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II. Methode der Untersuchung
Die rechtsvergleichende Wissenschaft kann als Makro- und als Mikrovergleichung
betrieben werden. Während sich erstere mit Rechtskreisen und Rechtssystemen im
Ganzen befasst, wird durch die Mikrovergleichung nur eine Untersuchung spezieller
Rechtsnormen und –institute geleistet.421 Für das vorliegende Vergleichsvorhaben
kann eine Makrovergleichung nicht geleistet werden. Sie wäre auch nicht adäquat.
Es werden lediglich die dem deutschen Abweichungsrecht der Länder ähnlichen
Rechtsinstitute anderer Bundesstaaten422 im Rahmen einer Mikrovergleichung dargestellt. Selbstverständlich muss, wo dies für das Verständnis des Kontextes notwendig ist, auch auf Zusammenhänge mit dem jeweiligen Rechtskreis und den jeweiligen sozial-kulturellen Gegebenheiten hingewiesen werden,423 denn Recht bezieht sich auf die zu ordnende Wirklichkeit, die wiederum an der Konstitution des
Rechts beteiligt ist und daher nicht außer Acht gelassen werden darf.424 Vor allem
beim Vergleich verschiedener Verfassungen oder ihrer einzelnen Institute ist die Beleuchtung der sie prägenden kulturellen Umstände erforderlich, da Verfassungen
schon an sich, sei es in Teilen oder im Ganzen, ein Stück Kultur sind.425 Hier bietet
sich ein Vorgehen nach der funktionellen Methode der Rechtsvergleichung an, das
heißt: ausgehend von konkreten sozialen Phänomenen, anstatt von bestimmten
Normen.426 Es wird also untersucht, mit welchen dem deutschen Abweichungsrecht
verwandten Mitteln die verschiedenen Rechtssysteme versuchen, die Eigenstaatlichkeit der Gliedstaaten im Allgemeinen und die Nachhaltigkeit der Länderkompetenzen im Besonderen zu erhalten. Besonderes Augenmerk soll dabei auf die folgenden
Vergleichsgegenstände gelegt werden: Welche Rechtsinstitute wurden jeweils eingerichtet, um den Gliedstaaten eine Rechtssetzung auf Gebieten zu ermöglichen, die
auch vom Gesamtstaat bedient werden können und welche Mechanismen wurden
erdacht, damit sich dieses Gliedstaatenrecht gegen das Recht des Gesamtstaates
durchsetzen kann? Wie sind diese Mechanismen in Quantität und Qualität beschaffen? Bestehen Möglichkeit für das Gliedstaatenrecht, sich gegenüber dem Recht des
Gesamtstaates zu behaupten? Besteht diese Möglichkeit nur für bestimmte Sachgebiete oder ist sie möglicherweise durch Einspruchsrechte, Fristen oder ähnliches beschränkt? Letztlich interessieren auch eventuell existente Kollisionsregelungen, die
421 Sommermann, DÖV 1999, 1017 (1017); Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, S.
31; Starck, JZ 1997, 1021 (1026).
422 Zu den Besonderheiten bei der Vergleichung föderal verfasster Staatsgebilde, siehe Saunders,
Comparing federal constitutions, in: Grote/Härtel, Die Ordnung der Freiheit, S. 937 (S. 944
ff.).
423 Zum Umstand, dass die Mikrovergleichung zumeist Makrovergleichung voraussetzt, die erst
das normative und soziale Geflecht als Ganzes enthüllt, siehe Starck, JZ 1997, 1021 (1026);
Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 31 ff.
424 So warnte schon Rudolf v. Gneist vor einer leichtfertigen Übernahme fremden Rechts ohne
Prüfung des anderen historisch-sozialen Milieus, siehe Starck, JZ 97, 1021 (1023) (m.w.N.).
425 Darauf wurde in der jüngeren Vergangenheit hingewiesen von Häberle, ZöR 2007, 39 (41).
426 Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 33; Starck, JZ 1997, 1021 (1028).
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Widersprüche divergierenden Rechts der beiden in bestimmten Gebieten omnipotent
mit Gesetzgebungsbefugnissen ausgestatteten Regelungsebenen durch Vermeidung
oder Bereinigung von Kollisionslagen auflösen können.
