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E. Die Abweichungsoption innerhalb der Verwaltungskompetenzen
I. Normsetzung gemäß Art. 84 Abs. 1 GG nach der Reform 2006
Art. 84 Abs. 1 GG verteilt die Gesetzgebungskompetenz auf Bund und Gliedstaaten
in einer Weise, die sich in die Systematik der ausschließlichen und konkurrierenden
Gesetzgebung im Sinne des Art. 70 Abs. 2 GG einfügt: Die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes ordnet dem Bund die unbedingte Rechtssetzungsgewalt ein, wobei die Länder entsprechend von der Rechtssetzung (bedingt durch die Möglichkeit
der einfachgesetzlichen Ermächtigung durch den Bund) ausgeschlossen sind. Die
konkurrierende Gesetzgebung bezeichnet dagegen eine Zuordnung der Gesetzgebungskompetenz zu einer Rechtssetzungsebene, die jedoch tatbestandlich durch Befugnisse der anderen Regelungsebene bedingt ist. Im Sinne des VII. Abschnittes des
Grundgesetzes, ist diese konkurrierende Gesetzgebungskompetenz den Ländern zugewiesen341 und durch Ausnahmen zugunsten einer Bundeskompetenz auf diesem
Gebiet bedingt (Art. 72 Abs. 1 GG). In diesem Sinne stellt die Gesetzgebungskompetenz nach den Art. 83, 84 GG eine konkurrierende Kompetenzregelung dar, die
den Grundsatz der Länderzuständigkeit statuiert (Art. 83, 84 Abs. 1 S. 1 GG) und
von diesem Ausnahmen zugunsten einer Bundeszuständigkeit vorsieht (siehe Art. 84
Abs. 1 S. 2 und 5 GG).
Die ländereigene Ausführung der Bundesgesetze nach Art. 83, 84 GG stellt den
Regelfall innerhalb der Verwaltungskompetenzen dar.342 Eine Kompetenz zur Ausführung von Bundesgesetzen hat der Bund nur dann, wenn sie ihm zugewiesen wurde. Der unbenannte Rest liegt bei den Ländern; diese haben also die Residualkompetenz.343 Dabei können die Länder grundsätzlich die Behördenorganisation und das
Vollzugsverfahren selbst regeln. An dieser grundsätzlichen Ausgestaltung wurde
durch das 52. Änderungsgesetz zum Grundgesetz nichts geändert. Die vor der Verfassungsreform 2006 geltende Fassung des Art. 84 Abs. 1 GG sah vor, dass die Länder im Falle des landeseigenen Vollzugs von Bundesgesetzen die Einrichtungen der
Behörden und das Verwaltungsverfahren regeln, soweit nicht Bundesgesetze mit der
Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmen. Auf den zweiten Halbsatz
dieser Regelung, zusammen mit der durch das Bundesverfassungsgericht entwickelten Einheitsthese344 ging die Zustimmungsbedürftigkeit von schätzungsweise 60
341 Insofern falsch ist die Behauptung, die konkurrierende Gesetzgebung i.S.d. Art. 72 Abs. 2
GG bezeichne eine tatbestandlich bedingte Zuordnung zum Bund, während die Gesetzgebungskompetenz der Länder nicht von vornherein ausgeschlossen sei, siehe Germann, in:
Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 84, Rn. 34. Diese Deutung verkennt zweifellos die
Bedeutung der Art. 30, 70 Abs. 1 GG, wonach die Gesetzgebungskompetenz der Länder den
Grundsatz darstellt.
