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II. Parametrische Reformen
Nach anderer Meinung ist keine grundlegende Reform des Alterssicherungssystems
in Deutschland notwendig.131 Die Diskussion um eine vermeintliche Notwendigkeit
einer grundlegenden Reform sei einseitig.132 Wirklich notwendig seien lediglich
Veränderungen im Umlagesystem133, d.h. die Anhebung des Rentenalters, Erhöhung
der Beiträge oder Senkung der Rentenleistungen.134 Für diesen Ansatz spricht, dass
er einfach umzusetzen ist und keine tiefgreifenden Reformen erfordert. Und in der
Tat bietet das Umlagesystem die Möglichkeit, auf veränderte Rahmenbedingungen
zu reagieren. Bei einem wachsenden Anteil von Leistungsempfängern und einem
sinkenden Anteil an Beitragszahlern ist es eine (vermeintlich) rein politische
Entscheidung, wie darauf reagiert wird, ob man die Leistungen senkt oder die Beiträge erhöht. Der Ansatz weist diesbezüglich jedoch eine große Schwäche auf, indem er nicht eine dem Umlagesystem immanente principal-agent-Problematik berücksichtigt und das politische Risiko des Umlagesystems nicht erkennt. Denn aufgrund der demographischen Verschiebung, und damit einhergehender Alterung der
Wählerklientel besteht die Gefahr, daß parametrische Reformen nur in eine
Richtung stattfinden: Die Beiträge oder Steuern werden erhöht, um die steigenden
Rentenlasten zu bewältigen, die Leistungen dagegen werden konstant bleiben oder
steigen. Das politische Risiko des Umlageverfahrens wird unterschätzt.135
1. Das principal-agent-Problem des umlagefinanzierten Alterssicherungssystems
Das System der Alterssicherung in Deutschland ist eng mit gesetzgeberischen Maßnahmen verbunden. Insbesondere aber die gesetzliche Rentenversicherung ist aufgrund der zunehmenden Finanzierungsschwierigkeiten in den letzten Jahren verstärkt zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung und der
gesetzgeberischen Tätigkeit geworden. Das SGB VI als Rechtsgrundlage für die gesetzliche Rentenversicherung ist durch seine Rentenformel, die den aktuellen Rentenwert beinhaltet, anfällig für gesetzliche Änderungen. Der aktuelle Rentenwert bestimmt sich durch den Nachhaltigkeitsfaktor, der wiederum als seinen Kern den Parameter ! beinhaltet, von dem es wesentlich abhängt, wie sich die Beitragssätze und
das Leistungsniveau in Relation zueinander entwickeln.136 Daneben verpflichtet die
Vorschrift des § 154 Abs. 3 SGB VI den Gesetzgeber zum Handeln, wenn das Bei-
Steuerwiderstandsforschung, S. 27 ff.. Zur Diskussion auch: Krupp, Kontroversen um den
Sozialstaat, S. 12 f.
131 Krupp, WD 1998, 582; Schmähl, PdW 2000, 407; ders., WD 1994, 507.
132 Krupp, WD 1998, 582 (585); Schmähl, PdW 2000, 407 (425).
133 Schmähl, PdW 2000, S. 428.
134 Dazu Börsch-Supan, Privatisierungsmöglichkeiten der Sozialversicherung in Europa, S. 4 f.
135 Börsch-Supan, Blaupause für eine Rentenreform in Deutschland, S. 11.
136 Siehe oben unter C. III. 2.
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tragssatzniveau einen bestimmten Wert übersteigt und das Leistungsniveau einen
festgelegten Prozentsatz vom Bruttodurchschnittsentgelt unterschreitet. Die demographische Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten wird den Gesetzgeber dazu
zwingen, weitere Maßnahmen im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung zu
treffen, durch weitere Änderungen des Rentenwertes und den verschiedenen Faktoren, die er beinhaltet. Vor diesem Hintergrund erscheint es weiterführend, zu analysieren, welche Richtung der Gesetzgeber einschlagen wird, um auf die wachsenden
Rentenlasten im bestehenden System der gesetzlichen Rentenversicherung zu reagieren. Bei dieser Analyse kann die principal-agent-Theorie eine Hilfestellung bieten. Die principal-agent-Theorie wurde entwickelt, um das vertragliche Abhängigkeitsverhältnis zwischen agent und principal zu analysieren.137 Das Verhältnis zwischen Politik und Bürger, genauer: dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber und
der wahlberechtigten Bevölkerung kann als principal-agent-Verhältnis bezeichnet
werden.138 Die Bevölkerung beauftragt im Wege von Wahlen als principal den Gesetzgeber als agent, durch Gesetze die Souveränität auszuüben. Im Bereich der Alterssicherung wird die Politik durch den Wähler beauftragt, dem Wählerwillen entsprechende Entscheidungen zu treffen. Als Gegenleistung dafür wird der gewählte
Politiker vergütet.
