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X. Ministerpräsidentenkonferenz 2003
In dieselbe Richtung wie die Lübecker Erklärung ging sodann auch das Konzept,
das die Ministerpräsidentenkonferenz in einem gemeinsamen Papier im März 2003
vorstellte. Auch hier sollte den Ländern für bestimmte – in einem Positivkatalog
festgelegte – Kompetenztitel ein Zugriffsrecht eingeräumt werden. Diese ganz oder
teilweise von Bundesrecht abweichenden Landesnormen sollten auch dann in Kraft
bleiben, wenn der Bund seinerseits wieder Regelungen erließe.74 Somit ist dieser
Vorschlag derselben Kritik ausgesetzt wie jener der Landesparlamente in der Lübecker Erklärung. Der Vorschlag der Ministerpräsidenten hielt allerdings als Diskussionsgrundlage Einzug in die Bundesstaatskommission. Durch die vorgelegte Modellvariante wurde dem Bund auch die Bereitschaft zu Änderungen am Erforderlichkeitskriterium des Art. 72 Abs. 2 GG signalisiert.75
XI. Gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung
der bundesstaatlichen Ordnung 2004
1. Der Auftrag der Kommission
Das Gros an Vorarbeit für das 52. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes leistete
die am 16. und 17. Oktober 2003 eingesetzte Gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung. Als Reformziele wurden ihr drei grobe Richtungen vorgegeben. Die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern sollte verbessert, die politischen Verantwortlichkeiten klarer zugeordnet und die Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung gesteigert werden.76 Zu diesem Zweck sollte vor allem auch die Zuordnung der Gesetzgebungszuständigkeiten auf Bund und Länder überprüft werden.77 Der Kommission gehörten 32 ordentliche Mitglieder an, von denen die erste
Hälfte Mitglieder des Bundestages und die zweite Hälfte die Ministerpräsidenten der
Länder waren. Des Weiteren partizipierten insgesamt 13 beratende Mitglieder ohne
Stimmrecht, die aus Vertretern der Bundesregierung, der Landesparlamente und der
kommunalen Spitzenverbände bestanden. Letztlich gehörten der Kommission noch
zwölf Sachverständige aus der Wissenschaft an, die lediglich ein Rederecht besa-
74 Siehe dazu den Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom 27.03.2003 „Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung – Leitlinien für die Verhandlungen mit dem Bund“, in:
Hrbek/Eppler, Deutschland vor der Föderalismusreform, S. 26 ff.
75 Zur Sache 1/2005, Kom-Drs. 0045, S. 3.
76 Siehe Einsetzungsbeschlüsse BT-Drs 15/1685 und BR-Drs. 750/03.
77 Zusammen mit den Zuständigkeiten und Mitwirkungsrechten der Länder bei der Bundesgesetzgebung, den Finanzbeziehungen und der Frage der Modernisierung des deutschen Bundesstaates vor dem „Hintergrund der Weiterentwicklung der Europäischen Union und der Situation der Kommunen.“
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ßen.78 Im Rahmen dieser Kommission wurde das Abweichungsrecht der Länder innerhalb der konkurrierenden Gesetzgebung erstmals wirklich diskutiert. Die bisherigen Erwähnungen dieses Instruments waren lediglich in Vorschläge eingebettet gewesen, die den Status eines Diskussionsgegenstandes nie erreichten. Es wurden
mehrere Modelle für ihre konkrete Ausgestaltung vorgetragen, die sich in Ihrer
Reichweite und konkreten Ausgestaltung teils erheblich unterschieden.79 Im Folgenden sollen sie kurz skizziert werden.
2. Vorschlag Stünker-Röttgen
Die zwei Mitglieder des Bundestages Joachim Stünker (SPD) und Norbert Röttgen
(CDU/CSU) schlugen eine Neuerung der konkurrierenden Gesetzgebung dahingehend vor, dass die Landesparlamente innerhalb bestimmter Regelungsgebiete von
bereits erlassenem Bundesrecht abweichen dürfen. Gegen hierdurch zwangsläufig
entstehende Normenkollisionen sollte eine in Art. 72 GG eingebettete Kollisionsregel geschaffen werden. Die jeweils neuere Bestimmung solle dabei der älteren im
Sinne der lex posterior-Regel vorgehen.80 Das hieße, dass eine Novellierung des
Bundesgesetzes zunächst wieder das abweichende Landesrecht verdrängen würde;
die Landtage müssten dann gegebenenfalls ein erneutes Abweichungsgesetz beschließen. Somit zeichnete sich dieses Modell durch die Herstellung einer echten
Konkurrenz in der Gesetzgebung von Bund und Ländern aus, da so beide in der Lage wären, auf denselben Sachgebieten gleichermaßen Recht zu setzen. Diese
Gleichwertigkeit sollte durch den Wegfall der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72
Abs. 2 GG noch unterstrichen werden. Bei gleichbleibendem Absatz 1 und bei Aufhebung des bisherigen Absatzes 3 wurden folgende Änderungen des Art. 72 Abs. 2
GG vorgeschlagen:
„Hat der Bund auf dem Gebiet des
1. Art. 74 Abs. 1 Nr. ... (aus dem ehem. Art. 75 Abs. 1 Nr. 3 und 4)
2. Art. 74 Abs. 1 Nr. ...
von seiner Gesetzgebungsbefugnis Gebrauch gemacht, können die Länder durch Gesetz von
den bundesgesetzlichen Bestimmungen abweichende Regelungen treffen.“
Immer wieder wurde vor dem Hintergrund des Vorschlages der Abgeordneten
Stünker und Röttgen, die Gefahr einer „Ping Pong“ – Gesetzgebung betont. Die
Möglichkeit von Bund und Ländern, von bereits ergangenen Novellierungen der jeweils anderen Rechtssetzungsebene durch eigene erneute Novellen abzuweichen,
78 Den Vorsitz führten der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Franz Müntefering und der
bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber.
