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tatsächlich kollidierenden Vorschriften. Damit wird partiell geltendes Bundes- und
Landesrecht möglich.
Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG, der als lex specialis gegenüber Art. 31 GG anzusehen ist,
stellt sich dabei nicht als positivrechtliche Normierung des römisch-rechtlich tradierten Satzes lex posterior derogat legi priori dar, sondern ist eine gegenüber dem einfachen Kollisionsrecht unabhängige Kollisionsbereinigungsnorm. Dementsprechend
setzt er das zeitgleiche Vorliegen zweier Vorschriften unterschiedlicher Regelungsstufen voraus, die denselben Regelungsgegenstand betreffen und dabei einander widersprechende Normbefehle enthalten. Beide Normen müssen dabei zumindest
kompetenzgemäß ergangen sein. Für die Voraussetzung der Verfassungsmäßigkeit
beider Normen muss eine teleologische Extension des Anwendungsbereiches des
Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG dahingehend stattfinden, dass auch materiell verfassungswidrige Normen – aufschiebend bedingt281 – Suspensionskraft entfalten, sollte man entsprechendes mit dem Bundesverfassungsgericht auch für den Bereich des Art. 72
Abs. 1 GG anwenden wollen.
D. Schranken der Abweichungsgesetzgebung
I. Abweichungsfeste Sektoren. Insbesondere die Grundsätze des Naturschutzes
Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG benennt kaum ausdrückliche materielle Voraussetzungen,
unter denen die Gliedstaaten von ihrem Recht zur abweichenden Regelung Gebrauch machen können. So sind dem sachlichen Umfang der Abweichung, den die
divergierende Landesregelung aufweist, ausweislich des Wortlautes nur in Hinsicht
auf die abweichungsfesten Sektoren282 Grenzen gesetzt.283 Abweichungsfeste Sektoren sind in den Nummern 1, 2 und 5 des Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG zu finden und nehmen einzelne Bereiche vom Abweichungsrecht der Länder aus. Ihre Funktion ist dabei nicht schwer zu durchdringen. Sie legen Bereiche fest, in denen den Ländern
kein Abweichungsrecht zustehen soll. Hier greift also die Sperrregel des Art. 72
Abs. 1 GG in vollem Umfang. Sollte ein Gliedstaat dennoch Normen erlassen, die
diese gesperrten Bereiche betreffen, so sind diese also nur dann nicht unter Missachtung der Zuständigkeitsverteilung des VII. Grundgesetzabschnittes zustande gekommen (also nicht nichtig), „solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat“284. Der Wortlaut des
281 Durch eine Nichtigkeitserklärung im Rahmen eines entsprechenden Normenkontrollverfahrens vor dem BVerfG.
282 Wie bereits dargelegt, ist in diesem Zusammenhang die Verwendung des Begriffes der „abweichungsfesten Kerne“ eher unglücklich, da die ausgeschlossenen Sachgebiete nicht unbedingt Kern-, sondern eher Teilbereiche der jeweiligen Materie betreffen.
283 Nierhaus/Rademacher, LKV 2006, 385 (389); Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 72, Rn. 42;
Uhle, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 72, Rn. 51.
284 Art. 72 Abs. 1 Hs. 2 GG.
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Art. 72 Abs. 1 GG „solange und soweit“ macht dabei zwei Dinge klar: Erstens, dass
die Verankerung der abweichungsfesten Kerne in Art. 72 GG den Ländern nicht die
Möglichkeit nimmt, überhaupt Regelungen auf den „gesperrten“ Gebieten zu erlassen, sondern nur die, innerhalb dieser Gebiete dann Landesrecht zu setzen, wenn der
Bund bereits von seiner Regelungsbefugnis Gebrauch gemacht hat. Zweitens wird
deutlich, dass Landesgesetze, die zum einen Regelungen enthalten, die abweichungsfeste Bereiche betreffen und damit zum anderen den einschlägigen Bundesnormen widersprechen, nicht in vollem Umfang nichtig sind, sondern eben nur in
den Teilen, die die abweichungsfesten Sektoren betreffen. Im Zusammenhang mit
dem Recht der Jagdscheine (Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 1), dem Recht des Arten- und
des Meeresnaturschutzes (Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2), sowie mit stoff- oder anlagenbezogenen Regelungen des Wasserhaushaltes (Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 5) sind dabei
keine größeren Auslegungsschwierigkeiten zu erwarten; Inhalt und Umfang dieser
Sektoren sind problemlos zu definieren.
