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II. Handlungspflicht aus dem Sozialstaatsgebot
Fraglich ist, ob aus dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG eine Handlungspflicht des Gesetzgebers folgt, zur Ergänzung des Umlageverfahrens in der gesetzlichen Rentenversicherung ein Kapitaldeckungsverfahren einzuführen. Voraussetzung
für eine Handlungspflicht ist, dass das Sozialstaatsgebot den Gesetzgeber in Hinsicht auf die gesetzlich Rentenversicherten verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen,
um eine Rente zu gewährleisten, die den im Erwerbsleben erreichten Lebensstandard
zu erhalten vermag.
Die Rentenversicherung als ein Zweig der Sozialversicherung kann als eine Ausprägung des Sozialstaatsprinzips angesehen werden. Art. 20 Abs. 1 GG bestimmt,
daß die Bundesrepublik Deutschland ein „sozialer Bundesstaat“ ist, die Vorschrift
des Art. 28 Abs. 1, S. 1 GG, dass die verfassungsgemäße Ordnung in den Ländern
den Grundsätzen des sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen muß. Daraus wird gefolgert, daß die Bundesrepublik Deutschland als ein Sozialstaat verfaßt ist und im Grundgesetz eine Entscheidung für den Sozialstaat als ein
Strukturprinzip enthalten ist neben den Prinzipien der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Bundesstaatlichkeit.271 Das Sozialstaatsprinzip hat aufgrund seiner Offenheit einen programmatischen Charakter.272 Früher wurde das Sozialstaatsprinzip als
eine rechtsgrundsätzliche Zielbestimmung oder als ein verfassungsrechtlicher Leitgrundsatz gesehen. Die Schwierigkeit der juristischen Konkretisierung des Prinzips
wird in der Weite und der mangelnden Klarheit des Begriffs „sozial“ gesehen. Der
Gehalt des Sozialstaatsprinzips läßt sich somit nicht zu definitiven Konsequenzen
hinsichtlich seiner Ausgestaltung konkretisieren. So gibt es sehr unterschiedliche
Auffassungen zum konkreten Inhalt des Sozialstaatsprinzips: Der Rechtscharakters
des Sozialstaatsprinzips wird als unverbindliches Programm, typusbestimmende
Kennzeichnung des Staates, Verfassungsdirektive, Staatszielbestimmung, Rechtsgrundsatz und verfassungsgestaltende Grundentscheidung gedeutet.273 Nach der
Rechtsprechung des BVerfG enthält das Sozialstaatsprinzip allerdings einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber als Ausdruck seiner Verpflichtung zu sozialpolitischer Aktivität.274 Es enthalte den Auftrag, soziale Sicherungssysteme gegen die
Wechselfälle des Lebens zu schaffen.275 Fraglich ist, ob es Inhalt der Verpflichtung
zur sozialpolitischen Aktivität sein kann, die gesetzliche Rentenversicherung vor
dem Hintergrund des absehbaren demographischen Wandels so zu gestalten, dass sie
in der Lage ist, diesen im Interesse der Versichertengemeinschaft besser zu bewältigen als ohne die Veränderungen. Denn man könnte annehmen, dass der Gesetzgeber
aufgrund seiner Verpflichtung zur sozialpolitischen Aktivität dazu verpflichtet ist,