Der Auftrag der Bevölkerung an die Politik, im Bereich der Alterssicherung Entscheidungen zu treffen, Gesetze zu verabschieden oder Verordnungen zu erlassen,
kann sich aus der Unvollkommenheit des Marktes für die Alterssicherung ergeben.
Der Markt ist aus der Sicht des Bürgers, des principals, auf staatliche Eingriffe angewiesen.139 Die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe und staatlicher Gestaltung
bezüglich der Alterssicherung kann sich dabei aus allokativen, meritorischen und
distributiven Gründen ergeben.140 Allokative Gründe sind Informationsasymmetrien,
die zu adverser Selektion und moral-hazard-Verhalten führen.141 Meritorische
Gründe erklären sich aus der Tatsache, dass von Seiten der Versicherten zukünftige
Bedürfnisse falsch eingeschätzt werden.142 So könnte die Gefahr bestehen, dass
Bürger ihre Bedürfnisse in einer Zeit, die sehr weit in der Zukunft liegt, wie das
Rentenalter, unterschätzen und dem gegenwärtigen Konsum einen höheren Stellenwert einräumen als der Bildung von Ersparnissen, die sie erst im Alter für den Konsum aufzehren können. Als distributiver Grund wird das Erfordernis angeführt, dass
der Markt nur unbefriedigende Verteilungsergebnisse erzielt.143 Dem Staat wird auf
dem Gebiet der Alterssicherung ein komparativer Vorteil hinsichtlich der Erzielung
137 Vgl. Fasshauer, Alterssicherungssystem im Rahmen der Neuen Institutionenökonomie, S. 120
ff.
138 Fasshauer, a.a.O. S. 121.
139 So: Fasshauer, Würzburg Economic Papers Nr. 31, S. 3.
140 Vgl. Berthold, Marktversagen, staatliche Intervention und Organisationsformen sozialer
Sicherung, S. 339 ff.
141 Berthold, S. 343.
142 Berthold, S. 341 f.
143 Berthold, S. 345 f.
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von „Gerechtigkeit“ eingeräumt.144 Aus diesen Gründen soll das Erfordernis
staatlicher Einflussnahme auf das System der Alterssicherung resultieren, woraus
der Auftrag der Wähler an die Politik resultiert, die notwendigen Eingriffe in das
System der Alterssicherung vorzunehmen. Auf den Seiten des agent, der Politik
bzw. des Gesetzgebers, existieren Anreize, den Auftrag der Bevölkerung bzw. des
Wählers zu erfüllen. Die Anreize können darin bestehen, ein öffentliches Amt zu
erlangen oder zu behalten, gewählt oder wiedergewählt zu werden, um die mit dem
Amt verbundene Macht oder Ansehen zu erlangen oder zu wahren. Auch materielle
Merkmale, wie das finanzielle Einkommen, das mit dem Amt verbunden ist, können
Anreize sein, eine bestimmte Politik zu verfolgen.145 Folgt man dieser These, könnte
es für das Alterssicherungssystem bedeuten, dass der Gesetzgeber in der Art und
Weise auf das System der Alterssicherung Einfluß nehmen wird, bei der er davon
ausgehen kann, dass sie dem Willen des principals entspricht, damit er als agent
weiterhin damit beauftragt wird, Einfluss zu nehmen, - er also wiedergewählt wird.
Das Problem für das Alterssicherungssystem besteht darin, dass die Anreize für
den principal, auf das System Einfluss zu nehmen, nicht immer von den Erwägungen geleitet sein müssen, das System selbst leistungsfähig zu halten. Ein
Alterssicherungssystem ist durch seine Bedeutung für den in der Zukunft liegenden
Versicherungsfall „Alter“ per se von langfristigen Prozessen geleitet. Das hat zur
Folge, dass kurzfristige, in ihrem Umfang begrenzte Maßnahmen des Gesetzgebers
auf der Leistungsseite erst auf lange Sicht gravierende Auswirkungen auf die Finanzierungsseite haben. „Leistungsfähigkeit“ bedeutet hier Leistungsfähigkeit über
einen langen Zeitraum und Dauerhaftigkeit der Finanzierung.