Bei Betrachtung des abweichungsfesten Sektors der „Grundsätze des Naturschutzes“ (Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG) stellt sich allerdings die Frage, ob die Idee der
Rahmengesetzgebung und mit ihr die zahlreichen Abgrenzungsprobleme bezüglich
der Kompetenzwahrnehmung durch das 52. Änderungsgesetz tatsächlich abgeschafft
wurden. Dahingehende Aussagen finden sich wiederholt in den Gesetzgebungsmaterialien.285 In der jüngeren Vergangenheit wurde dies in der Literatur aber auch bezweifelt.286 Ausgangspunkt für diese Überlegung ist dabei nicht etwa der Umstand,
dass der Titel des Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG zuvor Gegenstand der Rahmengesetzgebung war.287 Vielmehr hat Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG eine Ausnahmestellung gegenüber den anderen Titeln des dritten Absatzes. Für die Bereiche des Naturschutzes und der Landschaftspflege gewährt Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG den Ländern ein Abweichungsrecht. Hiervon explizit ausgenommen sollen allerdings unter
anderem die allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes sein.288 Diesbezügliche Regelungen unterliegen damit der Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber sprach von der Absicht, es dem Bund zu ermöglichen, ein einheitliches Naturschutzgesetz zu erlassen.289 Dieses sollte mit Blick auf europarechtliche Vorgaben
auch bei Bestehen eines Abweichungsrechts für die Länder möglichst einheitlich
bleiben.290 Zwar finden sich in Art. 72 Abs. 3 GG noch weitere Regelungsbereiche,
285 BT-Drs. 16/813, S. 14; BR-Drs. 178/06, S. 15, 20.
286 Degenhart, NVwZ 2006, 1209 (1213).
287 Art. 75 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GG a.F..
288 Quasi als Gegen-Gegenausnahme oder Duplik zum allgemeinen Grundsatz der Verteilung der
legislativen Kompetenzen in Art. 70 Abs. 1 GG.
289 Das Vorhaben eines Bundesnaturschutzgesetzes wurde in der Gesetzesbegründung ausdrücklich hervorgehoben, BT-Drs. 16/813, S. 8. Siehe auch BT-Drs. 16/813, S. 11 : „Die Kompetenz für die Grundsätze des Naturschutzes gibt dem Bund die Möglichkeit, in allgemeiner
Form bundesweite verbindliche Grundsätze für den Schutz der Natur, insbesondere die Erhaltung der biologischen Vielfalt und zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts
festzulegen.“
290 Schon die Rahmengesetzgebung wurde als für die Umsetzung der europäischen Richtlinien
zu umständlich und schwerfällig empfunden, da sie durch die Hintereinanderschaltung zweier
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die einem Abweichen der Länder nicht zugänglich sein sollen,291 diese stellen jedoch durchweg Spezialmaterien innerhalb des jeweils allgemeinen Sachgebietes dar.
Das Ausschließen der Grundsätze des Naturschutzes hingegen kommt dem Leitgedanken nahe, der schon für die Rahmengesetzgebung galt, nämlich jener einer inhaltlichen Konkretisierung und Gestaltung von Bundesvorgaben durch die Länder.
