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der Bestimmung der Strukturmerkmale der Sozialversicherung aus Art. 74 Abs. 1,
Nr. 12 GG abgeleitet, dass die Sozialversicherung in ihrem Sicherungsumfang nur
nach oben und nach unten hin beschränkt ist: Sie muss in ihrem Sicherungsumfang
unterhalb einer Vollversicherung liegen,288 aber oberhalb des Sozialhilfesatzes. Dass
die gesetzliche Rentenversicherung die Sicherung des Lebensstandards auch in Zukunft garantieren muss, läßt sich nicht dem Grundgesetz entnehmen, und entspricht
im Übrigen nicht, wie von den Vertretern der These angeführt, der Rechtsprechung
des BVerfG.
IV. Gebot intergenerativer Gerechtigkeit
Der Aufbau einer zusätzlichen Kapitaldeckung kann dazu dienen, die Belastungen,
die mit dem demographischen Wandel einhergehen, gleichmäßiger auf verschiedenen Generationen zu verteilen.289 Es besteht die Frage, ob es im Grundgesetz ein
Gebot intergenerativer Gerechtigkeit gibt, welches den Staat zu Maßnahmen verpflichten könnte, die die Belastungen, die mit dem demographischen Wandel einhergehen, gleichmäßiger verteilen. Es müsste eine Gebot sein, Maßnahmen zu ergreifen, um so weit wie möglich die aus dem demographischen Wandel resultierenden Lasten in der gesetzlichen Rentenversicherung gleichmäßig auf verschiedene
Rentnerkohorten zu verteilen. Solch ein Gebot könnte aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu ziehen sein. Im Folgenden soll geklärt werden,
ob ein Handlungsgebot des Gesetzgebers aus Art. 3 Abs. 1 GG zu bejahen ist und
wenn ja, welches Ausmaß dieses haben könnte. Ein Handlungsgebot könnte dann zu
bejahen sein, wenn das Rentensystem in seiner heutigen Gestalt zu einer Ungleichbehandlung verschiedener Versichertengruppen in der Zeit führt, die unter Art. 3
Abs. 1 GG fällt und die nicht gerechtfertigt ist. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet die
Gleichbehandlung von gleichen Sachverhalten und die Ungleichbehandlung ungleicher Sachverhalte.290 Danach ist die Gleich- oder Ungleichbehandlung von Sachverhalten durch die Bildung „gerechter Vergleichsmaßstäbe“ geboten.291 Im Bereich
der gesetzlichen Rentenversicherung (im Bereich der Alterssicherung allgemein)
fällt es nicht leicht, Vergleichsmaßstäbe zu finden. Das liegt darin begründet, dass
Prozesse, wie ein Anwachsen der Alterslast aufgrund demographischer Verschiebungen oder ein Schwinden von Einnahmen aus denselben Gründen über einen langen Zeitraum ablaufen. So läßt sich eine Ungleichbehandlung von Rentnern, die mit
288 So Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, S. 113; begründet wird
dies mit der Bipolarität des Versicherungswesens und den verfassungsrechtlich garantierten
Freiräumen für die Individualversicherung. Sozialversicherung und Privatversicherung
müssten stets in einem gewissen Spannungsverhältnis stehen in Form einer Gleichgewichtigkeit, ebenso Scholz, in: FS Karl Sieg, S. 507 ff.
289 Siehe oben unter D. III. 2. c.
290 Jarass, in Jarass/Pieroth, Art. 3, Rn. 4.
291 Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn.
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einem Jahr Unterschied aus dem Erwerbsleben ausscheiden, nur schwer feststellen.
Ebenso ist es kompliziert, den „Rentner“ als Bestandteil einer Vergleichsgruppe zu
charakterisieren. Die Auswirkungen der demographischen Verschiebung auf den
einzelnen Rentner sind in ihrem quantitativen Ausmaß verschieden, je nachdem, ob
es sich bei der verrenteten Person um Mann oder Frau, verheiratet oder alleinstehend, handelt.292 Um eine qualitative Aussage hinsichtlich der Verschiedenartigkeit
der Belastungen machen zu können, ist es jedoch ausreichend, die verschiedenen
Rentner in Kohorten zusammenzufassen. Verschiedene Rentnerkohorten können
wiederum so zusammengefaßt werden, dass sie Vergleichsgruppen darstellen. So
kann man die heutige Generation der Rentner mit denjenigen vergleichen, die das
Rentenalter im Jahre 2035 erreicht haben. Die verschiedenen Rentnergenerationen
könnten danach taugliche Vergleichsgruppen i.S.d. Art. 3 Abs. 1 GG darstellen.