Es könnte nun dabei die Gefahr bestehen, dass es Anreize für den Gesetzgeber
gibt, kurzfristige Entscheidungen im Bereich der Alterssicherung zu treffen, die die
erforderliche langfristige Stabilität des Alterssicherungssystems gefährden. Diese
könnten darin bestehen, dass sich der Gesetzgeber bei seinen Entscheidungen eher
von dem Motiv leiten lässt, vom agent wiedergewählt zu werden, als von dem Motiv, das Versicherungssystem leistungsfähig und effizient zu halten. Denn die Anreize können tagespolitischer Natur sein und müssen nicht langfristigen Erwägungen
entsprechen.146 Das System der gesetzlichen Rentenversicherung ist von allen drei
Säulen der Alterssicherung dasjenige, auf welches der Gesetzgeber den größten Einfluss hat: Es handelt sich um ein staatlich organisiertes System. Beiträge und Leistungen sind gesetzlich geregelt. Ebenso wie der Kreis der Versicherungspflichtigen.
Daraus folgt, dass hier für den Gesetzgeber die Möglichkeit besteht, den Interessen
des principals relativ einfach zu entsprechen: So kann der Gesetzgeber die
144 Fasshauer, ZVersWiss 2000, 393 (401 f.).
145 Das entspricht der Gestalt des Politikers in der Neuen ökonomischen Theorie unter den
Voraussetzungen des sog. „Eigennutz-Axioms“, siehe Downs, Ökonomische Theorie der
Demokratie, S. 27
146 So Fasshauer, ZVersWiss 2000, 393 (403 f.), der sich auf eine Umfrage des Allensbach-
Instituts stützt, nach der die Alterssicherung als Thema eine überdurchschnittliche Bedeutung
für die Bevölkerung besitzt und zu Sieg und Niederlage der großen Parteien SPD und
CDU/CSU bei der Bundestagswahl 1998 beigetragen hat.
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Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung ausweiten, indem er Zeiten als
Beitragszeiten anrechnet, in denen der Versicherte gar keine oder nur geringe Beiträge erbracht hat (z. B. Ausbildungszeiten, Kindererziehungszeiten, Möglichkeit
der Frühverrentung ohne versicherungsmathematisch faire Abschläge), er kann das
gesetzliche Rentenalter herauf- oder herabsetzen, er kann schließlich die Parameter
der Rentenformel so verändern, dass sie die Lasten entweder den Beitragszahlern
oder den Leistungsempfängern aufbürden. Der Gesetzgeber kann also flexibel im
System der gesetzlichen Rentenversicherung gestalten. Da die geschilderten
Maßnahmen nicht immer dem Versicherungsprinzip entsprechen wie z. B. die Anrechnung von beitragsfreien Zeiten, oder die Möglichkeit der Frühverrentung ohne
versicherungsmathematische Abschläge, erfordern die Maßnahmen eine Finanzierungsquelle außerhalb des Versicherungssystems. Durch die Möglichkeit von Bundeszuschüssen nach § 213 SGB VI ist der Weg zu dieser Quelle, nämlich dem allgemeinen Steueraufkommen, eröffnet. Dadurch, dass der Gesetzgeber bei der
Gestaltung der Beiträge und Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung auf
das Steueraufkommen zurückgreifen kann, hat er einen weiten, wenn auch nicht unbegrenzten Spielraum, den Interessen des principals zu entsprechen.
Die Frage besteht, zu welchen Maßnahmen der Gesetzgeber in der Zukunft neigen wird. Ob er eher die Leistungen zu Lasten höherer Beiträge und Steuern ausweiten wird oder ob er die Abgabenlast zu Lasten der Leistungen stabil halten wird.
