or of the legislature, as the case may be, that the Act or a provision thereof shall operate
notwithstanding a provision included in section 2 or sections 7 to 15 of this Charter.
33(2). An Act or a provision of an Act in respect of which a declaration made under this section is in effect shall have such operation as it would have but for the provision of this Charter
referred to in the declaration.
33(3). A declaration made under subsection (1) shall cease to have effect five years after it
comes into force or on such earlier date as may be specified in the declaration.
33(4). Parliament or the legislature of a province may re-enact a declaration made under subsection (1).
33(5). Subsection (3) applies in respect of a re-enactment made under subsection (4).
Diese Möglichkeit zur Verwendung sogenannter notwithstanding clauses507, auch
override power508 genannt, steht also nicht nur dem Bundesparlament, sondern auch
den Provinzparlamenten offen. Eine Begründunglast dahingehend, weshalb von den
Bestimmungen der Charta abgewichen werden soll, trifft die Gesetzgeber dabei
nicht.509 Im Gegensatz zum opting out, das sich auf Sachgebiete bezieht, die nach
dem Abschnitt 92 des Constitution Act, 1867 ohnehin der (eigentlich) exklusiven
Gesetzgebungskompetenz der Provinzen zuzurechnen sind, eröffnet Abschnitt 33
des Constitution Act, 1982 den Provinzen also die Möglichkeit, die Geltung von
Bundesverfassungsrecht (in Form der Charta der Rechte und Freiheiten) in einem
festgelegten Ausmaß auszuschließen. Die Geltungsdauer solch einer Bestimmung ist
auf maximal fünf Jahre beschränkt,510 kann aber durch eine erneute Verabschiedungen jeweils wieder um fünf Jahre verlängert werden.511
506 Hogg, Constitutional law, S. 729. Die Provinzen konnten jedoch eigene Bills of Rights erlassen. Dies taten beispielsweise Alberta, Québec und Saskatchewan.
507 Notwithstanding clause (eng.) = Abweichungsklausel.
508 (to) override (eng.) = aufheben, außer Kraft setzen.
509 Funston/Meehan, Canada’s constitutional law, S. 209.
510 Abschnitt 33 (3) der Charta der Rechte und Freiheiten (Constitution Act, 1982).
511 Abschnitt 33 (4) und (5) der Charta der Rechte und Freiheiten (Constitution Act, 1982).
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Seit der Geltung der Charta wurde von der override power nur in vier512 Fällen
Gebrauch gemacht: Die Provinz Saskatchewan nutzte eine Abweichungsklausel, um
das Streikrecht der Beamten einzuschränken.513 Die Provinz Alberta schloss mit Hilfe einer notwithstanding clause gleichgeschlechtliche Ehen aus.514 Weiter ging die
Provinz Québec, die gleich nach In-Kraft-Treten der Charta sogar seine sämtlichen
Gesetze durch einen Blankoerlass mit einer Abweichungsklausel versah.515 Québec,
das der Charta nie seine ausdrückliche Zustimmung gab, wollte damit seinen Protest
gegenüber der bundesseitigen Einflussnahme kundtun. Zusätzlich wurde jedem neuen in Québec verabschiedeten Gesetz eine Standard-notwithstanding clause beigefügt, was jedoch Ende 1985 wieder eingestellt wurde. Nach dem Ablauf der Fünf-
Jahres-Frist wurde auch der Act respecting the Constitution Act, 1982 nicht um weitere fünf Jahre erneuert.516 Das vierte Beispiel des Gebrauchs der override power
lieferte ebenfalls Québec mit dem Verbot der Verwendung der englischen Sprache
im Geschäftsverkehr.517 An Hand der sich daraus entwickelnden Kontroverse mit
dem Supreme Court,518 der das Gesetz als Verletzung der freien Meinungsäußerung
ansah, lässt sich auch illustrieren, dass durch schlichten Wiedererlass des Gesetzes
die Kassation des Gerichts überwunden werden kann. Die simple neuerliche Inanspruchnahme des Abschnittes 33 durch eine Provinz entspricht also einem Recht des
letzten Wortes der Parlamente gegenüber der Judikative.519 Als die Abweichungsklausel des besagten Gesetzes im Jahre 1993 auslief, wurde sie nicht wieder erneuert. Québec ersetzte sie stattdessen durch die Vorgabe, dass die französische
Sprache im Geschäftsverkehr vorherrschend sein solle.
III. Zusammenfassung und Bewertung
Die kanadische Kompetenzordnung zeichnet sich durch eine weitgehende Trennung
der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Gliedstaaten aus. Beiden Rechtssetzungsebenen sind überwiegend exklusive Zuständigkeiten gegeben, die sich allerdings teilweise überschneiden können. Dies ist das Ergebnis der double aspect doctrine, nach der ein zu regelnder Sachverhalt die Zuständigkeit sowohl des Bundes, als
auch der Provinzen betreffen kann. In diesem Fall ist dann mit der pith and substance doctrine danach zu fragen, in welchem Kompetenzaspekt des Gesetzes der
Schwerpunkt zu sehen ist. Die Regelungsebene, die über die überwiegend betroffene
512 Ein Gesetz des Yukon Territoriums nutzte ebenfalls Abschnitt 33, trat aber nie in Kraft und
wird daher nicht mitgerechnet, Land Planning and Development Act, S.Y. 1982, c. 22, S. 39.
513 The SGEU Dispute Settlement Act, S.S. 1984-1985-1986, c. 111, S. 9.
514 Marriage Amendment Act, S.A. 2000, c. 3, S. 5.
515 An Act respecting the Constitution Act, 1982, S.Q. 1982, c. 21. Siehe Funston/Meehan, Canada’s constitutional law, S. 208 (m.w.N.).
516 Hogg, Constitutional law, S. 879.
517 An Act to amend the Charter of the French language, S.Q. 1988, c. 54.
518 Ford v. Québec [1988] 2 S.C.R. 712.
519 Hogg, Constitutional law, S. 751.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit der 2006 in Kraft getretenen „Föderalismusreform I“ ist es den Ländern im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung möglich, Regelungen zu erlassen, die Bundesgesetzen widersprechen. Neben den Fragen die durch diese Neuerungen aufgeworfen werden, analysiert der Autor die Möglichkeiten und Grenzen des Modells sowie mit einem Blick ins Ausland ähnliche Konzepte. Er gelangt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der bundesdeutschen Kompetenzsystematik durch die erhöhte Bewegungsfreiheit der Länder, Elemente eines lernenden Föderalismus hinzugefügt werden und leistet hiermit einen Beitrag zu der Diskussion um das Abweichungsmodell, die sich bisher noch auf keinen reichhaltigen Erfahrungsschatz beziehen kann.