Inwieweit im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung die Gleichheit in der
Zeit von Art. 3 Abs. 1 GG in der Weise umfaßt ist, dass sich daraus Handlungsgebote für den Gesetzgeber ableiten lassen, ist umstritten. So wird vertreten, dass die
ungleiche Belastung verschiedener Generationen, wie sie sich für die nächsten Jahrzehnte abzeichnet, mit dem Gleichheitsgebot nur schwer vereinbaren läßt.293 Daraus
ergebe sich das Gebot, die zur Sicherung der Rentenfinanzierung notwendigen
Leistungskürzungen gleichmäßig zu verteilen und dabei auch diejenigen einzubeziehen, die schon Rente beziehen, aber weniger Beiträge als die heutige und nachfolgende Erwerbsgeneration zu tragen hatten.294 Das BVerfG lehnt die Anwendbarkeit
des Gleichheitssatzes ab, wenn die Vergleichsfälle anderen rechtlichen Ordnungsbereichen angehören und in anderen systematischen und sozialgeschichtlichen Zusammenhängen stehen.295 Das Bundessozialgericht hat zu der Frage ausgeführt, dass
eine Ungleichbehandlung der Rentnergenerationen untereinander nicht gegen den
allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoße, auch wenn künftige
Rentnergenerationen nicht die gleiche „Rendite“ bezüglich ihrer Beiträge erzielten
und weniger hohe Leistungen erhielten.296 Eine uneingeschränkte Gleichbehandlung
in der Zeit lähme den Gesetzgeber, gefährde das Gesamtwohl und bedeute eine Versteinerung der Gesetzgebung.297 Einen weiteren Aspekt führt das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen an: Bei einem Belastungsvergleich zwischen den derzeitigen und den späteren Rentenempfängern müsse der gesamte Lebenszyklus einbezogen werden. Die Leistungen und die Belastungen der jeweiligen Generationen
müssten in einer Gesamtbilanz verglichen werden. Dabei sei es aber nicht ersichtlich, weshalb heutige Beitragszahler gegenüber heutigen Rentnern benachteiligt sein
sollen.298
292 Ottnad/Wahl, Renditen der gesetzlichen Rente, S. 15.
293 Jarass, in Jarass/ Pieroth, Art. 3, Rn. 53; ausführlich: Jarass, NZS 1997, 545, 551.
294 Jarass, NZS 1997, 545, 551.
295 BVerfGE 40, 121 ff. (139 f.).
296 BSG v. 11. 10. 2001, Az.: B 12 KR 19/00 R, Tz. 29, SGb 2001, S. 754.
297 BSG, a.a.O.
298 LSG Nordrhein-Westfalen v. 22. 10. 2001, NZS 2002, 265 (267).
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Für die Anwendbarkeit des Gleichheitsgebotes wird argumentiert, dass hinsichtlich
der Rentenversicherung eine Ausnahme gelten müsse: Die gesetzliche Rentenversicherung binde die Versicherten in ein Normsystem ein. Aus dem Erfordernis der
Systemkonsistenz und der Systemgerechtigkeit vor dem Hintergrund des aus dem
Umlageverfahren resultierenden Unvermögens der Versicherten zum Aufbau eines
eigenen Kapitalstocks, müsse der Gleichheitssatz Anwendung finden.299
Die Frage, ob eine Ungleichbehandlung verschiedener Rentnergenerationen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt, ist somit streitig. Entscheidend ist jedoch, ob man bei der Annahme eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz zu dem
Schluss gelangen kann, dass daraus ein Handlungsgebot für den Gesetzgeber folgt,
eine zusätzliche Kapitaldeckung einzuführen, um eine Ungleichbehandlung zwischen den verschiedenen Generationen auszugleichen. Das ist zweifelhaft, da sich
für den Gesetzgeber theoretisch auch andere Möglichkeiten ergeben, niedrigere
Renten der zukünftigen Rentnerkohorten auszugleichen. Erwähnt sei die Möglichkeit einer höheren Steuerfinanzierung der zukünftigen Renten, die nicht nur die zukünftigen Rentenversicherten betreffen muss. Selbst wenn man das Gebot der intergenerativen Gerechtigkeit für das System der gesetzlichen Rentenversicherung anerkennt, so läßt sich daraus kein konkretes Handlungsgebot dergestalt ableiten, dass
ein Teil der zukünftigen Renten im Wege der Kapitaldeckung erbracht werden muss.
V. Ergebnis
Den Gesetzgeber trifft keine verfassungsrechtliche Verpflichtung, das Finanzierungssystem der gesetzlichen Rentenversicherung in Richtung der Kapitaldeckung
umzustellen.
299 Sodan, NZS 2005, 561 (566).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Buch thematisiert die Herausforderungen der Alterssicherung in Deutschland unter Berücksichtigung des Europarechts. Der Autor beurteilt das System der gesetzlichen Rentenversicherung aus der Perspektive des Europarechts und kommt zu dem Ergebnis, dass der deutsche Gesetzgeber aufgrund der demografischen Veränderungen das Umlagesystem der gesetzlichen Rentenversicherung in einem größeren Maße als bislang auf ein kapitalgedecktes System umstellen muss. Dabei geht er auch auf die ökonomischen Möglichkeiten einer derartigen Umstellung ein. Er zeigt auf, welche Handlungsspielräume der Gesetzgeber hat und untersucht, welche Anforderungen hinsichtlich einer wettbewerblichen Ausgestaltung die kapitalgedeckte Vorsorge erfüllen muss. Mit seinem Werk gibt der Autor einen Einblick in die Probleme der Alterssicherung in Deutschland und kommt dabei zu neuen rechtlichen Schlussfolgerungen.