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Kapitel 3: Parallelen in anderen Bundesstaaten
A. Vorbemerkungen
I. Ziel der Untersuchung
Die im deutschen Grundgesetz seit dem 01. September 2006 neu verankerten Möglichkeiten für die Länder, durch die Abweichungsgesetzgebung eigene gesetzgeberische Wege zu gehen und sich hierdurch gegenüber Bundesnormen durchzusetzen,
die andere Vorgaben machen, sind in der deutschen Verfassungsgeschichte ohne
Beispiel. Die fehlende Möglichkeit zur Ziehung von Parallelen im verfassungshistorischen Kontext wirft die Frage auf, ob auch andere föderal organisierte Staatswesen
Rechtsinstitute entwickelt haben, die dem der Abweichungsgesetzgebung in Funktion und Umfang nahe kommen. Solche Ähnlichkeiten müssen dabei nicht unbedingt
in Form einer expliziten Befugnis zur Durchbrechung von gesamtstaatlichem Recht
bestehen, sondern können beispielsweise auch in Form spezieller Kollisionsregelungen gegossen sein. Solche Mechanismen, die den Gliedstaaten in Bezug auf die Gesetzgebungskompetenzen mehr Spielraum gegenüber dem Gesamtstaat einräumen,
sind vor allem im kanadischen Bundesstaat zu finden. Es lassen sich auch beim
Grenznachbarn Österreich, der über ein ähnlich stark unitarisiertes bundesstaatliches
Gefüge wie Deutschland verfügt, Parallelen zu den Rechtsfolgen der deutschen Abweichungsgesetzgebung entdecken. Für das heimische Rechtssystem kann in der
Gesetzgebung anderer Staaten, trotz unterschiedlicher Kulturen und Rechtssysteme,
ein „Vorrat an Lösungen“418 oder Lösungsansätzen gesehen werden.419 Die Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht kann dabei den Blick für das heimische Rechtssystem schärfen, sowie deren Unzulänglichkeiten, Widersprüche und mögliche Entwicklungstendenzen besser erkennbar machen.420 Hier interessiert nun vor allem,
inwiefern die zum Vergleich herangezogenen Rechtsordnungen Rechtsinstitute entwickelt haben, die der deutschen Abweichungsgesetzgebung der Länder ähneln,
welchen Umfang diese haben, welche Folgen sich aus ihnen ergeben und wie sich
diese in die jeweilige Rechtsordnung einfügen.
418 Starck, JZ 1997, 1021 (1024).
419 Von diesem Arbeitsansatz ging man beispielsweise auch bei der Bertelsmann-Kommission
„Entflechtung 2005 - Verfassungspolitik und Regierungsfähigkeit“ aus, siehe im Bericht der
Kommission: Arndt/Benda/Weidenfeld, Neuordnung, S. 17.
420 Siehe dazu Venter, Constitutional comparison, S. 256 f.
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II. Methode der Untersuchung
Die rechtsvergleichende Wissenschaft kann als Makro- und als Mikrovergleichung
betrieben werden. Während sich erstere mit Rechtskreisen und Rechtssystemen im
Ganzen befasst, wird durch die Mikrovergleichung nur eine Untersuchung spezieller
Rechtsnormen und –institute geleistet.421 Für das vorliegende Vergleichsvorhaben
kann eine Makrovergleichung nicht geleistet werden. Sie wäre auch nicht adäquat.
Es werden lediglich die dem deutschen Abweichungsrecht der Länder ähnlichen
Rechtsinstitute anderer Bundesstaaten422 im Rahmen einer Mikrovergleichung dargestellt. Selbstverständlich muss, wo dies für das Verständnis des Kontextes notwendig ist, auch auf Zusammenhänge mit dem jeweiligen Rechtskreis und den jeweiligen sozial-kulturellen Gegebenheiten hingewiesen werden,423 denn Recht bezieht sich auf die zu ordnende Wirklichkeit, die wiederum an der Konstitution des
Rechts beteiligt ist und daher nicht außer Acht gelassen werden darf.424 Vor allem
beim Vergleich verschiedener Verfassungen oder ihrer einzelnen Institute ist die Beleuchtung der sie prägenden kulturellen Umstände erforderlich, da Verfassungen
schon an sich, sei es in Teilen oder im Ganzen, ein Stück Kultur sind.425 Hier bietet
sich ein Vorgehen nach der funktionellen Methode der Rechtsvergleichung an, das
heißt: ausgehend von konkreten sozialen Phänomenen, anstatt von bestimmten
Normen.426 Es wird also untersucht, mit welchen dem deutschen Abweichungsrecht
verwandten Mitteln die verschiedenen Rechtssysteme versuchen, die Eigenstaatlichkeit der Gliedstaaten im Allgemeinen und die Nachhaltigkeit der Länderkompetenzen im Besonderen zu erhalten. Besonderes Augenmerk soll dabei auf die folgenden
Vergleichsgegenstände gelegt werden: Welche Rechtsinstitute wurden jeweils eingerichtet, um den Gliedstaaten eine Rechtssetzung auf Gebieten zu ermöglichen, die
auch vom Gesamtstaat bedient werden können und welche Mechanismen wurden
erdacht, damit sich dieses Gliedstaatenrecht gegen das Recht des Gesamtstaates
durchsetzen kann? Wie sind diese Mechanismen in Quantität und Qualität beschaffen? Bestehen Möglichkeit für das Gliedstaatenrecht, sich gegenüber dem Recht des
Gesamtstaates zu behaupten? Besteht diese Möglichkeit nur für bestimmte Sachgebiete oder ist sie möglicherweise durch Einspruchsrechte, Fristen oder ähnliches beschränkt? Letztlich interessieren auch eventuell existente Kollisionsregelungen, die
421 Sommermann, DÖV 1999, 1017 (1017); Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, S.
31; Starck, JZ 1997, 1021 (1026).
422 Zu den Besonderheiten bei der Vergleichung föderal verfasster Staatsgebilde, siehe Saunders,
Comparing federal constitutions, in: Grote/Härtel, Die Ordnung der Freiheit, S. 937 (S. 944
ff.).
423 Zum Umstand, dass die Mikrovergleichung zumeist Makrovergleichung voraussetzt, die erst
das normative und soziale Geflecht als Ganzes enthüllt, siehe Starck, JZ 1997, 1021 (1026);
Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 31 ff.
424 So warnte schon Rudolf v. Gneist vor einer leichtfertigen Übernahme fremden Rechts ohne
Prüfung des anderen historisch-sozialen Milieus, siehe Starck, JZ 97, 1021 (1023) (m.w.N.).
425 Darauf wurde in der jüngeren Vergangenheit hingewiesen von Häberle, ZöR 2007, 39 (41).
426 Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 33; Starck, JZ 1997, 1021 (1028).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit der 2006 in Kraft getretenen „Föderalismusreform I“ ist es den Ländern im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung möglich, Regelungen zu erlassen, die Bundesgesetzen widersprechen. Neben den Fragen die durch diese Neuerungen aufgeworfen werden, analysiert der Autor die Möglichkeiten und Grenzen des Modells sowie mit einem Blick ins Ausland ähnliche Konzepte. Er gelangt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der bundesdeutschen Kompetenzsystematik durch die erhöhte Bewegungsfreiheit der Länder, Elemente eines lernenden Föderalismus hinzugefügt werden und leistet hiermit einen Beitrag zu der Diskussion um das Abweichungsmodell, die sich bisher noch auf keinen reichhaltigen Erfahrungsschatz beziehen kann.