Es sprechen dabei einige Argumente für die erste Alternative: So wird angenommen,
dass der Gesetzgeber bei einem Umlagesystem trotz steigender Belastungen aufgrund veränderter Rahmenbedingungen wie demographischer Veränderungen dazu
neigen wird, den Interessen der Leistungsempfänger zu entsprechen und steigenden
Ausgaben durch ein Heraufsetzen der Abgabenlast begegnen wird.147 Ein Grund dafür wird zum Einen in einer asymmetrischen Interessenlage der verschiedenen
Wählergruppen gesehen, die ein optimales Ergebnis im demokratischen Abstimmungsprozeß verhindere148: Bei Abstimmungen über den Beitragssatz werde die
Gruppe der Leistungsempfänger und die Gruppe derjenigen, die kurz vor Erreichen
dieses Status sind, für hohe Beitragssätze eintreten. Die Gruppe der Jüngeren, die
durch hohe Beitragssätze belastet werden, werden aber weniger Widerstand entgegensetzen, als dies zu erwarten ist, da sie selbst später in den Genuß höherer
Leistungen kommen wollen. Während die ersten beiden Gruppen, höhere Beitragssätze ausschließlich als Wohltat auffassen, empfände die Gruppe der Jüngeren die
höheren Beiträge nicht ausschließlich als Belastung. Die Folge sei, dass das Umlagesystem ausgeweitet werde.149 Das Kapitaldeckungsverfahren erscheine dagegen
als das politisch effizientere und auch stabilere System, da hier der Abstimmungsprozeß zum gesellschaftlich optimalen Beitrags- und Leistungsniveau führe:
Alle würden auf Dauer denselben Beitragssatz bevorzugen, während beim Umlageverfahren auf jede nachwachsende Generation ein Zwang ausgeübt werde, weil die
147 Homburg, Theorie der Alterssicherung, S. 122 f.
148 Homburg, a.a.O.
149 Homburg, S. 123.
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Gesellschaft einen Beitragssatz beschlossen hat, der mit den Präferenzen der Jungen
unvereinbar sei.150 Auch wird bezweifelt, dass der Gesetzgeber zu Gunsten einer
Entlastung zukünftiger (noch nicht geborener) Generationen Entscheidungen treffen
wird, die jetzige (Wähler-)Generationen belasten.151 Hinzu kommt, dass aufgrund
des demographischen Wandels der Anteil derjenigen an der Bevölkerung zunimmt,
welcher ein Interesse an hohen Rentenleistungen hat. So wird angenommen, dass
mit einem steigenden Anteil an Leistungsbeziehern in der Gesellschaft die Bedeutung für den Politiker steige, eine den Leistungsempfängern gegenüber genehme
Politik zu machen. Mit steigendem Alter des sogenannten Medianwählers werde
auch die von ihm gewählte politische Vertretung eher dazu neigen, den Interessen
der Rentner und rentennahen Jahrgänge Rechnung zu tragen.152 Mit zunehmender
Alterung der Gesellschaft wird deshalb die politische Durchsetzbarkeit von Rentenreformen als gemindert angesehen.153 Der durchschnittliche Wähler würde dann das
Umlageverfahren zu Gunsten einer Umstellung bevorzugen.154 Dieselbe Problematik
wird auch im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) unter dem
Stichwort "Sisyphus-Syndrom"diskutiert: In alternden Demokratien würden die älteren Bevölkerungsgruppen mehr Stimmen auf sich vereinen, was dazu führen werde,
dass diese Gruppen mehr und mehr ihre Interessen durchsetzen werden.155 Einer
überaus pessimistischen Einschätzung des Umlagesystems ist bereits von Hayek gefolgt, der konstatiert hat, dass ein Umlageverfahren, wenn es „einmal eingeführt
wurde, ewig weitergeführt oder dem völligen Zusammenbruch überlassen werden
müsste“.156
Das Argument des wachsenden Einflusses älterer Bevölkerungsgruppen auf politische Entscheidungen wird vereinzelt jedoch auch in Frage gestellt. So wird angeführt, dass der einzelne Wähler kaum Einfluß auf rentenversicherungsrechtliche Regulierungen habe.157 Er nehme Informationen zur gesetzlichen Rentenversicherung
nur dann wahr, wenn sie ihn direkt beträfen. Eine größere Rolle als der Wähler
spielten für die Politik in Deutschland Interessengruppen.158 Die Einteilung „Alte“
150 Homburg, S. 122.
151 Eitenmüller/Hain, DRV 1998, 634 (652 f.).
152 Vgl. Voigtländer/Henman, Otto-Wolff-Institut Discussion Paper 2/2003, S. 11.
153 Weber, Demographie und Kapitalmärkte, S. 4.
154 Verbon/Leers/Meijdam, Transitions towards a Funded System: The Political Economoy, S.
371.