B. Kanada
I. Die Legislative in der kanadischen Verfassung
1. Historisch-kultureller Hintergrund
Kanada ist auf der Grundlage seiner Verfassung von 1982 ein Bundesstaat mit zehn
Provinzen und drei Territorien. Die Provinzen bestanden schon vor der staatspolitischen Einigung Kanadas. Das föderalistische Prinzip stellte daher einen notwendigen Kompromiss bei den Einigungsprozessen dar, die letztlich in den British North
American Act von 1876 mündeten. Dieser regelt die Verteilung der Machtverhältnisse zwischen den Provinzen und dem Bund.427 Insgesamt hat sich Kanada zu einem
der mittlerweile am stärksten föderalisierten Bundesstaaten der Welt entwickelt.428
Der kanadische Bundesstaat besitzt eine parlamentarische Regierungsform, wobei
aber der britische Monarch als Staatsoberhaupt anerkannt wird.429 Das Rechtsdenken
in Kanada ist geprägt von der anglo-amerikanischen Rechtsquellenlehre, die sich
durch ein teilweise kompliziertes Verhältnis von Gesetzesrecht und Fallrecht auszeichnet. Das nationale Parlament und die Provinzparlamente können im Rahmen
der ihnen von der Verfassung zugewiesenen Gesetzgebungskompetenzen geschriebenes Recht erlassen, das sogenannte Statute Law.430 Die Doktrin der parlamentarischen Souveränität entfaltet dabei als Ausfluss einer Art einfachen Kollisionsrechts
nicht nur Wirkung gegenüber den älteren geschriebenen Rechtssätzen, die mit den
neueren Gesetzen nicht im Einklang stehen,431 es greift auch über in den Bereich des
Common Law432, indem es an die Stelle sämtlicher älterer Entscheidungen tritt, die
427 Nassmacher, in: Kanada, Wirtschaft, Gesellschaft, Politik in den Provinzen, S. 1 (S. 10).
428 Die kanadischen Gründerväter hatten dabei einen unitarischen Bundesstaat im Sinne. Ironischerweise kann der kanadische Bundesstaat heutzutage als einer der dezentralsten der Welt
bezeichnet werden, siehe Wiltshire, in: Hodgins/Eddy, Federalism in Canada and Australia, S.
181 ( S. 197). Die Entwicklungslinien sind nachgezeichnet bei Broschek/Schultze, Föderalismus in Kanada, in: Jahrbuch des Föderalismus 2003, S. 333 (S. 336 ff.).
429 Dieser wird auf Bundesebene durch den Generalgouverneur, auf der Ebene der Provinzen
durch die Provinzgouverneure vertreten.
430 Handschug, Einführung in das kanadische Recht, Rn. 20.
431 Hogg, Constitutional law of Canada, S. 306; Funston/Meehan, Canada’s constitutional law,
S. 128.
432 In diesem rechtsquellenbezogenen Zusammenhang bezeichnet Common Law das Fallrecht,
das immer dann entsteht, wenn ein Richter in einem Präzedenzfall eine Entscheidung trifft,
die dann in nachfolgenden Rechtsstreitigkeiten, die sich mit ähnlich gelagerten Fällen beschäftigen, als Richtlinie dient. In Abgrenzung davon bezeichnet das Statute Law das geschriebene Gesetzesrecht. Andere Verwendungen für den Begriff des Common Law liegen
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References
Zusammenfassung
Seit der 2006 in Kraft getretenen „Föderalismusreform I“ ist es den Ländern im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung möglich, Regelungen zu erlassen, die Bundesgesetzen widersprechen. Neben den Fragen die durch diese Neuerungen aufgeworfen werden, analysiert der Autor die Möglichkeiten und Grenzen des Modells sowie mit einem Blick ins Ausland ähnliche Konzepte. Er gelangt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der bundesdeutschen Kompetenzsystematik durch die erhöhte Bewegungsfreiheit der Länder, Elemente eines lernenden Föderalismus hinzugefügt werden und leistet hiermit einen Beitrag zu der Diskussion um das Abweichungsmodell, die sich bisher noch auf keinen reichhaltigen Erfahrungsschatz beziehen kann.