342 Dittmann, in: Sachs, GG, Art. 84, Rn. 1.
343 Dietsche/Hinterseh, in: Borchard/Margedant, Der deutsche Föderalismus im Reformprozess,
S. 11 (S. 13).
344 Das Bundesverfassungsgericht vertrat in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass nicht
die einzelne, eine Zustimmungspflicht begründende Organisations- oder Verfahrensnorm,
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Prozent der Bundesgesetze zurück, da diese Regelungen über die Organisation und
das Verfahren der Landesverwaltung enthielten.345 Diese anteilige Masse an zustimmungspflichtigen Gesetzen war von den Müttern und Vätern der Verfassung
nicht beabsichtigt. Im Parlamentarischen Rat war man davon ausgegangen, dass die
Zustimmungsvorschrift lediglich zehn bis fünfzehn Prozent aller Gesetze betreffen
würde.346 Daher ging das durch das 52. ÄndG zum Grundgesetz umgesetzte Reformanliegen dahin, den Ländern auch weiterhin die Regelung der Ausgestaltung
der Organisation der Behörden und des Verwaltungsverfahrens zu ermöglichen.347
Der Bund kann nun immer noch Verfahrens- und Organisationsregelungen erlassen
und ist dabei sogar vom Zustimmungserfordernis durch den Bundesrat befreit. Allerdings ist es den Ländern nun nach Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG erlaubt, in diesem
Fall hiervon abweichende Regelungen zu erlassen. Zur Vermeidung einer solchen
Abweichung durch die Länder ist dem Bund allerdings nach Art. 84 Abs. 1 S. 5 GG
das Recht eingeräumt, in Ausnahmefällen eine abweichende Regelung durch die
Länder auszuschließen. Dieser Ausschluss ist allerdings nach Art. 84 Abs. 1 S. 6 GG
an die Zustimmung durch den Bundesrat gebunden und ist auf den Bereich der Regelung des Verwaltungsverfahrens348 beschränkt. Eine Schranke für die Art und
Weise der Inanspruchnahme der Regelungsbefugnis nach Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 1
GG durch den Bund stellt schließlich Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG dar, der ein Durchgriffsverbot auf die kommunale Ebene vorsieht und somit die kommunale Ebene aus organisationsrechtlicher Sicht zu einem „Hausgut der Länder“ macht.349 Im Vergleich
zur alten Rechtslage vor 2006 bietet sich in der Tat das Bild einer Umgestaltung, die
eine Entzerrung des Zustimmungsdickichts und Enthemmung des Ganges der Gesetzgebung ermöglichen könnte.350 Im Ergebnis sieht Art. 84 Abs. 1 GG als konkurrierende Regelungskompetenz also zwei Modelle vor, die den Erlass von Vorschriften zum Verwaltungsverfahren bei der länderseitigen Durchführung der Bundesgesondern das ganze Gesetz zustimmungsbedürftig sei; BVerfGE 8, 274 (294 f.); 24, 174 (175);
55, 274 (319); Dittmann, in: Sachs, GG (3. Aufl.), Art. 84, Rn. 15; Lerche, in: Maunz/Dürig,
GG (2005), Art. 84, Rn. 67. Anzeichen für eine möglicherweise beabsichtigte Modifikation
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden sich in BVerfGE 105, 313 (339),
wo das BVerfG die Frage danach, ob an der Einheitsthese angesichts der Kritik im Schrifttum
noch festzuhalten sei, nur wegen der fehlenden Relevanz für den damals vorliegenden Sachverhalt (LPartG) keiner Entscheidung zuführt.
345 Brenner, in: Borchard/Margedant, Der deutsche Föderalismus im Reformprozess, S. 199 (S.
205); Schultze, in: APuZ 13-14/2005, 13 (16).
346 Hierauf wies Huber in der Kommissionssitzung am 08.Juli 2004 hin: Zur Sache 1/2005, Stenographischer Bericht der 8. Sitzung, S. 174).
347 Vgl. BT-Drs. 16/813, S. 14 f.; siehe auch den Vorschlag der Vorsitzenden Stoiber und Müntefering vom 13.12.2004 in: Zur Sache 1/2005, S. 79 f..
348 Zur begrifflichen Abgrenzung zwischen Verwaltungverfahren und Behördenorganisation,
siehe insbesondere BVerfGE 75, 108 (152); sowie 55, 274 (320 f.) und 37, 363 (385 ff.);
Dittmann, in: Sachs, GG, Art. 84, Rn. 7 ff. (m.w.N.).
349 Dittmann, in: Gornig/Kramer/Volkmann, Staat – Wirtschaft – Gemeinde, S. 253 (S. 257 f.).
350 Diese Hoffnung hegt auch Brenner, in: Borchard/Margedant, Der deutsche Föderalismus im
Reformprozess, S. 199 (S. 206). Skeptischer ist Trute, in: Starck, Föderalismusreform, Rn.
154.
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setze betreffen: Ein Abweichungsmodell und einen qualifizierten Regelungsvorbehalt des Bundes.351 Für den Bereich der Regelung der Behördenorganisation steht
lediglich das Abweichungsmodell zu Verfügung.