155 Im Bereich der Krankenversicherung gehört zu diesen Interessen die Ausweitung des
Krankenversicherungskataloges um v.a. lebesnverlängernde und kostenintensive Leistungen,
also Leistungen, die gerade dieser Gruppe Nutzen bringen. Nach der Theorie führt dies
wiederum zu einem zusätzlichen Anstieg der Lebenserwartung und damit zu einem noch
größeren Übergewicht der älteren Bevölkerungsgruppen. Vgl. Nachweise bei Fetzer,
Determinanten der zukünftigen Finanzierbarkeit der GKV, S. 9, Fn. 4: Vertreten wird die
bisher nicht empirisch belegte These von Zweifel, Bevölkerung und Gesundheit: Ein
Sisyphus-Syndrom?
156 Von Hayek, Verfassung der Freiheit, S. 385 f.
157 Burger, Deregulierungspotentiale in der gesetzlichen Rentenversicherung, S. 111 ff. (152).
158 Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 44.
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und „Junge“ als zwei Interessengruppen könne aber nicht unbedingt vorgenommen
werden. Denn diese Gruppen seien zu groß, um aktionsfähig organisiert werden zu
können.159 Da die Zahl der Rentner im Gegensatz zur Zahl der versicherten Beitragszahler steige, müsse gemäß dem Gesetz, dass je kleiner die Gruppe sei, desto besser
sie organisiert sei und dementsprechend ihre Ziele besser verwirklichen könne, die
Politik in Deutschland künftig eher in die Richtung beeinflußt werden, dass vermehrt Entscheidungen zu Gunsten der Beitragszahler getroffen würden.160
Diese Argumentation erscheint zweifelhaft, da innerhalb des principle-agent-Verhältnisses Wähler-Politiker es nicht unbedingt vom Organisationsgrad einer Wählerklientel abhängt, ob der agent ihre Interessen vertreten wird, sondern, bei der vergleichsweise einfach zu artkulierenden Frage, ob Rentenleistungen gekürzt oder erhöht werden, vor allem von der Größe der Interessengruppe. Als Beispiel für eine
überproportional große Berücksichtigung der Leistungsempfänger kann auch das
RV-NachhaltigkeitsG herangezogen werden. Denn durch die Festlegung des für die
Bestimmung der Rentenleistung zentralen Parameters ! mit einem Wert von 0,25
wird der größere Teil der demographischen Lasten den Beitragszahlern und der kleinere Teil der Lasten den Rentnern aufgebürdet.161 Nun ist allerdings der Anteil an
der Bevölkerung, der Beiträge entrichtet, momentan größer als der Anteil derjenigen, die Leistungen beziehen. Danach müßte die Politik eher Maßnahmen ergreifen,
die den Beitragszahlern entgegenkommen und Einschränkungen auf der Leistungsseite vornehmen. Eine Erklärung dafür, warum es sich nicht so verhält, kann zum
einen die genannte These von Homburg bieten von einer „asymmetrischen“ Interessenlage im Abstimmungsprozeß, welche ein optimales Ergebnis verhindere und zu
einer stetigen Ausweitung des Umlagesystems führe.162 Eine weitere Erklärung
könnte darin liegen, dass beim System der gesetzlichen Rentenversicherung die politischen Entscheidungen für die verschiedenen Interessengruppen in unterschiedlicher Weise spürbar werden. Rentner spüren den Verlust der Kaufkraft ihrer Renten
unmittelbar, da die Renten ihre wichtigste Einkommensquelle darstellen. Ein höherer Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung ist seitens des Beitragszahlers
in seiner direkten Wirkung nur zur Hälfte zu spüren, da die andere Hälfte der Arbeitgeber trägt. Dass sich durch höhere Beiträge die Arbeit verteuert, welches eine
Ursache für den Anstieg der Arbeitslosigkeit sein kann, berührt den (arbeitenden)
Beitragszahler nicht direkt. Und selbst im Falle, dass er oder Bekannte den Arbeitsplatz verlieren, wird er keinen direkten Zusammenhang zu erhöhten Beiträgen zur
gesetzlichen Rentenversicherung herstellen. Er wird dies auch gar nicht können, da
viele weitere Ursachen zum individuellen Verlust des Arbeitsplatzes führen.