79 Eine Übersicht einzelner in der Kommission diskutierter Modelle findet sich auch bei Dietsche, Die „konkurrierende Gesetzgebung mit Abweichungsrecht für die Länder“, in: Jahrbuch
des Föderalismus 2006, S. 182 ff.
80 Zur Sache 1/2005, PAU – 1/0017.
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schade der Rechtssicherheit. Es könne so ein Wettrennen um die aktuelle Herrschaft
über den Sachbereich entstehen.81 Hingegen sprach sich das Mitglied des Bundestages Kröning in der Arbeitsgruppe 1 der Kommission für dieses Modell aus und favorisierte es gegenüber den Vorschlägen der Länder und des Bundestagsabgeordneten Steenblock. Im Hinblick auf die von Stünker und Röttgen vorgeschlagene lexposterior-Regel merkte er an, dass es sehr unwahrscheinlich sei, dass es so zu einer
Art „Schaukel“ zwischen Bundes- und Landesgesetzgeber komme. Denn Bundesgesetze, die als Antwort auf landesgesetzliche Abweichungsregelungen verabschiedet
werden, bedürften der demokratischen Legitimation im Rahmen des allgemeinen
Gesetzgebungsverfahrens unter Beteiligung von Bundestag und Bundesrat ebenso
wie jedes andere Bundesgesetz.82 Dem muss natürlich entgegengehalten werden,
dass die in diesem Modell für das Zugriffsrecht der Länder vorgesehenen Kompetenztitel keine Zustimmungs-, sondern lediglich Einspruchsrechte des Bundesrates
im Gange des Gesetzgebungsverfahrens begründet hätten. Eine wirkliche Barriere
gegen eine sogenannte „Ping Pong“ - Gesetzgebung kann aus dieser Überlegung allein nicht abgeleitet werden.
Auch der Sachverständige Joachim Wieland unterstützte das Modell von Stünker
und Röttgen. Er schlug allerdings noch die Modifikation vor, die Abweichung nur
dann zuzulassen, wenn nicht die Herstellung oder Wahrung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet eine bundeseinheitliche Regelung erforderlich
macht.83 So seien die Interessen von Bund und Ländern noch exakter austariert. Hier
müsste allerdings das Bundesverfassungsgericht bemüht werden, das letztlich zur
Lösung der Frage der Erforderlichkeit berufen wäre.
Der Abgeordnete Steenblock hingegen lehnte das Modell Stünker/Röttgen ab. Es
werde mit einer solchen Lösung dazu kommen, dass einige starke Länder abweichende Regelungen träfen, während andere von ihrem Recht keinen Gebrauch machten und der Bund stattdessen für diese regle. Eine solche Struktur weise Züge eines
„Staatenbundes“ auf und sei daher abzulehnen.84 Die Kritik Steenblocks muss als
haltlos angesehen werden. Die Möglichkeit der Gliedstaaten von bestimmten Bereichen des Bundesrechts abzuweichen, begründet nicht die Annahme, der Bundesstaat
verwandle sich damit in einen Staatenbund oder nehme auch nur seine Züge an. Unterschiedliche gesetzgeberische Handhabungen der Gliedstaaten sind gerade Ausdruck eines föderalen Systems. Dass in manchen Fällen eben nicht von Bundesrecht
abgewichen, sondern dieses beibehalten wird, ist nicht Malus, sondern Absicht des
Systems.
Die Länder wandten sich vor allem für den Fall entschieden gegen die beabsichtigte Streichung der Erforderlichkeitsklausel, dass sich das Abweichungsrecht der
Länder nicht auf sämtliche Gebiete der konkurrierenden Gesetzgebung erstrecke.
Auch der Umstand, dass der Bund eine erfolgte Abweichung wieder überregeln
81 Exemplarisch die Kritik von Grimm und Schneider, siehe Zur Sache 1/2005, AU 0086, S. 5.
82 Zur Sache 1/2005, 7. Sitzung/AG1/30.09.04, Protokollvermerk, S. 4.
83 Zur Sache 1/2005, AU 0085, S. 1.
84 Zur Sache 1/2005, 7. Sitzung/AG 1/Protokollvermerk, S. 5 f.
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könnte, stieß bei den Ländern auf Ablehnung.85 Dr. Thomas de Maizière86 merkte
an, dass das vollständige Entfallen der Erforderlichkeitsklausel in Art. 72 Abs. 2 GG
angesichts der vorangegangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
schwer verständlich sei. Dies mache zwar für die von dem Abweichungsrecht betroffenen Regelungsgebiete Sinn, nicht aber für sämtliche Titel der konkurrierenden
Gesetzgebung.87 Dem muss Recht gegeben werden, da dies sonst in summa zu einer
Beschneidung der Landeszuständigkeiten führen würde. Den Ländern wäre für einen
Großteil der Regelungsgebiete in Art. 74 GG in absehbarer Zeit dauerhaft der Riegel
des Art. 72 Abs. 1 GG vorgeschoben, zumal die Rücküberführungsklausel des Art.