Auch fühlt man sich beim Ansehen des Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG an die Grundsatzgesetzgebung erinnert, wie sie bereits die Weimarer Reichsverfassung kannte292
und wie sie das Grundgesetz in der Finanzverfassung enthält: Nach Art. 109 Abs. 3
GG kann der Bund Grundsatzregelungen für das Haushaltsrecht festlegen.293 Den
Ländern verbleibt die Regelung der Einzelheiten dahingehend überlassen, sie an ihre
besonderen regionalen Bedürfnisse anzupassen. Diesen Ähnlichkeiten nachgehend,
soll folgend Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG daraufhin untersucht werden, ob und gegebenenfalls inwieweit Bund und Länder bezüglich ihrer Regelungsbefugnis im Naturschutzbereich Restriktionen unterworfen sind, die denen der alten Rahmengesetzgebung oder der Grundsatzgesetzgebung nahe kommen. Sollte sich hier ein kongruentes Bild nachzeichnen lassen, so muss unter Umständen erwogen werden, die
bereits erwähnte Trias der konkurrierenden Gesetzgebung (Vorrang-, Bedarfs- und
Abweichungsgesetzgebung) um eine neue Art der Gesetzgebung zu erweitern. Hierbei muss vorab festgestellt werden, dass dieser Vergleich nicht etwa durch die nunmehr fehlende Verbindung zwischen der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2
GG und Art. 72 Abs. 3 GG hinfällig wird. Zwar besteht hierin ein Unterschied zu
Art. 75 GG a.F., der auf Art. 72 Abs. 2 GG a.F. verwies. Jedoch sagte Art. 72 Abs. 2
GG schon zum Umfang der Rahmengesetzgebungskompetenz nichts aus. Er klärte
für Art. 75 GG a.F. ebenso wie für die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz
lediglich, unter welchen Voraussetzungen überhaupt geregelt werden durfte.294 Das
Wegfallen der Verbindung zu Art. 72 Abs. 2 GG kann daher kein Präjudiz darstellen.
Untersucht man Art. 72 Abs. 3 Nr. 2 GG daraufhin, ob der Bund in seiner Befugnis zur Gesetzgebung dem Art. 75 GG a.F. vergleichbar eingeschränkt ist, so finden
sich weniger Parallelen, als man anfangs vermuten könnte. Vor allem die frühere
Diskussion um die Zulässigkeit einer Außenwirkung der vom Bund normierten
Rahmenvorschriften erweist sich hier als fruchtlos. Diese befasste sich lediglich mit
der Zulässigkeit der Ausgestaltung der Rahmenvorschrift. Für eine Untersuchung
des Umfangs der Landeskompetenz nach Art. 72 Abs. 3 Nr. 2 GG war und ist diese
Frage jedoch ohne Belang. Sie kann hierfür keine Antworten bieten, da sie sich nicht
Rechtsebenen ein erhebliches Verzögerungspotential barg. Siehe BT-Drs. 16/813, S. 8; Nierhaus/Rademacher, LKV 2006, 385 (387); Huber, in: Blanke/Schwanengel, S. 21 (33); Brenner, in: Borchard/Margedant, Der deutsche Föderalismus im Reformprozess, S. 199 (S. 209).
291 Art. 72 Abs. 3 Nr.1 GG (Recht der Jagdscheine), Art. 72 Abs. 3 Nr. 2 GG (Recht des Artenschutzes und des Meeresnaturschutzes) und Art. 72 Abs. 3 Nr. 5 GG (Stoff- oder anlagenbezogene Regelungen).
292 Vgl. Art. 10 Nr. 2 WRV für das Schulrecht und Nr. 4 für das Bodenrecht.
293 Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 109, Rn. 34 f.; Wilms, Staatsorganisationsrecht, Rn. 295.
294 BVerfGE 4, 115 (127).
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mit dem Verhältnis zwischen Bundes-Rahmenvorschrift und konkretisierender Landesnormen befasste. Die Diskussion um eine Außenwirkung (das „Wie“) setzt eine
Klärung der Abgrenzungsfrage (des „Ob“) ihrerseits notgedrungen voraus. Der
Vollständigkeit halber kann aber festgehalten werden, dass für Bundesgesetze auf
dem Gebiet des Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG eine Außenwirkung möglich sein
muss. Da schon für die Rahmenkompetenz des Bundes in Art. 75 Nr. 3 GG a.F. die
Zulässigkeit einer Normierung nicht nur als Richtlinie für den Landesgesetzgeber,
sondern auch mit direkter Wirkung für den Bürger vom BVerfG festgestellt295 und
dies im Jahr 1994 mit dem 42. Änderungsgesetz zum Grundgesetz auch im damals
neu angefügten Art. 75 Abs. 2 GG a.F. verfassungsrechtlich geklärt wurde, muss
dies um so mehr für Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG gelten. Denn hier ist der Bund
auch zur vollumfänglichen Regelung befugt.
