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Kapitel 2: Die Abweichungsgesetzgebung nach dem Grundgesetz
A. Begriffsfestlegungen
I. Der Begriff der konkurrierenden Gesetzgebung bis 2006
Der Begriff der „konkurrierenden“ Gesetzgebung war für die vor 2006 bestehende
Rechtslage irreführend. Es entstand der Eindruck, Bund und Länder würden parallel
legiferieren, so dass es zu Widersprüchen zwischen Rechtsnormen des Bundes und
der Länder kommen könnte. Das Grundgesetz kannte jedoch kein föderatives Wettbewerbsverhältnis im Bereich der Gesetzgebung. Im VII. Abschnitt hat Art. 72 Abs.
1 GG das Verhältnis der Gesetzgebung in Bund und Gliedstaaten zugunsten einer
alternativ-ausschließlichen und nicht einer kumulativ-konkurrierenden Verteilung
ausgestaltet, die als unechte Konkurrenz keinen Wettbewerb beider Rechtsetzungsebenen erlaubt.17 Demgegenüber meinen jedoch manche Stimmen in der Literatur,
dass sich die Bedeutung dieser Kompetenzart bereits aus dem Wortsinn ergäbe.18
Dies kann aber nicht überzeugen, da der Wortsinn des Terminus „Konkurrenz“ an
sich das Vorliegen von „echter Gesetzeskonkurrenz“, also inhaltlich widersprüchlicher Normen innerhalb derselben Regelungsebene vermuten ließe. Doch eben diese
lag im Fall des Art. 72 GG a.F. nicht vor, denn hier handelte es sich um divergierende Normen auf unterschiedlichen Regelungsstufen. Letztlich handelte es sich dem
Typus nach um eine Vorranggesetzgebung zugunsten des Bundes, deren Gegenstände den Gliedstaaten für den Fall der Nichtinanspruchnahme der Regelungsbefugnis
durch den Bund offen standen. Daher konnte auch nicht wie teilweise angeführt,19
von einem Wettbewerb zwischen Bund und Ländern gesprochen werden, der um die
Regelung der Sachgebiete des Art. 74 GG geführt würde. Schon im Prozess der Verfassungsgebung war heftig umstritten, ob nicht der Terminus der Vorranggesetzgebung den Regelungsbereich treffender kennzeichne.20 Auch in der Zeit nach Verkündung des Grundgesetzes regten sich Stimmen, die diesen Begriff für angemessener hielten.21 Nach dem 52. Änderungsgesetz zum Grundgesetz von 2006 kann der
alte Begriff der Vorranggesetzgebung wieder aufgegriffen werden; diesmal im Zusammenhang mit jenen Bereichen der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz,
die ein Abweichungsrecht der Länder nicht vorsehen und mit der Sperre des Art. 72
Abs. 1 GG bewehrt sind.22
17 März, in: : v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 31, Rn. 54.
18 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 72, Rn.1.
19 Maunz, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 72, Rn. 2.
20 Oeter, in: : v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 72, Rn. 3 (m.w.N.).
21 Vgl. Ströfer, JZ 1979, 394 (395).
22 Siehe dazu Kapitel 2, C. I.
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II. Begrifflichkeiten um den Art. 72 Abs. 3 GG
An dieser Stelle müssen vorab einige Begrifflichkeiten, die im Zusammenhang mit
der konkurrierenden Gesetzgebung stehen, dargestellt und ihre Bedeutung geklärt
werden. Die seit September 2006 neue Spielart der konkurrierenden Gesetzgebung
hat im Zuge der Diskussion um seine Einführung diverse Namen erhalten. Am häufigsten wurde hier von einer Abweichungsgesetzgebung gesprochen. Auch gebräuchlich war und ist der Begriff der Zugriffsgesetzgebung. Beides wird teils auch
im Sinne einer subjektiven Rechtsposition der Länder als Zugriff- oder Abweichungsrecht deklariert. Auch der Terminus der Durchbrechungsbefugnis reiht sich
hier ein. Alle voranstehenden Begriffe umschreiben die in Art. 72 Abs. 3 GG niedergelegte Möglichkeit der Landesparlamente, von geltendem Bundesrecht divergierende Regelungen für ihr jeweiliges Landesgebiet zu erlassen. Sie unterscheiden
sich nicht in ihrer Aussagekraft und können daher problemlos synonym verwendet
werden. Ob sich im Laufe der Zeit ein bestimmter in Praxis und Wissenschaft gemeinsam genutzter Begriff durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.
Des Öfteren findet sich in der neueren Literatur auch die Unterteilung in ein materielles und ein formelles Zugriffsrecht der Länder.23 Als materielles Zugriffsrecht
wird dabei Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG bezeichnet, der es den Ländern gestattet, von materiellem Bundesrecht abzuweichen. Das formelle Zugriffsrecht solle dann Art. 84
Abs. 1 S. 2 GG darstellen, der den Ländern die Befugnis zur abweichenden Regelung für den Fall zuschreibt, dass der Bund das Verwaltungsverfahren oder die Behördenorganisation (hier durch ein formelles Gesetz) normiert hat. Zwar beziehen
sich die Attribute „materiell“ und „formell“ richtigerweise auf das durch die Ländergesetzgebung zu suspendierende Bundesgesetz und nicht etwa auf die Abweichungsmodalität an sich, wie die Umschreibung glauben machen könnte. Für eine
griffige Bezeichnung der zwei unterschiedlichen Abweichungsoptionen sind die Bezeichnungen aber durchaus geeignet.
Alle vorgenannten Umschreibungen müssen jedoch vom Begriff der „umgekehrt
konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz“ abgegrenzt werden. Richtigerweise umschreibt dieser Terminus ein anderes, seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland
nie in die Praxis umgesetztes Konzept. „Umgekehrt“ ist diese Form der konkurrierenden Gesetzgebung deshalb, weil der Grundsatz des Art. 72 Abs. 1 GG, dass die
Länder nur solange die Befugnis zur Regelung haben, als der Bund nicht von seiner
Kompetenz Gebrauch gemacht hat, in sein Gegenteil verkehrt wird. Vielmehr soll
hier der Bund nur solange die Möglichkeit zur Regelung haben, als die Länder noch
nicht tätig geworden sind. Zwar weichen auch hier die Länder von Bundesregelungen ab, die Rechtsfolgen für das betroffene Bundesrecht sind jedoch weitreichender,
da endgültig. Der Bund hätte auf diesem Rechtsgebiet allenfalls nach einer Öffnung
durch die Länder wieder die Möglichkeit zur Gesetzgebung. Diese Form einer Ab-
23 Siehe die Ausführungen bei Dietsche/Hinterseh, in: Borchard/Margedant, Der deutsche Föderalismus im Reformprozess, S. 11 (S. 13 ff.).
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References
Zusammenfassung
Seit der 2006 in Kraft getretenen „Föderalismusreform I“ ist es den Ländern im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung möglich, Regelungen zu erlassen, die Bundesgesetzen widersprechen. Neben den Fragen die durch diese Neuerungen aufgeworfen werden, analysiert der Autor die Möglichkeiten und Grenzen des Modells sowie mit einem Blick ins Ausland ähnliche Konzepte. Er gelangt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der bundesdeutschen Kompetenzsystematik durch die erhöhte Bewegungsfreiheit der Länder, Elemente eines lernenden Föderalismus hinzugefügt werden und leistet hiermit einen Beitrag zu der Diskussion um das Abweichungsmodell, die sich bisher noch auf keinen reichhaltigen Erfahrungsschatz beziehen kann.