72 Abs. 3 GG entfallen sollte. Stimmig wäre das konkrete Modell in Verbindung mit
seiner lex-posterior-Regel nur dann, wenn sämtliche Kompetenztitel des Art. 74 GG
dem Zugriff der Länder unterfielen. Dann könnte in Hinblick auf die Nachhaltigkeit
der Länderzuständigkeiten auf eine Erforderlichkeitsklausel verzichtet werden.
Letztlich sah sich das Modell von Stünker und Röttgen noch dem Vorwurf des
Systembruchs bezüglich des Grundsatzes in Art. 31 GG ausgesetzt. Die lexposterior-Regel würde die Kollisionsregel „Bundesrecht bricht Landesrecht“ für die
konkurrierende Gesetzgebung aushöhlen. Auf diesen – haltlosen – Kritikpunkt wird
noch gesondert eingegangen.88
3. Vorschlag der Länder
Einen weitreichenderen Vorschlag machten die Länder Bayern, Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt.89 Im Bestreben, eine neue Zugriffsgesetzgebung in der Verfassung zu verankern, sollten folgende Änderungen
vorgenommen werden:
In Art. 31 GG folgender Halbsatz angefügt werden:
„soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zulässt.“
Art. 70 Abs. 2 GG sollte wie folgt gefasst werden:
„Die Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern bemisst sich nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes über die ausschließliche Gesetzgebung, die konkurrierende Gesetzgebung und die Zugriffsgesetzgebung.“
Als Herzstück der Neuerung sollte folgender Art. 72a GG eingefügt werden:
„Im Bereich der Zugriffsgesetzgebung haben der Bund und die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung. Gesetze der Länder gehen in diesem Bereich Bundesgesetzen vor. Soweit die
Länder von geltendem Bundesrecht abweichen, können/sollen sie von dieser Befugnis nur zur
Regelung von Sachzusammenhängen Gebrauch machen. (Alternativ zu Satz 3: Macht ein
85 Zur Sache 1/2005, 5. Sitzung/AG1/Ergebnisvermerk, S. 2.
86 Zu dieser Zeit Staatsminister der Justiz des Landes Sachsen.
87 Zur Sache 1/2005, 7. Sitzung/AG1/Protokollvermerk, S. 5.
88 Siehe unten Kapitel 2, C. IV. 2.
89 Zur Sache 1/2005, PAU – 1/0013.
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Land von seinem Recht zur Gesetzgebung Gebrauch, so soll es das Bundesgesetz, von dem
abgewichen werden soll, insoweit vollständig durch Landesrecht regeln.)“
Art. 75 sollte nicht mehr die (zu streichende) Rahmengesetzgebung beheimaten,
sondern folgende neuer Fassung bekommen:
„Die Zugriffsgesetzgebung erstreckt sich auf folgende Gebiete: ...“
Die Länder betonten, dass die Konkurrenz zwischen Bundes- und Landesrecht im
Sinne eines Anwendungsvorrangs des Landesrechts gelöst werde. Das Landesrecht
verdränge das Bundesrecht nicht vollständig, sondern überlagere es. Dies also nicht
im Sinne einer „Derogation“, sondern einer „Suspension“ des Bundesrechts im
Herrschaftsbereich des abweichenden Landes. „Kollidierendes“ Bundesrecht sei also
gültig, entfalte aber „Nach-Rang“, wenn und soweit von der Zugriffsgesetzgebung
Gebrauch gemacht werde.90 Der Anwendungsvorrang des aufgrund eines Zugriffs
ergangenen Landesrechts bleibe so auch im Falle von Novellierungen des Bundesrechts bestehen, womit eine Rückholbarkeit der Materien durch den Bund ausgeschlossen wäre. Lediglich im Falle der Unwirksamkeit von Landesrecht lebe das zurückgedrängte Bundesrecht wieder auf. Dem Bund sollte es nicht möglich sein, die
verfassungsrechtlich garantierte Zugriffskompetenz der Länder aufzuheben. Durch
die Tatsache, dass bestimmte Sachmaterien dem Zugriff der Länder ausdrücklich
unterfallen, mache die Konstruierung eines Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher
Normierung innerhalb dieser Regelungsgebiete unmöglich. Auf diese Weise werde
zum Ausdruck gebracht, dass in diesen Bereichen unterschiedliche Regelungen
durch die einzelnen Länder möglich sein dürfen.91 Um dies zu verdeutlichen und um
„auf der sicheren Seite“ zu sein,92 sollte auch Art. 31 GG, wie oben dargestellt, ge-
ändert werden.93 Die Frage, ob die Landesparlamente auch nur punktuelle Änderungen sollten vornehmen dürfen oder ob sie verpflichtet sein sollten, das Gesetz als
Ganzes zu ändern, um eine erhöhte Transparenz herzustellen, ließ der Vorschlag allerdings offen.