das Umlagesystem durch Kapitaldeckung zu ergänzen, um späteren Generationen
271 Vgl. Stern, Staatsrecht Bd. I, § 21, S. 877.
272 Sachs, GG, Art. 20 Rn 47.
273 Stern, Staatsrecht, § 21, S. 914, m. w. N.
274 BVerfGE 50, 57 (108); BVerfGE 1, 97 (105).
275 BVerfGE 45, 376 (387).
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eine höhere Altersversorgung zu ermöglichen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob aus dem
Sozialstaatsprinzip diese Konsequenz gezogen werden kann. Das Sozialstaatsprinzip
ist dafür zu unbestimmt. Konkret kann aus dem Sozialstaatsprinzip die Sicherung
des Existenzminimums gefolgert werden.276 Da die Rechtsprechung betont, dass die
Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung für den Standardrentner oberhalb der Bedürftigkeitsgrenze liegen müssen, können aus dem Sozialstaatsprinzip
keine konkreten Forderungen an den Gesetzgeber hinsichtlich der gesetzlichen
Rentenversicherung gezogen werden. Das Sozialstaatsprinzip entfaltet also erst au-
ßerhalb bzw. „unterhalb“ des Sicherungsniveaus der gesetzlichen Rentenversicherung seine Wirkung.277 Doch selbst wenn man annimmt, dass das Sozialstaatsgebot
dem Gesetzgeber gebietet, Maßnahmen zu ergreifen, das zukünftige Absinken der
Rentenleistung zu mildern oder zu verhindern, muss auch hier angeführt werden,
dass dem Gesetzgeber andere Maßnahmen zur Verfügung stehen als die Ergänzung
der gesetzlichen Rentenversicherung durch Kapitaldeckung. Denn er könnte sich
auch dafür entscheiden, die Bundeszuschüsse zur gesetzlichen Rentenversicherung
zu erhöhen oder den Beitragssatz anzuheben. Hinsichtlich der Einführung einer ergänzenden Kapitaldeckung können dem Sozialstaatsgebot keine Vorgaben entnommen werden.
III. Handlungspflicht aus dem Rückschrittsverbot
Nach einer Ansicht in der Literatur gilt für die gesetzliche Rentenversicherung ein
soziales Rückschrittsverbot. Danach liegt dem System der gesetzlichen Rentenversicherung die Sicherung des Lebensstandards zugrunde, worin der „rücknehmende
Gesetzgeber“ auf eine „Rückschrittsbarriere“ treffe.278 Das Prinzip der Lebensstandardsicherung stelle den sozialen Mindeststandard der sozialen Sicherung im Alter
dar und sei grundgesetzlich garantiert. Verfassungsrechtliche Grundlagen seien das
Eigentumsgrundrecht, Art. 12 GG, Art. 3 Abs. 1 GG und die objektiv-rechtliche
Dimension des Sozialstaatsprinzips.279 Es wird angeführt, dass das Bundesverfassungsgericht in einigen Urteilen festgestellt habe, dass Sicherungsziel der gesetzlichen Rentenversicherung die Lebensstandardsicherung sei.280 Das BVerfG stellte in
der Tat fest, dass die Rente dem Berechtigten die Aufrechterhaltung des Lebensstandards nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben gewährleisten soll.281 Aus
dem Kontext der Ausführungen ergibt sich jedoch, dass das BVerfG nur feststellt,
276 Vgl. dazu Soria, JZ 2005, 644 (644 f.).
277 So auch Sodan, NZS 2005, 561 (567); Lenze, NZS 2003, 505 (510).
278 Vertreten von Schlenker, Soziales Rückschrittsverbot und Grundgesetz, S. 108 ff. (111).
279 Schlenker, Soziales Rückschrittsverbot und Grundgesetz, S. 108 ff. (110); zum
Lebensstandardprinzip vgl. auch Ruland, SRHB, S. 986, Rn. 69, m.w.N.
280 Schlenker verweist auf BVerfGE 51, 1 (28); BVerfGE 54, 11 (28 f.); 64, 87 (98); BVerfGE
65, 196 (212).
281 BVerfGE 51, 1 (28).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Buch thematisiert die Herausforderungen der Alterssicherung in Deutschland unter Berücksichtigung des Europarechts. Der Autor beurteilt das System der gesetzlichen Rentenversicherung aus der Perspektive des Europarechts und kommt zu dem Ergebnis, dass der deutsche Gesetzgeber aufgrund der demografischen Veränderungen das Umlagesystem der gesetzlichen Rentenversicherung in einem größeren Maße als bislang auf ein kapitalgedecktes System umstellen muss. Dabei geht er auch auf die ökonomischen Möglichkeiten einer derartigen Umstellung ein. Er zeigt auf, welche Handlungsspielräume der Gesetzgeber hat und untersucht, welche Anforderungen hinsichtlich einer wettbewerblichen Ausgestaltung die kapitalgedeckte Vorsorge erfüllen muss. Mit seinem Werk gibt der Autor einen Einblick in die Probleme der Alterssicherung in Deutschland und kommt dabei zu neuen rechtlichen Schlussfolgerungen.