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IV. Hessens Vorschlag während der Gemeinsamen Verfassungskommission 1994
Auch die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, die
zwischen dem 02. April 1994 und dem 15. Oktober 1994 jene Neuerungen erarbeitete,48 die im Oktober 1994 durch das 42. Änderungsgesetz im Grundgesetz verankert
wurden, sah sich der Problematik des stetig schwindenden Einflusses der Landesgesetzgebung ausgesetzt.49 Im Bericht des Landes Hessens an die Gemeinsame Verfassungskommission wurde dies ebenfalls skizziert. Vor allem die Gesetzgebungskompetenzen der Länder, die von der schleichenden Auszehrung am stärksten betroffen
seien,50 sollten nachhaltiger werden. Die Kritik Hessens zielte dabei nicht auf die
grundsätzliche Konstruktion der Kompetenzaufteilung im Bundesgebiet ab. Die
enumerative Aufzählung der Bundeskompetenzen und die flexible Verteilung der
Zuständigkeiten durch die konkurrierende und die Rahmengesetzgebung habe sich
grundsätzlich bewährt. Jedoch seien jene Vorschriften, die die Inanspruchnahme der
konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung durch den Bund regelten, Einfallstore für die Aushöhlung der Landeskompetenzen.51 Vor allem bei den Änderungsvorschlägen zu Art. 72 GG ging die Landesregierung Hessens nahezu denselben Weg
wie fast 20 Jahre zuvor der Hamburger Senator Heinsen. In Art. 72 sollte folgender
Absatz 4 angefügt werden:
(4) Abweichend von Abs. 1 können die Länder im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung
eine bundesgesetzliche Regelung durch Landesgesetz ergänzen oder ersetzen, wenn nicht der
Bundestag innerhalb von drei Monaten nach Zuleitung Einspruch erhebt. Landesgesetze nach
Satz 1 werden dem Bundestag oder der Bundesregierung durch den Präsidenten der Volksvertretung des Landes zugeleitet. Dabei sind die Vorschriften des Bundesrechts, von denen abgewichen oder die ergänzt werden sollen, ausdrücklich zu nennen. Das Landesgesetz wird frühestens zwei Wochen nach Ablauf der in Satz 1 genannten Frist wirksam.
Die Vertreter Hessens warben für dieses Modell mit der Argumentation, dass
hierdurch erstmals echter Wettbewerbsföderalismus ermöglicht werde. Der Befürchtung, hierdurch werde es durch divergierende Bundes- und Landesgesetze für denselben Regelungsbereich zu Rechtsunsicherheiten kommen, traten sie durch die Betonung des Einspruchsrechts des Bundestages entgegen.52 Die hessische Initiative
scheitere jedoch bereits in den Auseinandersetzungen im Arbeitsausschuss 1 der
Kommission Verfassungsrecht, so dass es zu einer Abstimmung über den Vorschlag
in der Bundesratskommission gar nicht erst kam. Auch in der Gemeinsamen Verfassungskommission fand sich keine Bereitschaft, sich näher mit dem Vorschlag auseinander zu setzen.53
48 Hierbei konnte auf Teile der Arbeitsergebnisse der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates zurückgegriffen werden, die im März 1991 eingesetzt worden war (BR-Drs. 103/91)
und im Mai 1992 ihren Abschlussbericht vorlegt hatte (BR-Drs. 360/92).
49 BT-Drs. 12/6000, S. 32.
50 Zur Sache 2/96, Bd. 3, Arbeitsunterlage Nr. 4, S. 35.
51 Zur Sache 2/96, Bd. 3, Arbeitsunterlage Nr. 4, S. 35.
52 Zur Sache 2/96, Bd.1, StenBer. 4. Sitzung, S. 273.
53 Schmalenbach, Föderalismus und Unitarismus in der Bundesrepublik Deutschland, S. 118.
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Im Sinne einer abschließenden Bewertung muss sich das Modell denselben Kritikpunkten ausgesetzt sehen wie schon zuvor das des Hamburger Senators Heinsen.
Ähnlich dem Vorschlag der Van Nes Ziegler Kommission unterscheidet sich das
Hessische Modell von dem Heinsens lediglich in der elektiven Aufzählung der Adressaten der Initiativzuleitung („... dem Bundestag oder der Bundesregierung...“).