Der Vorschlag der Länder zielte also darauf ab, abweichende Regelungen der
Länder im Sinne des letzten Wortes zuzulassen. Setzt man diesen Gedanken konsequent fort, so handelt es sich bei dem Modell um eine Form „umgekehrt konkurrierender“ Gesetzgebung,94 wie sie bereits 2001 durch den Saarländischen Ministerpräsidenten und später durch die Lübecker Erklärung vorgeschlagen wurde. Dieses
Modell der umgekehrt konkurrierenden Gesetzgebung sieht sich allerdings der Kritik ausgesetzt, zu einer bundesseitig geleisteten Gesetzgebung für leistungsschwache
90 Zur Sache 1/2005, PAU – 1/0013, S. 2.
91 Zur Sache 1/2005, PAU – 1/0013, S. 4.
92 Zur Sache 1/2005, PAU – 1/0013, S. 3.
93 Die Unsicherheit in der Bewertung des Verhältnisses zur Kollisionsregel des Art. 31 GG
sprechen die Verfasser des Vorschlages sogar selbst an, siehe Zur Sache 1/2005, PAU –
1/0013, S. 3. Für eine eingehendere Untersuchung des Verhältnisses einer positiv-rechtlich
normierten lex posterior-Regel zur Kollisionsnorm des Art. 31 GG siehe weiter unten bei Kapitel 2, C. IV. 2.
94 So auch Dietsche, Die „konkurrierende Gesetzgebung mit Abweichungsrecht für die Länder“,
in: Jahrbuch des Föderalismus 2006, S. 182 (S. 189).
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Länder zu geraten. Denn der Bund bleibt zwar zur Gesetzgebung befugt, erreicht
aber mit seinen Novellierungen jene Länder nicht, die bereits eigene Regelungen im
betreffenden Sachgebiet erlassen haben, denn hier gilt der Anwendungsvorrang des
bereits erlassenen Landesrechts. Wirkung entfaltet das Bundesgesetz somit lediglich
in jenen Bundesländern, die nicht willens oder in der Lage sind, eigenes Recht zu
setzen. Vom arbeitsökonomischen Standpunkt aus wäre es daher sinnvoller, diese
Materien entweder sogleich den Ländern zur ausschließlichen Betreuung zu überlassen95 oder aber Mechanismen vorzusehen, mittels derer das Bundesrecht die Möglichkeit hat, über einen ersten Erlass und über die Gebiete der untätig gebliebenen
Länder hinaus, Wirkung zu entfalten. Ansonsten würden möglicherweise Ressourcen der Bundeslegislative in einem Ausmaß gebunden, das außer Verhältnis zu seiner bundesweit nur partiellen Wirkung steht. Eine Überlegung wert ist allerdings der
optionale Aspekt des Modells, das Abweichungsrecht der Länder an die Bedingung
zu knüpfen, die betroffene Sachmaterie vollständig zu regeln. Auf diese Weise
könnte der vielfach geäußerten Befürchtung begegnet werden, durch die partielle
Abweichung von Bundesrecht könne ein unüberschaubarer „Flickenteppich“ auf
dem Gebiet der Abweichungsgesetzgebung entstehen.96 Der Vorschlag der Länder
fand im Gange der Arbeit der Arbeitsgruppe 1 der Kommission kaum Befürworter.
Vor allem die Vertreter des Bundes kritisierten das Modell heftig.97
4. Vorschlag Steenblock
Der Bundestagsabgeordnete Rainder Steenblock (Bündnis 90 / Die Grünen) machte
folgenden Vorschlag zur Regelung von verfassungsrechtlich verankerten Öffnungsklauseln98, die es dem Bund ermöglichen sollten, bundeseinheitlich geregelte Sachmaterien durch einfachgesetzliche Erlaubnisklauseln für die Länder freizugeben:
Art. 75 GG sollte unter Aufteilung der Materien der bisherigen Rahmenkompetenz auf die ausschließliche Kompetenz des Bundes und die ausschließliche Kompetenz der Länder aufgehoben werden. Soweit hierbei Kompetenztitel aus der bisherigen Rahmenkompetenz in die ausschließliche Kompetenz des Bundes verlagert
werden, sollte eine Verpflichtung des Bundes zur Öffnung von Gesetzen geschaffen
werden. Diese Vorgaben sollten in einem dem Art. 73 GG anzufügenden Absatz 2
verankert werden:
Auf den Gebieten 1. ... 2. ...[Titel aus der bisherigen Rahmengesetzgebung] räumt der Bund
den Ländern im Rahmen seiner Gesetze die Befugnis zur Regelung ein, wenn hierfür wegen
regionaler Besonderheiten ein Bedürfnis besteht (Öffnungsklausel). Dies gilt nicht für Rege-
95 So auch die Kritik von Grimm und Schneider, siehe Zur Sache 1/2005, AU 0086, S. 2.
96 So die von Ferdinand Kirchhof i.R.d. Kommission vorgetragenen Befürchtungen, Siehe Zur
Sache 1/2005, Kom-Drs. 0011, S. 6f.
97 Siehe dazu exemplarisch die in der Stellungnahme des Bundesjustizministeriums vorgetragene Kritik, Zur Sache 1/2005, PAU – 1/0014.
98 Zur Sache 1/2005, PAU – 1/0018.
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lungen, bei denen zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit oder zur Herstellung
gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet im gesamtstaatlichen Interesse ein Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung besteht. Durch Landesgesetz ersetzbare Regelungen bedürfen auch dann nicht der Zustimmung des Bundesrates, wenn diese nach einer anderen Bestimmung des Grundgesetzes erforderlich wäre.
Auch auf einzelnen Gebieten der konkurrierenden Gesetzgebung sollte ebenfalls
eine Verpflichtung des Bundes zur Öffnung von Gesetzen geschaffen werden. Diese
Änderung sollten in einem neuen Art. 72 Abs. 2 GG Platz finden:
Auf den Gebieten 1. ... 2. ... räumt der Bund den Ländern im Rahmen seiner Gesetze die Befugnis zur Regelung ein (Öffnungsklausel). Dies gilt nicht für Regelungen, bei denen zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit oder zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet im gesamtstaatlichen Interesse ein Bedürfnis nach bundeseinheitlicher
Regelung besteht. Durch Landesgesetz ersetzbare Regelungen bedürfen auch dann nicht der
Zustimmung des Bundesrates, wenn diese nach einer anderen Bestimmung des Grundgesetzes
erforderlich wäre.
