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Denn der Druck für die Länder, einander deckungsgleiche Regelungen zu erlassen,
besteht im Bereich des Art. 72 Abs. 3 GG nicht in der Form, wie er im Bereich des
Art. 72 Abs. 2 GG besteht. Der Bund kann in jenen Regelungsgebieten, für die ein
Abweichungsrecht besteht, den Ländern nicht in der Form zuvor kommen, dass die
Schranke des Art. 72 Abs. 1 GG gälte. Dies ist nur für die Regelungsgebiete des Art.
74 Abs. 1 Nrn. 1 – 27 GG der Fall. Eine Vorab- Selbstkoordinierung der Länder zur
Erreichung eines bundesweit einheitlichen Regelungszustandes ist in den Bereichen
des Art. 74 Abs. 1 Nrn. 28 - 33 GG also überflüssig. Die Ausbildung einer faktischen Schranke für die Abweichungsgesetzgebung durch das Kriterium der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse ist also nicht zu erwarten.
VI. Höherrangiges Recht
Der verfassungsändernde Gesetzgeber machte – ohne dass dies einer Klarstellung
bedurft hätte – deutlich, dass die Landesgesetzgeber in Ausübung ihres Abweichungsrechtes an verfassungs-, europa- und völkerrechtliche Vorgaben in gleicher
Weise gebunden sein sollen wie der Bund.338 Durch die zusätzliche Bindung an einfaches Bundesrecht und Landesverfassungsrecht, sind die Länder hier allerdings ein
Stück unfreier als der Bund. Wie auch für den Bereich des Vertrauensschutzes konstatiert wurde, weist diese Bindung des Gesetzgebers jedoch lediglich einen Bezug
zum gesetzgeberischen Tätigwerden an sich auf.339 Hinsichtlich des Umstands, dass
Bund und Länder im Bereich der Abweichungsgesetzgebung quasi real um die
Normierung der betreffenden Rechtsgebiete konkurrieren, ergeben sich jedoch keine
spezifischen Implikationen.
VII. Zusammenfassung
Die Abweichungsbefugnis aus Art. 72 Abs. 3 GG ist nicht schrankenlos. Für die
Länder ergeben sich aus dem Verfassungstext selbst bereits Einschränkungen in
Form der abweichungsfesten Sektoren. In diesen Bereichen sind die Länder nicht
von der Schrankenwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG befreit und können hier dementsprechend von vornherein nicht von vorausgegangenen Bundesgesetzen abweichen. Eine Sonderstellung unter den abweichungsfesten Sektoren hat – zwar nicht
hinsichtlich der Wirkungsweise, jedoch in Bezug auf seine systematischen Implikationen – Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG, der den Ländern abweichende Regelungen für
den Bereich der „Grundsätze des Naturschutzes“ vorenthält. Diese Aussperrung der
Länder aus den Grundsatzfragen des Naturschutzes, rückt den Kompetenztitel des
338 BT-Drs. 16/813, S. 11. Siehe auch Rengeling, DVBl 2006, 1537 (1542); Sannwald, in:
Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, Art. 72, Rn. 8i.
339 Das hebt auch hervor: Huber, in: Blanke/Schwanengel, S. 21 (31).
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References
Zusammenfassung
Seit der 2006 in Kraft getretenen „Föderalismusreform I“ ist es den Ländern im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung möglich, Regelungen zu erlassen, die Bundesgesetzen widersprechen. Neben den Fragen die durch diese Neuerungen aufgeworfen werden, analysiert der Autor die Möglichkeiten und Grenzen des Modells sowie mit einem Blick ins Ausland ähnliche Konzepte. Er gelangt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der bundesdeutschen Kompetenzsystematik durch die erhöhte Bewegungsfreiheit der Länder, Elemente eines lernenden Föderalismus hinzugefügt werden und leistet hiermit einen Beitrag zu der Diskussion um das Abweichungsmodell, die sich bisher noch auf keinen reichhaltigen Erfahrungsschatz beziehen kann.