Bezüglich der Wahl des Normadressaten ist der Bund also nicht eingeschränkt.
Fraglich ist, ob gleiches auch für die Regelungsinhalte gilt. Die für Art. 75 GG a.F.
geltenden Kriterien der Ausfüllungsfähigkeit und Ausfüllungsbedürftigkeit der
Rahmengesetze waren positive Umschreibungen für die inhaltliche Zuständigkeitsbegrenzung des Bundes.296 Beurteilungsgegenstand war dabei das Gesetz als Ganzes, nicht lediglich einzelne Bestimmungen.297 Diese Restriktionen hielten den Bund
allerdings nicht immer davon ab, verstärkt ins Detail gehende Regelungen zu erlassen, die den Ländern kaum mehr Platz für eine Ausfüllung boten.298 Da Bundesrahmenvorschriften und die ergänzenden Landesregelungen nebeneinander Geltung beanspruchten, war es notwendig, den Landesgesetzgebern Raum für Willensentscheidungen in der sachlichen Rechtsgestaltung zu lassen.299 Diese Kriterien können jedoch für ein Bundesgesetz, das auf Grundlage des Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG erlassen wird, keine Geltung beanspruchen: Der Bund ist gem. Art. 72 Abs. 1, Art. 74
Abs. 1 Nr. 29 GG zur vollumfänglichen Regelung des Sachbereiches befugt. Die
Notwendigkeit der beiden Kriterien erschloss sich aber eben daraus, dass der Bund
nach Art. 75 GG a.F. durch seine Normen nur einen Rahmen vorgeben durfte, der
grundsätzlich den Landesgesetzgeber als Adressaten vorsah.300
Aus dem Tatbestandsmerkmal der „Grundsätze des Naturschutzes“ an sich ergibt
sich also keine Einschränkung für den Bund bezüglich der Wahrnehmung seiner
Regelungskompetenz. Dass er zum Erlass umfassender Normen mit Außenwirkung
295 BVerfGE 4, 115 (130).
296 Ständige Rspr.: BVerfGE 4, 115 (130); 36, 193 (202); 38, 1 (10); 51, 43 (54); 80, 137 (157).
297 BVerfGE 4, 115 (130); 25, 142 (152); Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 75,
Rn. 21.
298 BVerfGE 111, 226 (Juniorprofessur); 112, 226 (Studiengebühren).
299 BVerfGE 4, 115 (130); BVerfG NJW 2004, 2803 (2804); siehe auch Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 75, Rn. 20.
300 Zwar war eine direkte Adressierung an den Bürger nicht gänzlich ausgeschlossen, sollte aber,
wie aus Art. 75 Abs. 2 GG a.F. hervorging, die Ausnahme darstellen. So auch vor der Novellierung der Rahmengesetzgebung im Jahre 1994 das Bundesverfassungsgericht, in: BVerfGE
4, 115 (130).