Steenblock nannte als Zielsetzung seines Vorschlages, die Abschichtung einer
ganzen Reihe von Kompetenzen. So viele Kompetenztitel wie möglich sollten dabei
entweder dem Bund oder den Ländern zur ausschließlichen Gesetzgebung übertragen werden. Für den verbleibenden Rest müsse es eine vorrangige Befugnis des
Bundes geben, zu definieren, in welchen Bereichen eine Öffnung für die Länder ermöglicht werden solle. Im Zuge der Umstrukturierung sollte auch die Rahmengesetzgebung abgeschafft werden. Hierdurch solle es ermöglicht werden, viele Gestaltungsfelder für die Länder zu öffnen.99 Dies gelänge nur mit dem Modell einer verfassungsrechtlichen Verankerung der Möglichkeit bundesgesetzlicher Öffnung. So
könne man auch dem zentralen Ziel gerecht werden, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet zu gewährleisten, das weiter auch im
Grundgesetz Erwähnung finden solle.100 Die Verpflichtung zur Schaffung von einfachgesetzlichen Öffnungsklauseln war von Steenblock aber nur für enumerativ aus
der Rahmengesetzgebung entnommene Kompetenztitel vorgesehen. Der Grundgedanke der verfassungsrechtlich verankerten Möglichkeit zur Schaffung von Öffnungsklauseln, erinnert an den nie in Kraft getretenen § 66 der Frankfurter Reichsverfassung („Paulskirchen-Verfassung“).101
Letztlich sieht sich dieses Modell dem Vorwurf ausgesetzt, dass die Nachhaltigkeit der Länderkompetenzen von einem legislative self-restraint des Bundes abhängig ist. Daran kann auch die „verfassungsrechtliche Verankerung“, die Steenblock
erwähnt, nichts ändern. Gerade das macht es äußerst unwahrscheinlich, dass eine
breite Öffnung von Sachmaterien für die Länderregelung besser erreicht werden
könnte als durch die unmittelbar verfassungsrechtlich begründete Abweichungsbefugnis der Länder. Auch wäre die Einführung eines Abweichungsrechts im Bereich
der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes inkonsequent. In der Sa-
99 Diesen Vorschlag aufgreifend, äußerten sich befürwortend auch Geis/Krausnick, in: Borchard/Margedant, Der deutsche Föderalismus im Reformprozess, S. 215 (S. 226).
100 Zur Sache 1/2005, 7. Sitzung/AG 1/Protokollvermerk, S. 5 f.
101 Siehe oben Kapitel 2, B. I.
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che birgt die Einführung des unbestimmten Rechtsbegriffes des „Bedürfnisses“ zur
regionalen Regelung im neu zu schaffenden Art. 73 Abs. 2 GG außerdem Unklarheiten. Die Auslegung des Begriffes obläge dabei wohl, wie aus der Verwandtschaft
mit dem Begriff des „Bedürfnisses“ in Art. 72 Abs. 2 GG (a.F. bis 1994) zu schlussfolgern wäre, dem Bundesgesetzgeber. Dies gilt um so mehr, als die Öffnung für die
Landesgesetzgeber durch weitere unbestimmte Rechtsbegriffe102 wieder begrenzt
wäre, die ebenfalls der Einschätzungsprärogative des Bundesgesetzgebers unterlägen. Eine „Pflicht zur Öffnung“ durch den Bund, wie Steenblock sie beschreibt, wäre dann nur in Evidenzfällen zu erkennen.
Der Vorschlag Steenblocks sieht sich weiterhin dem Vorwurf ausgesetzt, zwar die
Rahmengesetzgebung abschaffen zu wollen, durch die beabsichtigte Novellierung
aber ein Pendant derselben zu kreieren. Hier wie dort reglementiert der Bund einen
Sachbereich durch eigene Vorgaben und teilt den Gliedstaaten gleichzeitig Bereiche
zu, die diese dann durch eigene Gesetze regeln dürfen. Im Falle der Rahmengesetzgebung geschieht das durch die bundesseitige Nichtregelung detaillierter Bereiche,
die so gleichzeitig den Ländern offen stehen. Im Falle der Öffnungsklauseln weist
der Bund den Ländern durch positiv-rechtliche Benennung Bereiche zu, die diese
durch eigene Regelungen abdecken dürfen. Die staatspolitischen Realitäten würden
den Bund dabei aller Voraussicht nach dazu verleiten, den Ländern keine Abweichungsmöglichkeiten von grundsätzlichen Systementscheidungen zu ermöglichen,
sondern vielmehr lediglich Teilsegmente des Rechtsgebietes zur optionalen Regulierung freizugeben. Der Bund steckt somit den Rahmen ab, in dem sich die Länder
bewegen können. Bezüglich des Ausschlusses der Öffnungsklauseln für Bereiche, in
denen „zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit oder zur Herstellung
gleichwertiger Lebensverhältnisse“ ein „Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung besteht“, wurde in der Literatur auch die Kritik erhoben, hierin liege eine Beweislastumkehr zu Gunsten des Bundes innerhalb eines ohnehin schon äußerst bundesfreundlich ausgestalteten Modells. Hier müssten gegebenenfalls die Länder darlegen, dass für bestimmte Teile eines ohne Öffnungsklauseln verabschiedeten Bundesgesetzes unter keinem Gesichtspunkt ein Bedarf für eine bundeseinheitliche Regelung ersichtlich ist.103 Letztlich waren bundesgesetzliche Öffnungsklauseln im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung auch schon im Rahmen der Kompetenzausgestaltung zur Zeit der Kommissionsberatungen möglich. Art. 71 und 72 GG
standen dem nicht entgegen. Der Bund machte lediglich keinen Gebrauch davon,
was den Nutzen des Modells Steenblock weiter in Frage stellt. Im Gange der Verhandlungen der Arbeitsgruppe 1 der Kommission stieß der Vorschlag Steenblocks
102 Siehe beabsichtigte Änderung von Art. 72 Abs. 2 GG und Art. 73 GG: „Dies gilt nicht für
Regelungen, bei denen zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit oder zur Herstellung
gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet im gesamtstaatlichen Interesse ein Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung besteht.“
103 Dietsche, Die „konkurrierende Gesetzgebung mit Abweichungsrecht für die Länder“, in:
Jahrbuch des Föderalismus 2006, S. 182 (S. 191).