Die Besonderheit gegenüber Heinsens Modell bezüglich der Modalitäten der Durchbrechungsbefugnis an sich ist aber in der zusätzlichen Erwähnung der Ersetzung von
Bundesrecht, gegenüber der bloßen Nennung der Ergänzung zu sehen.
V. Bertelsmann-Kommission „Verfassungspolitik & Regierungsfähigkeit“ 2000
Im Jahre 2000 legte die von der Bertelsmann Stiftung einberufene Kommission
„Verfassungspolitik & Regierungsfähigkeit“ ein Arbeitsergebnis mit dem Titel „Entflechtung 2005 – Zehn Vorschläge zur Optimierung der Regierungsfähigkeit im
deutschen Föderalismus“54 vor. Das sechsköpfige Gremium55 unter dem Vorsitz von
Werner Weidenfeld lud sich auch externe Berater ein, um den Themenkomplex zu
erörtern. In den einleitenden Anmerkungen wird angeführt, dass „der hohe Verflechtungsgrad der Entscheidungsebenen einem Grundgedanken des Föderalismus“ widerspreche, „nämlich dem Prinzip eigenverantwortlichen Handelns von Bund und
Ländern, durch welches die Möglichkeit zum Test unterschiedlicher politischer Lösungsansätze im Bundesstaat erst eröffnet“ werde. Die Vorschläge der Kommission
wurden anhand von fünf Maßstäben erarbeitet. Diese lauteten: „Klare Zuordnung
von Verantwortung, Durchschaubarkeit der politischen Strukturen, Verbesserung
der Beteiligungsmöglichkeiten, Stärkung der Entscheidungsfähigkeit sowie Wahrung der Gemeinschaftlichkeit“.56
Unter anderem sollte hierfür eine Verlagerung der politischen Entscheidungsprozesse auf die unteren Staatsebenen erfolgen. Dementsprechend wurde angeführt,
dass die Stimme des einzelnen Bürgers auf kommunaler Ebene mehr wert sei als auf
Bundesebene, was sich schlicht aus der Menge der jeweils abgegebenen Stimmen
ergebe. Daher sollten Kompetenzen für politische Fragen auf einer jeweils möglichst
niedrigen Entscheidungsebene angesiedelt sein, was ökonomischen und demokratischen Zielen gleichermaßen diene. Als konkretes Instrumentarium zur Erreichung
dieser Zielvorstellungen schlug die Kommission sodann unter anderem vor, dass die
Länder im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung bundesrechtliche Regelungen
ergänzen oder ersetzen können sollten. Bundesrat oder Bundestag sollten im Gegenzug die Möglichkeit erhalten, innerhalb von drei Monaten nach einem solchen Ge-
54 Die zehn Vorschläge sind im Einzelnen festgehalten in Arndt/Benda/Weidenfeld, Verfassungspolitik & Regierungsfähigkeit – Entflechtung 2005: Zehn Vorschläge zur Optimierung
der Regierungsfähigkeit im deutschen Föderalismus, S. 21 ff.
55 Hans-Werner Arndt, Ernst Benda, Klaus von Dohnanyi, Hans-Peter Schneider, Rita Süßmuth
und Werner Weidenfeld.
56 Arndt/Benda/Weidenfeld, Neuordnung, S. 11.
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References
Zusammenfassung
Seit der 2006 in Kraft getretenen „Föderalismusreform I“ ist es den Ländern im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung möglich, Regelungen zu erlassen, die Bundesgesetzen widersprechen. Neben den Fragen die durch diese Neuerungen aufgeworfen werden, analysiert der Autor die Möglichkeiten und Grenzen des Modells sowie mit einem Blick ins Ausland ähnliche Konzepte. Er gelangt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der bundesdeutschen Kompetenzsystematik durch die erhöhte Bewegungsfreiheit der Länder, Elemente eines lernenden Föderalismus hinzugefügt werden und leistet hiermit einen Beitrag zu der Diskussion um das Abweichungsmodell, die sich bisher noch auf keinen reichhaltigen Erfahrungsschatz beziehen kann.