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befugt ist, folgt aus der Kompetenzordnung.301 Jedoch bedarf es umgekehrt einer
Antwort darauf, welchen Umfang die in Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG verankerte Zuständigkeit der Länder hat beziehungsweise welchen Restriktionen sie unterworfen
ist. Da im Bereich der Grundsätze des Naturschutzes für die Länder die Sperre des
Art. 72 Abs. 1 GG gilt, stellt sich zunächst die Frage, was unter diesen Grundsätzen
zu verstehen ist. Für die diesbezüglichen Interpretationen, dürfte insoweit die detaillierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Begriff der „allgemeinen
Grundsätze des Hochschulrechts“ aus Art. 75 Abs. 1 Nr. 1a GG sinngemäß heranzuziehen sein. Jedoch könnte sich aus einer anderen Richtung eine unerwartete Einschränkung der Landesbefugnis zur Regelung des Naturschutzrechts ergeben. Diese
könnte aus der oben erwähnten Ähnlichkeit des Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG mit der
abgeschafften Rahmengesetzgebung abzuleiten sein. In Wahrnehmung seiner Kompetenz nach Art. 75 GG a.F. war der Bund obligatorisch auf die Regelung eines
„Rahmens“ beschränkt. Eine vollständige Regelung war ihm verwehrt. Allerdings
ließen der Wortlaut und auch die Entstehungsgeschichte302 nicht den Schluss zu,
dass er zwingend auf reine Richtlinien oder Grundsätze beschränkt sei.303 Detailregelungen und unmittelbar geltende Bestimmungen waren tatsächlich zulässig. Dies
aber nur dann, wenn das Rahmengesetz ohne die betreffende Regelung nicht erlassen werden konnte.304 Regelungen solcher Art mussten darüber hinaus auch qualitativ wie quantitativ Ausnahmen sein und den Ländern immer noch einen ausreichend
großen Spielraum belasen.305 Diese Detailregelungsbefugnis des Bundes wurde im
Jahre 1994 durch das 42. ÄndG in einem damals neuen Art. 75 Abs. 2 GG auch positivrechtlich verankert.306
Folgerichtig stellt sich hier die Frage, ob die Länder in Wahrnehmung ihrer Abweichungsbefugnis solche dem Bund früher bei der Rahmengesetzgebung zugestandenen Spielraumerweiterungen auch hier beachten müssen. Eine verlässliche Abgrenzung zwischen den bloßen Rahmenvorschriften und den Ausnahmefällen, in denen die Bundesregelungen auch ins Detail gehen dürfen, ist allerdings schwierig und
in der Zeit des Bestehens der Rahmengesetzgebung nicht gelungen.307 Insoweit hat
sich die Abgrenzungsproblematik im Rahmen des Art. 75 GG a.F., inwieweit ins
Detail gehende Bundesregelungen zulässig sein sollen und was unter den Grundsätzen des Naturschutzes zu verstehen ist, lediglich auf eine andere Ebene verlagert.308
301 Art. 72 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1 Nr. 29 GG.
302 Siehe die Angaben bei Maunz, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 75, Rn. 20.
303 Stettner, in: Dreier, GG, II, Art. 75, Rn 6; Rozek, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 75,
Rn. 16; Degenhart, in: Sachs, GG, Aufl. 3, Art. 75, Rn. 2.
304 Geis/Krausnick, in: Borchard/Margedant, Der deutsche Föderalismus im Reformprozess, S.
215 (S. 227).
305 Siehe dazu die Entscheidung des BVerfG zur Unvereinbarkeit der „Juniorprofessur“ mit dem
Grundgesetz: BVerfG, in: NJW 2004, 2803 (2804).
306 BGBl. I, 3146. Wenngleich das Ziel dieser Änderung des Art. 75 GG das Ziehen einer Grenzlinie für die Bundesbefugnis war, siehe Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 75, Rn. 3.
307 Huber, in: Blanke/Schwanengel, S. 21 (33).
308 So auch Nierhaus/Rademacher, LKV 2006, 385 (389); dem folgend Mammen, DÖV 2007,
376 (378); siehe auch Klein/Schneider, DVBl 2006, 1549 (1554) mit dem Hinweis darauf,
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Nun stellt sich die Frage folgendermaßen: Sind entsprechende Detailregelungen
durch den Bund – die er mit seiner Vollkompetenz ja ohne Weiteres vornehmen
kann – wie zu Zeiten der Rahmengesetzgebung, quasi als Annex der grundsätzlichen
Regelungen zu verstehen, so dass auch diese besonderen Vorschriften die Sperre des
Art. 72 Abs. 1 GG auslösen?