41
bei den Ländern auf einhellige Ablehnung. Auch Vertreter des Bundestages wandten
sich gegen den Vorschlag.104
5. Weitere Einzelpositionen innerhalb der Kommission
Einen Vorschlag zur Schaffung einer Auffanggesetzgebung des Bundes mit Zugriffsrecht der Länder machte der Staatsrechtsprofessor Peter M. Huber105 und stützte seine Ausführungen dabei im Grundsatz auf die bereits durch die Ministerpräsidentenkonferenz eingebrachte Diskussionsgrundlage.106 Er regte die Schaffung eines
neuen Art. 72a GG an:
(1) Im Bereich der Auffanggesetzgebung mit Zugriffsrecht hat der Bund das Recht der Gesetzgebung. Die Länder können Gesetze nach Satz 1 ersetzen, soweit nicht zwingende Gründe
des Verfassungs- oder Unionsrechtsentgegenstehen (Zugriff).
(2) Die Länder unterrichten die Bundesregierung von einem Zugriff, bevor Gesetze nach Absatz 1 Satz 2 in Kraft treten.
Der Vorschlag läuft – wie schon die Konzepte der Lübecker Erklärung und der
Ministerpräsidentenkonferenz – auf eine umgekehrt konkurrierende Gesetzgebung
hinaus, was Huber auch intendierte. Die entsprechende Kritik wird hier nicht wiederholt. Die Auffanggesetzgebung mit Zugriffsrecht bezeichnete er dabei als „lohnenden Systembruch“.107
Ein weiterer Diskussionsbeitrag kam von den Sachverständigen Hans-Peter
Schneider und Dieter Grimm.108 Sie wollten dem Problem der „Ping Pong“-
Gesetzgebung begegnen, das beispielsweise dem Modell der Bundestagsabgeordneten Stünker und Röttgen vorgeworfen wurde. Um dieses in den Griff zu bekommen,
müssten materielle Regeln aufgestellt werden, die Kriterien dafür enthalten, „wann
bundeseinheitliche Regelungen unverzichtbar sind und wann nicht“.109 So sollten die
Abätze 2 und 3 des Art. 72 GG wie folgt abgeändert werden:
(2) Der Bund hat in diesem Bereich das Gesetzgebungsrecht, wenn eine Angelegenheit durch
Landesrecht nicht wirksam oder ausreichend geregelt werden kann oder die Wahrung oder
Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet nur durch bundeseinheitliches
Recht zu erreichen ist oder ein gesamtstaatliches Interesse an der Rechts- und Wirtschaftseinheit im Bundesgebiet besteht.
(3) Sind die Voraussetzungen von Absatz 2 entfallen, können die Länder von Bundesgesetzen
abweichende Regelungen erlassen. Hält der Bundestag die Voraussetzungen weiterhin für ge-
104 Siehe Zur Sache 1/2005, 7. Sitzung/AG1/Protokollvermerk, S. 2. Lediglich MdB Funke wollte sich dem Vorschlag Steenblocks „im Kern“ anschließen, siehe dort.
105 Zur Sache 1/2005, Kom-Drs. 0008, S. 8 ff. Formulierungsvorschlag in aaO, AU 0032, S. 63
ff.
106 Zur Sache 1/2005, Kom-Drs. 0045, S. 3.
107 Zur Sache 1/2005, Kom-Drs. 0008, S. 9.
108 Zur Sache 1/2005, AU 0086, S. 7.
109 Zur Sache 1/2005, AU 0086, S. 4.
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geben, kann er gegen das Inkrafttreten des Landesrechts Einspruch erheben. Gegen den Einspruch kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden.
Dieser Vorschlag reduziert die Durchsetzbarkeit der länderseitigen Abweichung
erheblich und verkompliziert die Handhabung durch unbestimmte Rechtsbegriffe,
wie die „wirksame oder ausreichende Regelung“. Durch den in Absatz 3 dem Bund
eingeräumten Beurteilungsspielraum stellt sich zudem die Frage der Nachhaltigkeit
dieser Regelungsbefugnis der Länder. Die Frage, ob die Länder zur Regelung befugt
sind, wird so an das Bundesverfassungsgericht delegiert.