Daneben muss der Gesetzgeber nicht die Beiträge erhöhen, sondern kann der Rentenversicherung weitere Bundeszuschüsse zuführen. Dass die dafür verwendeten
Steuermittel an anderer Stelle fehlen, ist für den Beitragszahler ebenso nicht direkt
159 Burger, S. 163 ff. (165).
160 Burger, S. 137.
161 Vgl. Börsch-Supan/Reil-Held/Wilke, SF 2003, 280.
162 Homburg, S. 122 f.
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spürbar. Verkürzt dargestellt ist es so, dass sich Rentenkürzungen sofort bemerkbar
machen, Beitragserhöhungen und Bundeszuschüsse hingegen Wirkungen auf die
gesamte Volkswirtschaft entfalten, individuell aber nicht direkt wahrgenommen
werden. Diese sofort spürbaren Veränderungen führen zu einem Verhalten seitens
der Rentner, die Belastungen zu stoppen oder rückgängig zu machen. Das spricht
dafür, dass der durchschnittliche Rentner kraft seiner Wählerstimme die politische
Kraft bestimmen wird, die seiner Meinung nach am ehesten seine Interessen verwirklichen wird. Daraus kann geschlossen werden, dass die Leistungsempfänger auf
der Seite des principals gegenüber dem agent ein höheres Gewicht einnehmen als
die Beitragszahler.163 Insgesamt sprechen diese Aspekte dafür, dass der Gesetzgeber
beim Umlagesystem dazu neigen wird, wachsende Belastungen infolge des demographischen Wandels an die Beitragszahler weiterzugeben.
2. Ergebnis
Im Umlagesystem werden die wachsenden Belastungen an die nachfolgenden Generationen weitergegeben. Dem Umlageverfahren wohnt somit ein politisches Risiko
inne, welches negative Auswirkungen auf die gesamte Volkswirtschaft haben kann.
Parametrische Reformen in einem Umlagesystem werden in einer alternden Gesellschaft aller Wahrscheinlichkeit nach nur in einer Richtung erfolgen, nämlich der
Ausweitung oder Stabilisierung der Leistungen zu Lasten der Beitragszahler. Das
Konzept der parametrischen Reformen bei vollständiger Beibehaltung des Umlagesystems der gesetzlichen Rentenversicherung ist somit schon aus diesem Grunde abzulehnen.
III. Umstellung des Rentensystems vom Umlageverfahren auf ein Kapitaldeckungsverfahren
Als Alternative zum Umlagesystem oder dem Konzept einer steuerfinanzierten
Grundrente wird von einer weit verbreiteten Meinung das Konzept des Übergangs
vom Umlageverfahren auf ein Kapitaldeckungsverfahren vertreten.
Das Kapitaldeckungsverfahren ist dadurch gekennzeichnet, dass die Beiträge
eines jeden Versicherten zum Aufbau eines Kapitalstocks verwendet werden, indem
sie in Wertpapieren angelegt, "verbrieft" werden. Die Beiträge werden in der Zeit
der Beitragszahlung auf dem Kapitalmarkt angelegt. Im Rentenalter wird der durch
Beiträge und Verzinsung gewachsene Kapitalstock sukzessive aufgelöst und für die
Rentenleistungen verwendet. Das Kapitaldeckungsverfahren, auf dessen Prinzip
163 Eine plakative Überschrift kann als Beispiel dienen: SZ v. 9.6.2005, S. 1, „CSU grenzt sich
scharf von der FDP ab“: Der Vorsitzende des bayerischen VdK Horst Seehofer warnt vor
weiteren Einschnitten bei den Renten: „Hände weg von den Renten, da ist die Grenze erreicht.“
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Buch thematisiert die Herausforderungen der Alterssicherung in Deutschland unter Berücksichtigung des Europarechts. Der Autor beurteilt das System der gesetzlichen Rentenversicherung aus der Perspektive des Europarechts und kommt zu dem Ergebnis, dass der deutsche Gesetzgeber aufgrund der demografischen Veränderungen das Umlagesystem der gesetzlichen Rentenversicherung in einem größeren Maße als bislang auf ein kapitalgedecktes System umstellen muss. Dabei geht er auch auf die ökonomischen Möglichkeiten einer derartigen Umstellung ein. Er zeigt auf, welche Handlungsspielräume der Gesetzgeber hat und untersucht, welche Anforderungen hinsichtlich einer wettbewerblichen Ausgestaltung die kapitalgedeckte Vorsorge erfüllen muss. Mit seinem Werk gibt der Autor einen Einblick in die Probleme der Alterssicherung in Deutschland und kommt dabei zu neuen rechtlichen Schlussfolgerungen.