Die Möglichkeit des Bundes zur Regelung von Detailfragen im Bereich des Naturschutzes folgt seit dem 01. September 2006 aus der ihm in Art. 74 Abs. 1 Nr. 29
GG eingeräumten Vollkompetenz. Demgegenüber stand die Erlaubnis für den Bund,
im Rahmen des Art. 75 GG a.F. Regelungen zu Einzelproblemen zu erlassen, eigentlich im systematischen Widerspruch dazu, dass er eben keine Vollkompetenz hatte.
Ihm war grundsätzlich nur das Vorgeben eines Rahmens gestattet. Einzelaspekte
durften nur in Ausnahmefällen normiert werden.309 Diese Möglichkeit wurde dem
Bund für Fälle eines besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung
zugestanden. Die Detailregelung fiel unter seine Rahmenkompetenz und entfaltete
eine entsprechende Kompetenzsperre gegenüber den Ländern, ohne selbst einen
Rahmen darzustellen. Sie stellte also eine Normierung dar, die zwar unter die Kompetenzart des Art. 75 GG a.F. fiel, jedoch an der Grundintention der Rahmengesetzgebung vorbei ging, da sie nicht mehr weiter auszuführen war. Das Einräumen dieser eigentlich systemfremden Regelungsbefugnis hätte keinen Sinn gemacht, wenn
eine Landesdetailregelung dennoch weiterhin hätte zulässig sein sollen. Denn dann
hätte die Regelungsbefugnis bezüglich der Detailfragen schlicht weiterhin ohne
Ausnahme bei den Ländern verbleiben können. Der leitende Gedanke kann sich also
wie folgt zusammenfassen lassen: Wenn schon ein Systembruch stattfindet, dann
muss dieser zumindest einen legitimen Zweck verfolgen und auch konsequent gehandhabt werden.310 Im Bereich der Abweichungsgesetzgebung kann im Zusammenhang mit Detailregelungen durch den Bund jedoch von einem Systembruch (der
durch eine schützende Sperrwirkung nach Art. 72 Abs. 1 GG konsequent zu verfolgen wäre) keine Rede sein, denn der Bund hat ja von vornherein eine Vollkompetenz.
Andere Ausgangslagen von Rahmenkompetenz und Abweichungsgesetzgebung
lassen eine Sperrwirkung von Detailregelungen innerhalb der materiellen Abweichungsgesetzgebung also als nicht sinnvoll erscheinen. Auch werden die Detailregelungen des Bundes, die er in Ausübung seiner Kompetenz aus Art. 72 Abs. 3 S. 1
Nr. 2 GG trifft, nicht allein dadurch zu Grundsätzen, weil der Bund sie geregelt hat.
Sie sind eben bereits Teilaspekte, die einer weiteren Konkretisierung durch die Länder nicht mehr zugänglich sind. Dieser Gedanke entspringt der Logik und muss
dass § 2 Abs. 1 BNatSchG eine Vorstellung von der extensiven Auslegung der „Grundsätze“
durch den Bund gebe.
309 Zur komplexen Thematik, wann eine solche Ausnahme anzuerkennen war, siehe die Ausführungen bei Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 75, Rn. 72 ff.
310 Diese Konsequenz war indes leicht zu erreichen, da die Rahmenkompetenz grundsätzlich
dem Regime des Art. 71 Abs. 1 GG unterstand. Für eine anderweitige Handhabung der bundesseitigen Detailregelungen hätten grundlegendere Änderungen am Kompetenztyp der
Rahmengesetzgebung vorgenommen werden müssen.
93
nicht weiter ausgeführt werden. Auch über diesen Weg ist die Konstruktion eines
Auslösens der Sperre nach Art. 72 Abs. 1 GG durch Detailregelungen des Bundes
nicht möglich. Die Annahme, dass die gedanklichen Grundlagen, die dem Bund innerhalb der alten Rahmengesetzgebung sperrklauselbewehrte Detailregelungen ermöglichten, auch auf die Abweichungsgesetzgebung übertragbar seien, geht also
fehl. Es lässt sich also festhalten, dass die Länder den Bereich der Grundsätze des
Naturschutzes meiden müssen, ohne aber zusätzlich befürchten zu müssen, dass Detailregelungen des Bundes sie weiter in ihrer Gesetzgebungsbefugnis beschneiden.