Ein Modell, das sich stark an dem des Heinsen-Vorschlags aus dem Jahre 1976
orientierte, schlug der Sachverständige Fritz W. Scharpf vom Max-Planck-Institut
für Gesellschaftsforschung vor. So sollte der Großteil der Gesetzgebungskompetenzen auf die ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern
verteilt werden. Der verbleibende Rest sollte dann in einer konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz Platz finden, auf deren gesamter Bandbreite den Ländern ein
Zugriffsrecht eingeräumt wäre.110 Dies habe den Vorteil, dass auf die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG verzichtet werden könne, deren Handhabung
schwer zu kalkulieren sei.111 Die Modifizierung gegenüber dem Modell von Heinsen
bestand dabei in den sog. „gegenständlich unbeschränkten Abweichungsrechten mit
justitiabler Verträglichkeitsklausel“.112 Hiernach sollten die Länder zur Abweichung
innerhalb der konkurrierenden Gesetzgebung dann befugt sein, sofern und soweit
dadurch nicht die verfassungsrechtlich geschützten Interessen anderer Länder oder
gesamtstaatliche Erfordernisse verletzt werden.113 So sieht sich auch dieser Vorschlag demselben Vorwurf ausgesetzt, wie jener der Sachverständigen Grimm und
Schneider, nämlich dem der Delegation der Problemlösung an das Bundesverfassungsgericht. Dem entgegnete Scharpf, dass sich die Streitfälle hier immer auf konkrete Landesgesetze vor dem Hintergrund konkreten Bundesrechts bezögen,114 was
den Kern der Problematik natürlich nicht beseitigt.
Von dem Sachverständigen Hans Meyer115 wurde eine Lösung vorgeschlagen, die
als eine modifizierte Variante des Ländermodells bezeichnet werden kann. Die Länder sollten allerdings die Abweichungsoption nur für bestimmte Rechtsmaterien der
konkurrierenden Gesetzgebung bekommen. Im Falle ihrer Ausübung könne der
Bund seine ursprüngliche Regelung zwar novellieren, das abweichende Landesrecht
würde dadurch aber nicht verdrängt. Anderes solle nur dann gelten, wenn der Bund
„für das ganze Gesetz eine neue Konzeption durchsetzen will“. Dann könne sich ergeben, dass die Abweichungen ihren Sinn ganz oder teilweise verlieren.116 Hier ergibt sich natürlich die Problematik der Feststellung, wann eine gänzlich neue Konzeption angenommen werden kann und an wem es wäre, diese Frage zu klären.
110 Zur Sache 1/2005, Kom-Drs. 0007, S. 8 ff.
111 Zur Sache 1/2005, Kom-Drs. 0080, S. 2.
112 Auch „konditionierte Abweichungsrechte“ genannt, siehe Scharpf, APuZ 50/2006, 6 (11).
113 Zur Sache 1/2005, Kom-Drs. 0087, S. 4.
114 Zur Sache 1/2005, Kom-Drs. 0087, S. 4.
115 Staatsrechtslehrer an der HU Berlin.
116 Zur Sache 1/2005, AU 0096, S. 7 f.
43
Auch Modelle, die den Gedanken des Bundeseinspruchs als Restriktion der Abweichungsbefugnis117 aufgriffen, wurden im Rahmen der Kommissionsarbeit vorgestellt. So schlug etwa der Hagener Politikwissenschaftler Arthur Benz vor, den
Ländern auf dem Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung ein Recht zur Abweichung von Bundesrecht zu geben, wenn die abweichenden Ländergesetze dem
Zweck eines Bundesgesetzes nicht entgegenstünden und die Länder bessere oder
den Gegebenheiten ihrer Landesgebiete besser angepasste Regelungen treffen wollten. Ob diese Bedingungen der „Experimentierklauseln“118 erfüllt sind, solle der
Bundesgesetzgeber entscheiden, dem daher die Möglichkeit zum Widerspruch gegen den Zugriff eines Landesgesetzgebers zustehen müsse.119 Auch hier wurde wieder mit unbestimmten Rechtsbegriffen gearbeitet, deren Auslegung Voraussetzung
für die Feststellung der Länderbefugnis wäre. Zur Justitiabilität äußerte sich Benz
nicht. Sollte man eine solche annehmen, so müsste wieder, wie auch bei den Vorschlägen von Grimm/Schneider und Scharpf das Bundesverfassungsgericht bemüht
werden, was eine flexible Handhabung der Kompetenzordnung erschweren würde.
Sollte eine nicht, oder nur begrenzt nachprüfbare Einschätzungsprärogative des
Bundes gemeint sein, so wäre das Abweichungsrecht der Länder wenig effektiv, da
es sich im Konfliktfall kaum realisieren ließe.
6. Würdigung
Schon in der Zusammensetzung der Reformkommission wurde klar, dass Konzepte
zur ausweislichen Stärkung der Landesparlamente, die auf Kosten des Bundes oder
der Landesregierungen gingen, einen schweren Stand haben würden. Die Vertreter
der Landesparlamente hatten, wie oben erwähnt, nur ein Antrags-, jedoch kein
Stimmrecht. Am 17. Dezember 2005 beendete die Kommission ihre Arbeit ohne ein
klares Konzept erarbeitet zu haben. Die Gründe für ihr Scheitern waren vielschichtig120 und wurden ebenso facettenreich diskutiert. Ihre Darstellung wäre hier nicht
zielführend. Auch die Projektgruppe 1 der Kommission, die sich unter anderem mit
den Fragen der Neugliederung der Gesetzgebungskompetenzen zu befassen hatte,
gelangte hinsichtlich der Abweichungsgesetzgebung zu keinem Konsens.