II. Die formelle Abweichungsgesetzgebung im System der Gesetzgebung
Der Rechtslage vor 2006 entsprechend, kann der Bund weiterhin – abweichend von
der Regel des Art. 84 Abs. 1 S. 1 GG – die Behördeneinrichtung und das Verwaltungsverfahren für den Bereich des Landesvollzugs von Bundesgesetzen regeln. Er
kann dies nunmehr allerdings ohne die Zustimmung des Bundesrates tun. Seine Regelungsbefugnis ist bezüglich des „Ob“ nicht konditioniert.352 Lediglich in Bezug
auf das „Wie“ ist er dem Durchgriffsverbot des Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG unterworfen.
Ob er von der Regelungsbefugnis Gebrauch macht, liegt gänzlich in seinem Ermessen. Nimmt er sie in Anspruch, so stellt die daraus folgende Regelung für die Länder
bindendes Bundesrecht dar und nicht etwa ein Modellgesetz mit Übernahmeoption
für die Länder.353 Nimmt er die Befugnis nicht in Anspruch, so bleibt es bei der Regel des 84 Abs. 1 S. 1 GG. Das Abweichungsmodell, das mit dem 52. ÄndG zum
Grundgesetz nicht nur im VII. Abschnitt, sondern auch in Art. 84 Abs. 1 GG Einzug
fand, statuiert nun in Art. 84 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG das Recht der Länder, von solchen Bundesregelungen abzuweichen. Wie der Bund, so sind auch die Länder dem
Wortlaut nach in Bezug auf das „Ob“ der Inanspruchnahme der Regelungsbefugnis
keinen Restriktionen unterworfen. Der Erlass einer abweichenden Regelung liegt
dementsprechend in ihrem Ermessen. Das Erfordernis einer Zustimmung durch den
Bundesrat wurde also durch einen Vorbehalt zur abweichenden Normierung zugunsten der Gliedstaaten ersetzt. Die Länder sind in der Ausübung ihres Abweichungsrechts aus Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG formal nicht zwingend an die Regelung durch ein
Parlamentsgesetz gebunden. Die Option ist undifferenziert den Ländern zugewiesen,
womit im Gegensatz zum materiellen Abweichungsrecht aus Art. 72 Abs. 3 GG keine Vorentscheidung allein für eine Zuständigkeit der Landesparlamente getroffen
ist.354
Der Verweis in 84 Abs. 1 S. 4 GG auf Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG macht dabei deutlich, dass im Verhältnis von Bundes- und Landesnormen die jeweils neuere die ältere in ihrer Anwendbarkeit verdrängt. Das frühere Gesetz wird also nicht etwa gebrochen, sondern lediglich in seiner Anwendbarkeit verdrängt.355 Für den Bereich des
Art. 84 Abs. 1 GG bedeutet dies genauso wenig wie für die konkurrierende Gesetz-
351 Eine andere Nomenklatur findet sich bei Trute, in: Starck, Föderalismusreform, Rn. 149, der
von einem Abweichungsmodell und einem Zustimmungsmodell spricht.
352 Trute, in: Starck, Föderalismusreform, Rn. 157.
353 Vgl. dagegen für den österreichischen Bundesstaat die „paktierten Gesetze“, Adamovich/Funk/Holzinger, Österreichisches Staatsrecht, Rn. 19.024, 19.084.
354 Dittmann, in: Gornig/Kramer/Volkmann, Staat – Wirtschaft – Gemeinde, S. 253 (S. 261 f.).
355 Ditmann, in: Sachs, GG, Art. 84, Rn. 17.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit der 2006 in Kraft getretenen „Föderalismusreform I“ ist es den Ländern im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung möglich, Regelungen zu erlassen, die Bundesgesetzen widersprechen. Neben den Fragen die durch diese Neuerungen aufgeworfen werden, analysiert der Autor die Möglichkeiten und Grenzen des Modells sowie mit einem Blick ins Ausland ähnliche Konzepte. Er gelangt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der bundesdeutschen Kompetenzsystematik durch die erhöhte Bewegungsfreiheit der Länder, Elemente eines lernenden Föderalismus hinzugefügt werden und leistet hiermit einen Beitrag zu der Diskussion um das Abweichungsmodell, die sich bisher noch auf keinen reichhaltigen Erfahrungsschatz beziehen kann.