Letztlich zeichnet Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG nicht das Bild einer übriggebliebenen Rahmengesetzgebung. Hiergegen spricht eindeutig die Vollkompetenz auf beiden Seiten. Gleichwohl sind die Länder von der Bearbeitung der Grundsätze des Naturschutzes ausgeschlossen, was Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG in der Tat in die Nähe
einer Grundsatzgesetzgebung rückt.
II. Die Übergangsregelung des Art. 125b Abs. 1 S. 3 GG
Eine weitere (temporäre) Einschränkung der Abweichungsbefugnis der Länder nach
Art. 72 Abs. 3 GG scheint durch die Übergangsvorschriften zu bestehen. Der durch
das 52. Änderungsgesetz neu eingefügte Art. 125b GG regelt das Fortgelten von vor
dem 1. September 2006 erlassenen Bundesrahmengesetzen, die auch nach der Reform hätten vom Bund erlassen werden können (Art. 125b Abs.1 S. 1 GG). Den
Ländern wird dabei das Recht eingeräumt, innerhalb der Rechtsgebiete des Art. 72
Abs. 3 S. 1 GG von eben diesen alten Bundesrahemengesetzen durch eigene Normen abzuweichen (Abs. 1 S. 2). Art. 125b Abs. 1 S. 3 GG nennt hier aber eine Einschränkung: Von altem Bundesrahmenrecht, das die Gebiete der Art. 72 Abs. 3 S. 1
Nr. 2, 5 und 6 GG311 betrifft, dürfen die Länder erst dann abweichen, „wenn und soweit der Bund ab dem 1. September 2006 von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht hat, [...]“312. Anders formuliert: Der Bund muss erst ein entsprechendes Gesetz aus seiner aktuellen konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz heraus erlassen, bevor die Länder abweichendes Recht setzen dürfen. Dabei wird aber
klar, dass Art. 125b Abs. 1 S. 3 GG nicht etwa eine Schranke gegenüber der Abweichungsbefugnis der Länder nach Art. 72 Abs. 3 GG darstellt. Die Abweichungsoption nach Art. 72 Abs. 3 GG bezieht sich nämlich nur auf gem. Art. 72, 74 GG erlassenes Bundesrecht, nicht auf alte Bundesrahmengesetze. Hat der Bund, so wie Art.
125b Abs. 1 S. 3 GG es ihm einräumt, neues Bundesrecht auf den Gebieten des Art.
311 Nr. 2: Naturschutz und Landespflege, Nr. 5: Wasserhaushalt, Nr.6: Hochschulzulassung und
Hochschulabschlüsse.
312 Der Text des Art. 125b Abs. 1 S. 3 GG lautet weiter: „... in den Fällen der Nummern 2 und 5
spätestens ab dem 1. Januar 2010, im Falle der Nummer 6 spätestens ab dem 1. August
2008.“ Sollte der Bund bis zu diesen Zeitpunkten keine entsprechende Regelung erlassen haben, so dürfen die Länder also von altem Bundesrahmenrecht abweichendes Landesrecht erlassen.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit der 2006 in Kraft getretenen „Föderalismusreform I“ ist es den Ländern im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung möglich, Regelungen zu erlassen, die Bundesgesetzen widersprechen. Neben den Fragen die durch diese Neuerungen aufgeworfen werden, analysiert der Autor die Möglichkeiten und Grenzen des Modells sowie mit einem Blick ins Ausland ähnliche Konzepte. Er gelangt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der bundesdeutschen Kompetenzsystematik durch die erhöhte Bewegungsfreiheit der Länder, Elemente eines lernenden Föderalismus hinzugefügt werden und leistet hiermit einen Beitrag zu der Diskussion um das Abweichungsmodell, die sich bisher noch auf keinen reichhaltigen Erfahrungsschatz beziehen kann.