Die konkret vorgeschlagenen Modelle hatten durchweg strukturelle Schwächen.
Als besonders unfruchtbar muss dabei der Vorschlag Steenblocks angesehen werden, der die Abweichungsmöglichkeit der Länder quasi vom Gutdünken des Bundes
abhängig machen wollte. Auch der Vorschlag der Länder muss als zu radikal und in
der Ausführung inkonsequent gelten. Letztlich kann auch der Vorschlag von Stünker
und Röttgen nicht gänzlich überzeugen, da er die Nachhaltigkeit der Länderkompe-
117 Wie beispielsweise den Vorschlag Hessens i.R.d. Gemeinsamen Verfassungskommission
1994.
118 Zur Sache 1/2005, Kom-Drs. 0010, S. 5.
119 Zur Sache 1/2005, Kom-Drs. 0071 – neu – c, S. 5.
120 Ein Überblick findet sich bei Schultze, APuZ 13-14/2005, S. 1 ff.
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tenzen im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung allgemein in Frage stellt. Jene
Modelle, die die Feststellung, ob den Ländern eine Befugnis zur Abweichung zustehen sollte, von unbestimmten Rechtsbegriffen abhängig machen wollten, müssen
sich den Vorwurf gefallen lassen, für schleppende Klärungsprozesse anfällig zu sein.
Andere Vorschläge die ein Einspruchsrecht des Bundes(-tages) gegen ein abweichendes Landesrecht vorsehen, könnten Folgefragen dahingehend auslösen, wie im
Falle eines bereits eingelegten Bundesvetos mit ähnlichen Vorstößen anderer Länder
umzugehen ist. Diese Problematik könnte deshalb auftreten, weil die Motivation für
einen Einspruch durch den Bund vernünftigerweise nicht in einer Ablehnung der
Tatsache liegen kann, dass die Regelung gerade durch das betroffene Land erfolgte.
Hierzu wäre es durch die Kompetenzordnung legitimiert. Wenn man, wie es derlei
Vorschläge durchweg taten, einen Bundeseinspruch dann zulassen will, wenn die
Wahrung beziehungsweise Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse (oder
zwingendes Bundesrecht) eine einheitliche Regelung durch den Bund indiziert, so
kann der Beweggrund für das Veto nur in der Ablehnung einer Regelung „durch die
Länder“ liegen. Ohne entsprechende Klarstellungen im Verfassungstext wäre eine
Diskussion um eine entsprechende Präzedenz-Sperrwirkung des Bundeseinspruchs
gegenüber ähnlich gelagerten Abweichungsvorhaben anderer Länder vorprogrammiert. Einzelaspekte der verschiedenen Lösungsvorschläge haben allerdings ihre Berechtigung. So kann die Kollisionsregelung nach dem lex posterior-Grundsatz aus
dem Modell Stünker/Röttgen nicht von vornherein als unbrauchbar zurückgewiesen
werden. Auch der Gedanke, den der Ländervorschlag formuliert, die Länder dazu zu
verpflichten, im Falle eines Zugriffs das Sachgebiet umfassend zu regeln, ist in der
Sache nicht falsch.
XII. Koalitionsvereinbarung von CDU und SPD Ende 2005
Nach dem Scheitern der Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen
Ordnung fanden sich die damaligen Vorsitzenden Franz Müntefering und Edmund
Stoiber im darauffolgenden Frühjahr nochmals zu diskreten Nachverhandlungen zusammen, deren Ergebnisse allerdings die Aufnahme einer Abweichungsgesetzgebung, auf die man sich schon während der Arbeit der Kommission nicht vollständig
einigen konnte, nicht mehr vorsahen.121 Auf der Basis dieser Gespräche entwickelte
die Koalitionsarbeitsgruppe zur Föderalismusreform ein Einigungspapier, das am
07. November 2005 vorgelegt und in den Koalitionsvertrag vom 18. November 2005
übernommen wurde. Dieses Verhandlungsergebnis enthielt nun auch wieder Klarstellungen dazu, wie im Rahmen einer durch die große Koalition durchgeführte Reform des deutschen Bundesstaates die neu entwickelte Abweichungsgesetzgebung
auszusehen hätte. Die Gegenstände, die bisher in der Rahmengesetzgebungskompe-
121 Siehe Stock, in: ZG 21 (2006), 226 (233); für einen eingehenderen Einblick in die Rahmenbedingungen der Nachverhandlungen von Stoiber und Müntefering, siehe Grotz, Europäisierung und nationale Staatsorganisation, S. 137 ff.
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References
Zusammenfassung
Seit der 2006 in Kraft getretenen „Föderalismusreform I“ ist es den Ländern im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung möglich, Regelungen zu erlassen, die Bundesgesetzen widersprechen. Neben den Fragen die durch diese Neuerungen aufgeworfen werden, analysiert der Autor die Möglichkeiten und Grenzen des Modells sowie mit einem Blick ins Ausland ähnliche Konzepte. Er gelangt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der bundesdeutschen Kompetenzsystematik durch die erhöhte Bewegungsfreiheit der Länder, Elemente eines lernenden Föderalismus hinzugefügt werden und leistet hiermit einen Beitrag zu der Diskussion um das Abweichungsmodell, die sich bisher noch auf keinen reichhaltigen Erfahrungsschatz beziehen kann.